Keiner von ihnen konnte sich auch nur einen Deut rühren. Sie konnten einander ansehen, sie hörten, was gesprochen wurde. Sie verstanden, was diese furchtbare, nicht ganz reale Stimme redete, auch über sie sagte, aber sie begriffen nicht, was all das für sie bedeuten mochte.

Al das hier war kein Traum, kein Trugbild, keine Trunkenheit, nichts von alledem, was in diesem Moment angenehmer gewesen wäre. Sie hatten keine Vorstellung davon, an was für einem Ort sie sich befanden. Sie ahnten, dass sie in irgendeine Art Zauberei geraten waren, aber ob und wie sie sich daraus befreien konnten – das wussten sie nicht.

Andriér Altabete, Jóndere Moréaval und Daap Grootplen waren daran gewöhnt, an diesen traumhaften, unwirklichen Zustand, aber zum allerersten Mal in ihren Leben wurden sie gewahr, wie real dieser Ort war, an dem sie immer wieder gewesen waren und den der Rotgewandete immer wieder sofort aus ihrer Erinnerung ausgelöscht hatte. Vermutlich, dachte Grootplen bitter, wollte er verhindern, dass die Männer über der Erinnerung den Verstand verloren. Vielleicht hatte er es damals vergessen, als sein Vater eines Tages in die kleine Burg auf dem Hügel zurückgekehrt war, zu Fuß, ohne Waffen, sein Panzerhemd verkehrt herum am Leib und nur einen Stiefel am Fuß. Nie hatte Grootplen den Blick des geliebten Vaters vergessen, den Ausdruck von schierem Irrsinn und stumpfer Todesangst. Irgendwie hatte der eld-yarl es noch vollbracht, den Weg zu seinen Geliebten zu finden, zu seiner hýardora, zu seinem Sohn. Gesprochen hatte der Vater nie wieder auch nur ein verständliches Wort. Sie hatten niemals erfahren, was ihm zugestoßen war.

Daap Grootplen glaubte, es nun zu wissen. Und er fragte sich, was mit ihnen geschehen würde, wenn das … Ding … sich ihnen wieder zuwenden würde.

Sie hatten immer wieder erfahren müssen, dass man sich gegen die Magie des Rotgewandeten nicht wehren konnte. Vor ihnen hatten ihre Väter es erfahren. Und deren Väter davor. Es war niemals darüber geredet worden. Sie hatten es akzeptiert, wehrlose Opfer, willenlose Darsteller in einem Schauspiel zu sein, dessen Handlung allein der goala’ay kannte.

Altabete und Moréaval schienen ganz ähnliche Gedanken zu haben. Grootplen fühlte einen seltsamen Trost darin, dass der Wahnsinn ihn nicht allein ergriffen hatte.

Gundald Lebréoka, Léur Tjiergroen und Alsgör Emberbey waren lange nicht so gefasst wie die yarlay der teiranda. Der Schattensänger war es gewesen, der sie an diesen Ort gebracht hatte. Nicht Gutes kam von den schwarzgewandeten Magiern. Benjus von Valvivant hatte es gewusst und recht daran getan, die Schwarzmäntel zu jagen, dachten die Männer aus Valvivant, während sie noch versuchten, zu begreifen, was ihnen geschehen war. Aber da gab es nichts zu begreifen. Das hier war ein Ort, den es nicht geben konnte, einer, an dem ein lebendiger Mensch nichts zu suchen hatte.

