
Entsetzt sah ich zu, wie der rotgewandete Magier mit gezogener Waffe auf die Ritter zumarschierte und dabei mit jedem Schritt wieder stärker und machtvoller zu werden schien. Wahrscheinlich raffte er alles zusammen, was sich noch an eigener, ursprünglicher Magie in ihm befand, oder was der Anblick des ay’cha’ree in ihm entfesselt hatte. Yalomiro auf dem Tisch wirkte so starr und aus der Zeit herausgetreten wie zuvor die Menschen, die uns nun gegenüber standen. Er stand so reglos wie die Steinstatue, damals im Etaímalon. Ich musste mich zwingen, mich von ihm abzuwenden und mich auf den Lichtwächter zu konzentrieren. Etwas vorbereiten wollte er. Was mochte er damit gemeint haben? Ich umschloss das Artefakt fest mit der Hand und wartete gespannt ab, was nun geschehen würde
Die Ritter blickten ihm entgegen, jene aus Wijdlant und yarl Althopian misstrauisch, die anderen, die fremden, verstört vom Anblick eines leibhaftigen Lichtwächters, mit entgeisterter Verwirrung.
„Ich denke, ich muss mich einigen von Euch vorstellen. Ich bin ytra Gor Lucegath. Ich war einst ein gefürchteter Gefolgsmann des Schwarzen Meisters und eine Zeitlang der bestbeschäftigte fýntar beiderseits des Montazíel. Durch meine Hand, edle yarlay, sind nicht nur in den Chaoskriegen mehr tapfere ujoray hinter die Träume geworfen worden, als es mir zu zählen wert gewesen wäre. Ich bin recht sicher, dass aus jeder eurer Familien jemand darunter war.”
„Was sagt Ihr da?”, fragte Léur Tjiergroen bestürzt.
„Habt Ihr Kenntnis von einem Eurer Ahnherren namens Anchioru Tjiergroen, Herr Léur? Oder hat man seine Existenz und sein unwürdiges vorzeitiges Ende in Eurer Familie über all die Zeit taktvoll verschwiegen? Wisst Ihr, was mit ihm geschehen ist?”
Das Gesicht von yarl Tjiergroen versteinerte, wurde schlagartig kreidebleich. Er schien zu wissen, wovon der Rotgewandete sprach.
„Nun, es geschah damals jedenfalls von meiner Hand. Und es war eine wirklich abscheuliche Angelegenheit. Schweigen wir darüber vor den Ohren der anwesenden Damen. Ich könnte mit allerlei solcher Anekdoten aus meiner Vergangenheit aufwarten, in der eine Reihe hochedler Namen fallen würden, aber das täte hier nichts mehr zur Sache. Es geht um Euch, edle yarlay. Ich denke, dass Ihr das Recht darauf habt, Dinge zu erfahren, bevor er dort, der Schwarzmantel mit seiner lächerlichen Magie, das Weltenspiel verdirbt. Dem Schwarzen Meister ist es seinerzeit misslungen. Aber wer weiß … vielleicht hat das Diebsgesindel zwischenzeitlich Besseres zu bieten?”
Die Ritter regten sich, aber Misstrauen hinderte sie wohl daran, etwas zu entgegnen. Ich schaute hilfesuchend zu Yalomiro, aber er stand unbeweglich und steif. Der Schwarze Meister? War das etwa derjenige, der Gor Lucegath einst gezwungen hatte, seine … hýardora zu töten? Ich sträubte mich gegen diese Vorstellung, aber der Hass, der in den Worten des Rotgewandeten mitschwang, war allzu deutlich. Doch es war nicht die Zeit, um darüber nachzurätseln.
„Yarl Lebréoka, yarl Tjiergroen! Bedauerlich, dass Ihr wie die verirrten Schafe mit in diese Sache gezogen wurdet, blind den wirren Ideen Eures wankelmütigen, verführbaren Herrn folgend. Einen Unschuldigen habt ihr umsonst gehetzt und beinahe auf dem Gewissen. Herrn Waýreth trifft keinerlei Schuld am Verhängnis Eures Herrn. Ich war es, der Benjus von Valvivant bis an den Rand der Träume peinigte, in meinem Unmut über sein Versagen. Ich war es allerdings auch, der der doayra dort ein geeignetes Gegengift zukommen ließ. Zürnt der alten Frau also nicht. Sie hat darüber geschwiegen, um ihre kleine Gehilfin zu behüten, und Euren Herrn wieder auf die Seite der Lebenden geholt.”