Ein lebendiger Mensch? Stand da nicht ein Rotgewandeter ein Lichtwächter? Sollte es etwa das hier sein, was hinter den Träumen auf jene wartete, deren Weltenspiel beendet war? Léur Tjiergroen hätte laut geschrien, hätte er Gewalt über seinen Körper gehabt. Wenn es das war, was auf einen wartete, dann war es furchtbarer als wenn das Dasein einfach … aufhören würde, wie eine Ohnmacht, aus der es nur kein Erwachen mehr gab. Lebréokas Blick war leer. Der jüngere Ritter versuchte wohl, nicht zu sehen, wegzuschauen von dem, was sich dort um sie herum abspielte. Aber sie konnten die Augen nicht schließen. Und abwenden konnte sich auch niemand. Es würde ewig derselbe Moment bleiben. Ewig …

Alsgör Emberbey dachte weder an seine Familie noch an das, was hinter den Träumen lag. Der ältere Ritter hatte keine Angst. Vielmehr verspürte er … Unwillen. Dies war eine Situation, die er nicht kontrollieren konnte. Das ärgerte ihn. Und er fragte sich, welches Spiel der Schattensänger und der Lichtwächter dort miteinander austrugen. Und wer bei allen Mächten diese fánjula war, die unnütz daneben stand und sich im Gegensatz zu ihm offenbar mühelos bewegen konnte.

Waýreth Althopian horchte auf jedes Wort, das er hörte. Er ahnte, dass die Dinge anders standen, als es den Anschein haben mochte. Die Familie Althopian hatte den Schattensängern bedingungsloses Vertrauen gezollt, seit jenem schrecklichen Tag, als einer der ihren so viele Leben gerettet hatte. Viele hatten über die Nachkommen jenes yarl, der damals zugegen war, missgünstig oder spöttisch geredet, selbstverständlich nur hinter dem Rücken und ganz leise. Der Spott war verschwunden, so wie die Schattensänger sich in ihre Domäne zurückgezogen hatten. Das Vertrauen war geblieben. Was immer geschah … Waýreth Althopian war bereit.

Isan war fasziniert. Sie sah, wie Asgaý von Spagor Kíaná von Wijdlant anschaute, völlig unbeeindruckt von dem Schrecken ringsum. Der junge Mann hatte sein Herz an sie verloren, auf den ersten Blick und ohne Magie, die seinen Blick verklärte. Die teiranda war die einzige, die lächelte. Wie hübsch und freundlich sie dabei aussah! Die Rosendame und der Smaragdritter. Sie sahen ganz anders aus als in den Büchern. Aber báchorkoray … nun. Sie übertrieben. Isan fühlte sich auf eine sehr bittere, sonderbare Weise getröstet.

***

Die Fischer und die aus dem Dorf herbeigekommenen Leute, die mit dem Verladen der Fische von den Schiffen auf Handkarren beschäftigt waren, stoben auseinander, als eine Stampede von gerüsteten Pferden den Strand entlang jagte. Aber ein paar von ihnen hatten die Geistesgegenwart, einzugreifen und den panischen Lauf der Tiere zu stoppen. Mutig sprangen Majék und einige der anderen jungen Männer den Pferden in den Weg und brachten sie mit lauten Rufen und fuchtelnden Armen dazu, zuerst die Richtung zu wechseln und dann zwischen Wasser und den Booten anzuhalten. Zwei besonders starken Männern gelang es, je ein Pferd am Zügel zu packen.

„Wo kommen die denn her?”, fragte einer der Fischer, als die übrigen Pferde ebenfalls zum Stehen kamen. Sie tänzelten zwar weiterhin herum und ließen sich nur mit Mühe erhaschen, doch die Anwesenheit von Menschen schien die panischen Rösser sichtlich zu beruhigen. Die Tiere waren schweißgebadet und schienen Schreckliches erlebt zu haben.

„He!”, rief Egnar aus. „Das ist doch der Gaul vom alten Emberbey!”

„Bei den Mächten! Ich hab wohl den Zossen von unserem teirand! Seht nur, das Wappen!”

Auch den braunen Hengst von Waýreth Althopian erkannten die Fischer. Mit den Hoheitszeichen mit dem weiß-roten Hasenemblem und dem grünen mit der Tanne wussten sie nichts anzufangen. Aber das war egal: Wenn mitten in der Nacht fünf ledige, gesattelte Ritterpferde in Panik durch die Dünen preschten, musste wohl etwas vorgefallen sein. Die Männer verloren keine Zeit. Egnar, Majék und ein dritter wurden dazu bestimmt, die Pferde zur Burg zu bringen und dort Alarm zu schlagen, während die anderen den im nassen Sand deutlich sichtbaren Hufspuren folgen und nach den vermissten Reitern suchen sollten.

Die Pferde waren störrisch und ließen sich zur mit Mühe an den Zügeln voran zerren. So dauerte es eine Weile, bis die drei Männer die Burg erreichten. Dann brach kurzzeitig großer Wirbel aus, und während die einen die Rösser in Empfang nahmen, mobilisierte man sogleich einen Suchtrupp. In all dem Trubel flog plötzlich Kelwa an Egnars Hals.

„Egnar! Majék, mein Junge!” Sie ließ kurz von ihrem hýardor ab, um dem jungen Burschen die Wange zu tätscheln. „Ihr seid wieder daheim! Den Mächten sei Dank!”

„Kelwa? Aber was machst du denn mitten in der Nacht hier in der Burg?”

„Ja”, rief Majék, „wo biste geblieben, mit dem Boot?”

Sie hörte gar nicht richtig zu. Sie rang nervös die Hände, als sie erkannte, was da für Pferde gebracht wurden.

„Bei den Mächten! Wo sind denn die Herren? Wo ist Isan?”

„Wer ist Isan?”

„Sie werden doch wohl den armen yarl Althopian nicht … oh nein!”

Egnar packte sie bei den Armen. „Kelwa! Was ist los?”

„Zwei Ritter aus Valvivant sind hier, um yarl Althopian gefangenzunehmen!”

„Was?”

„Isan ist hinterhergerannt, um den yarl zu warnen. Und der teirand und yarl Emberbey sind auch mit dabei. Aber wenn jetzt die Pferde … ach! Sie werden sich doch hoffentlich nicht alle miteinander erschlagen haben, diese hitzköpfigen Männer!”

„Kelwa!” Egnar hob die Stimme. Das tat er sonst nie. Die Fischersfrau verstummte verblüfft.

„Denen werden ihre verrückten Gäule einfach weggelaufen sein! Bitte! Und yarl Althopian … dem kann doch niemand etwas vorwerfen! Noch einmal: Warum bist du nicht zu Hause?”

„Weil … weil ich doch im Kerker eingesperrt war, zusammen mit Isan und …”

„Was?”, mischte sich Majék empört ein. Dass jemand seiner Tante etwas Böses tat, konnte er nicht dulden. „Wer hat’n das bestimmt?”

Yarl Althopian.”

Das verschlug den Männern die Sprache. Das verschlug den Männern die Sprache, aber nicht lange. „Na, dem werd’ ich was erzählen!”, polterte Egnar empört los.

„Fehlt nur noch, dass der Schwarzmantel die Finger mit im Spiel hat”, meinte der junge Mann düster.

„Ihr habt ihn wieder sicher mitgebracht?”, fragte Kelwa erleichtert. „Dann wird alles gut!”

„Nichts wird gut! Hat sich aus dem Staub gemacht, der Irre! Kein Wort zum Abschied, der Kerl! Der führt was im Schilde. Und nichts Gutes!”

„Nun ist aber mal gut, Majék! Hat uns mehr als reichlich entlohnt, der komische Vogel.”

Der junge Mann runzelte die Stirn.

„Mögen die Mächte geben, dass sich alles ohne Blutvergießen in Frieden aufklärt”, sagte Kelwa schließlich ernst.

Egnar seufzte. Wie gern hätte er ihr von dem Reichtum erzählt, den er in dem Becher vorgefunden hatte, wie gern von dem sensationellen Fang, den sie bei all der Hektik an Bord und am Strand hatten zurücklassen müssen. Und natürlich von der wunderbaren Schönheit der Grenzen des Chaos. Aber all das war nun nicht wichtig.

„Kommt”, sagte der Fischer. „Wir helfen, den anderen, zu suchen!”