Isan gab einen leisen, erstaunten Laut von sich, und ich war schockiert. Verta, die alte Verta, diese gütige weise Frau, hatte mit Gor Lucegath paktiert? Sicher nicht freiwillig, das war mir schon klar. Dass der Rotgewandete in Valvivant kein Unbekannter war, zumindest im Diskreten, hatte ich gewusst. Aber wie weit reichten die Fäden denn noch, mit denen er Leute dirigiert hatte?
Die yarlay warfen Waýreth Althopian einen peinlich berührten Blick zu. Dann begriffen sie, dass Meister Gor sich soeben selbst zu der Tat bekannt hatte. Da stand er also, der Verbrecher, und schien noch selbstbewusst ob seiner Ruchlosigkeit!
„Yarl Lebréoka”, fuhr der Rotgewandete fort. „Ihr habt eine schöne Stellung erlangt, so nah an der Seite Eures Herrn. Erstaunlich, dass Benjus von Valvivant nicht mehr Vorsicht walten lässt. Jener besondere unter Euren Ahnen, jener, der einst einen teirandanjor erschlug … ich erinnere mich an ihm. Ein arroganter, zügelloser Kerl war er. Ich frage mich, ob die Kunde von seinem schimpflichen Ende damals überhaupt die Ohren aller yarlay erreicht hat.”
„Was erlaubt ihr Euch!”, fuhr Lebréoka auf. „Ich bin meinem Herrn in tiefer Treue ergeben!”
„Ich wollte Euch nichts unterstellen. Obwohl … zumindest eine gewisse Lüsternheit lässt sich denen von Lebréoka wohl nicht absprechen. Wie viele Brüder und Schwestern habt Ihr noch gleich? Wie viele Vettern und Basen? Nun, Ihr tragt sicher nicht ohne Grund einen Hasen im Wappen.”
Gundald Lebréoka wurde puterrot vor Scham. Dass der Rotgewandete ihm hier vor den anderen Adligen Unzüchtigkeiten unterstellte, war sicherlich eine ungeheuerliche Beleidigung.
„Und Ihr, yarl Tjiergroen … Ich erwähnte gerade Euren unglücklichen Vorfahren und ich frage mich, ob Benjus von Valvivant ausgerechnet Euch zum mynstir gemacht hat, obwohl oder gerade weil Eure Familie sich in jenen Tagen nicht vor zweifelhaften Allianzen scheute. Musstet Ihr Euch auch schon einmal entscheiden zwischen Ehre und Opportunismus?”
Tjiergroen blieb gefasst. Aber in seine Augen trat nun kalter Hass. Sicher war es für einen mynstir alles andere als angenehm, derartige Dinge unterstellt zu bekommen. Oder war etwas Wahres daran?
Die beiden Männer taten mir leid. Was bezweckte Meister Gor damit, sie mit solchen Vorurteilen zu reizen? War das etwas seine Vorbereitung?
„Und nun zu Euch, edle yarlay der teiranda. Ihr kennt mich bereits lange Zeit, und ich kenne jeden von Euch bis in den hintersten Winkel seiner Seele. Ich weiß, was Ihr insgeheim vermutet habt. Aber ich will Euch nicht im Ungewissen sterben lassen. Herr Jóndere – Euer Vater war mir zuletzt lästig und im Wege. Ich erspare Euch, Euch zu schildern, wie er in seiner viel zu engen Rüstung um sein Leben gewinselt und zu jedem Verrat bereit gewesen wäre. Herr Daap, was Euren Vater betrifft, so hat er mich einst dermaßen geärgert mit seiner Aufsässigkeit, dass ich ihn eine Weile nicht um mich haben wollte. Also ließ ich ihn allein ein paar Tage hier in Pianmurít zurück. Das reichte wohl aus, um seinen Geist zu zertrümmern. Und was Euch betrifft, Herr Andriér … eines Tages wäre Euer Söhnlein bereit gewesen, Euren Platz einzunehmen, ohne dass Ihr selbst ihn je zu Gesicht bekommen hättet. Ein passendes Ende für Euch hatte ich übrigens bereits im Sinn. Es hätte mit kleinen Tieren zu tun gehabt.”
Ich spürte, wie viel zu lange niedergekämpfte Wut sich auch in diesen drei yarlay Bahn brach und mit der Empörung verschmolz, die die Ritter von Benjus von Valvivant ergriff. Es war unangenehm, all diese Gefühle wahrnehmen zu können, als wären es meine eigenen, gefiltert und mit Abstand zwar, aber doch so deutlich, dass ich genau wusste, was in den Männern vorging.
Er machte sie vorsätzlich wütend! Gor Lucegath stand vor bewaffneten Kriegern und schürte ihren Hass mit den gemeinsten Abscheulichkeiten, die ihm in den Sinn kommen mochten.
„Yarl Emberbey”, sagte der Lichtwächter und wandte sich dem bereits älteren Ritter in den honigfarbenen Gewändern zu. „Was habt Ihr in Eurem Alter eigentlich hier zu schaffen? Ich weiß wirklich nicht, was ich mit Euch machen und von Euch halten soll. Solltet Ihr nicht in Virhavét am Pier stehen und darauf warten, dass man Euch diese arme fánjula ausliefert? Das bedauernswerte Ding, das Ihr von wer-weiß-woher eingekauft habt wie ein Stück Vieh, nur damit Euren müden Lenden vielleicht doch noch ein Nachfolger entspringt, der den Untergang eures Hauses um eine halbe Generation verzögert?”
„Woher wisst … Nein! Nein, ich … ich habe sie nicht gekauft!”, stammelte der alte Ritter empört, wie ertappt. „Es ist Vernunft und Diplomatie, und …”
„Es ist ein jämmerliches Ende für das Haus Emberbey”, unterbrach Gor Lucegath ihn. „Ihr habt Eure besten Tage versäumt, Herr Alsgör. Hättet Ihr beizeiten für die Zukunft gesorgt, müsstet Ihr nun nicht in Panik überlagertes Saatgut auf den nächstbesten Acker werfen und die Mächte anflehen, dass irgendetwas davon noch aufgehen und vor sich hin kümmern mag!”
Yarl Emberbey schienen die Worte zu fehlen. Ich vermutete, dass das nicht oft vorkam. Der betagte Ritter schien außer sich vor Entrüstung, so gut er sich unter Kontrolle hatte. Seine Emotionen mengten sich glasklar und spürbar in die Atmosphäre hinein.
„Und nun Ihr, yarl Althopian. Ihr habt zwar versagt, indem Ihr den da oben”, Meister Gor deutete nochmals hoch zu Yalomiro, „verschont habt, anstatt ihm das, worum ich Euch bat, zu entreißen und herzubringen. Aber ich will ehrlich zu Euch sein – ich hatte damit gerechnet, dass Ihr zu feige sein würdet, es zu tun. Dafür habt Ihr Eure andere Sache gut gemacht und den Burschen da in den Narrengewändern hergeschleppt. Vielleicht bleibt Eure hochedle yarlara durch Euren Dienst nun doch noch vor einem tragischen Schicksal verschont. Zumindest vorerst. Wie seltsam, dass Ihr bereit wart, Eure Ehre wegzuwerfen, Euren Herrn und schwarzgewandeten Verbündeten zu verraten für ein … Weib.”
Waýreth Althopian verging sichtlich vor Schande. Mir fehlten die Zusammenhänge, um Gor Lucegaths Worte zu verstehen, aber ich ahnte, dass Althopian, der Held, das Idol, der Ritter ohne Furcht und Tadel, vor einem entsetzlichen Dilemma gestanden haben musste. Eines, aus dem selbst seine Ehre ihm keinen Ausweg geboten hatte.
Die Stimmung wurde immer giftiger. Die Ritter traten vor Meister Gor zurück, als der nun unbeeindruckt zwischen ihnen hindurch ging. Aber sie wichen nicht, weil sie ihn fürchteten. Es sah eher so aus als nähmen sie … Anlauf.
Warum verschwendete er so viel Kraft, um die Ritter wütend zu machen? Yalomiro regte sich nicht. War er bei Bewusstsein? Hörte und sah er, was der Rotgewandete trieb? Und .. was davon bekam das Wesen mit, das in ihn gefahren war? Was tat es, während der Rotgewandete seine provokanten Worte sprach?
Lenkte Yalomiro es tatsächlich ab?
Isan! Sie stand da und hatte ihre Finger Halt suchend in Waýreth Althopians Waffenrock geklammert. Was hatte Meister Gor davon gehabt, Isan nach Pianmurít zu bringen? Oder war zumindest das nur ein unglücklicher Zufall? War sie mitgefangen, weil sie Althopian einfach nie von der Seite wich? Am falschen Ort zur denkbar falschesten Zeit?
Das Mädchen starrte verstört zu dem Magier auf, aber er ging wortlos an ihr vorbei. Warum tat er das? Wollte er sie durch Nichtachtung kränken? Oder … verschonte er sie?
„Asgaý von Spagor”, sagte er sattdessen zu dem jungen Mann in diesem bizarren Kostüm. „Ich grüße Euch, hier in Pianmurít, in meiner Domäne jenseits von allem, was existiert.”
Der teirand positionierte sich schützend vor Kíaná von Wijdlant. „Wer immer Ihr seid … bleibt zurück!”, stotterte er tapfer. Der arme Kerl. Offenbar hatte er noch nie einem Magier gegenüber gestanden. Wie übermächtig und verwirrend mochte dieser Alptraum für ihn sein?
„Allerliebst.” Meister Gor wandte sich kopfschüttelnd, ohne einen weiteren Kommentar von ihm ab und stattdessen Kíaná von Wijdlant zu. „Gefällt er Euch, Herrin? Ist das der strahlende Ritter, den Ihr Euch aus dem Spiegel herbeigesehnt habt? Ein linkischer Bube im Gewand eines Possenreißers? Und Ihr, Asgaý von Spagor, seid ihr nicht genarrt mit dem überirdisch schönen Zauberbild, hinter dem sich … das da verbirgt? In die Larven von Chaosgeistern habt Ihr beide euch verliebt. Ich finde das amüsant.”
Asgaý von Spagor runzelte die Stirn. Dann umarmte er die teiranda, eine Geste, die angesichts dessen, dass die beiden sich erst vor wenigen Augenblicken begegnet waren, sicherlich alles andere als statthaft war. Er erwiderte den Blick des Rotgewandeten mit würdevollem Trotz. Kíaná von Wijdlant schien das einerlei. Sie schmiegte sich an den jungen teirand und senkte den Blick.
„Und nun, Herrin? War es das alles all die Zeit wert? War Eure Sehnsucht, Euer Gram das Leid all dieser armen kleinen Unkundigen wert?”
Sie schwieg. Gor Lucegath lächelte höflich, drehte sich um und hob sein Schwert.
„Alles ist gesagt. Und nun, edle Herren, fühlt Euch frei, mich in Stücke zu hauen. Denn solange ich lebe, kann keiner von Euch Pianmurít verlassen.”
***
Das Widerwesen war abgelenkt gewesen, aber nun horchte es auf. Was trieb sein altes, sein ausgedientes, nahezu zertrümmertes Spielzeug da? Verstand es nicht, dass es ohnehin keinem Zweck mehr diente? Was dachte es sich dabei, die Menschlein in Unruhe zu versetzen, mit denen es doch noch so viele Pläne hatte?
Es musste eingreifen!
Das Widerwesen rüttelte am Verstand des Schattensängers wie an einer verschlossenen Tür. Aber Yalomiro Lagoscyre widerstand ihm. Mehr noch. Er hielt es fest!
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