Gor Lucegath schenkte dem ächzenden Ritter zu seinen Füßen keine Beachtung mehr. Unter der Maske verengten sich seine Augen.

„Nun”, sagte er kopfschüttend, „jetzt wird es tatsächlich interessant.”

„Bleibt zurück”, fauchte Arámaú. „Noch kann ich Euren wunderlichen Plan durchkreuzen.”

„Du machst dich lächerlich, camat’ayra.”

„Zurück! Meine Kraft mag gerade noch ausreichen, um dies hier zu vollenden.”

Der Rotgewandete kam unbeirrt näher. „Womit willst du mir drohen?”

„Nun, welchen Grund hätte Yalomiro wohl noch, mit Euch lange zu verhandeln, wenn Ihr dieses arme unkundige Menschenpfand hier verlöret?”

Ich erschrak und war zugleich verstört. Hatte Arámaú vor, mich – auf irgendeine Weise – umzubringen?

„Das wäre nicht die erste nicht wirklich schlaue Idee, mit der du aufwartest”, spottete der Magier. Aber er blieb tatsächlich stehen.

„Für den Blick wird es noch reichen. Und wenn ich schon ins Verderben gehe, dann doch wenigstens nicht, ohne Euch nach Kräften zu schwächen.”

„Arámaú!”, protestierte ich zaghaft. „Warum …”

„Wenn sie aus dem Weg ist”, setzte die Schattensängerin dazu und fiel mir damit ins Wort, „und Yalomiro Euch besiegt, wer weiß … vielleicht hält Noktáma doch noch eine Chance für mich bereit?”

„Nun wird es bedenklich albern und undurchdacht”, kommentierte Gor Lucegath. Der Rotgewandete stand nun nahe vor uns. Und … etwas veränderte sich an ihm.

War es die Kälte, die plötzlich von ihm auszugehen schien – eine körperliche, eine echte Kälte? So als zöge ein eisiger Windhauch um uns herum?

Ich konnte Arámaús Griff und eindringlichem Blick nicht ausweichen. Und zugleich erkannte ich die Kälte wieder. Ich hatte sie in der Ebene von Hethrom gespürte, kurz bevor Yalomiro mir seine Seele gezeigt hatte. Und ich hatte sie in der Schlucht im Montazíel wahrgenommen, als ich ohne den Schutz von Yalomiros maghiscal ihm gegenüber gestanden hatte. Ich hatte den Rotgewandeten sogar darauf angesprochen!

– Seid denn nicht Ihr selbst derjenige, von dem diese Kälte ausgeht?”

– Nein. Die Kälte ist nicht mein Werk.

Aber wenn die Kälte wieder da war, hier, in Pianmurít, wo es eigentlich gar nichts gab, kein Wind, kein Wetter, nichts davon … was geschah dann gerade?

Arámaú schien es ebenfalls zu bemerken. Für einen ganz kurzen Moment zuckten ihre Hände.

„Vertraust du mir, Ujora?”, raunte sie.

Ich nickte. Egal, was sie vorhatte, und egal, wie zwecklos es war – es wäre besser als alles, was ansonsten geschehen mochte.

„Ja, Arámaú”, wisperte ich. „Lieber gehe ich gemeinsam mit einer wahren Freundin hinter die Träume als ihm dort den Triumph zu gönnen!”

Sie schaute mich verwundert aus den Augenwinkeln an. „Freundin?”

„Ja”, flüsterte ich. „Ich bin deine Freundin.”

Der Rotgewandete zögerte.

Und Arámaú fuhr herum, geschmeidig und schnell wie eine Katze und warf ihren allerletzten Zauber, quer über den Tisch und direkt gegen das Herz der teiranda.

***

Erinnere dich …

Kíaná von Wijdlant entsann sich, entsann sich an jenen regnerische Nacht, in der der Rotgewandete ihr den Spiegel geschenkt hatte. Den ersten Spiegel, den großen. Den, der sie all die lange Zeit begleitet hatte, während um sie herum Menschen kamen und gingen. Einige hatten versucht, ihr das Geschenk auszureden, hatten gewarnt, gefleht, eine ihrer Zofen war damals sogar richtig wütend mit ihr gewesen. Verschwunden waren all diese Leute im Laufe der Zeit, neue waren an ihre Seite getreten, hatten die alten Stimmen und Gesichter ersetzt. Nur der Spiegel war immer da gewesen. Der Spiegel und der Rotgewandete. Und …

Kíaná von Wijdlant hatte den Spiegel vor sich auf den Boden gelegt. Sie blickte hinein, zuckte unvermittelt zusammen und sprang dann auf die Füße, stolperte in blankem Entsetzen rückwärts. Andriér Altabete konnte sie gerade noch festhalten, bevor sie fiel.

„Wer … wer ist das?”, rief sie erschrocken aus. „Wer ist diese Frau?”

Yarl Altabete, der sie im Arm hielt, und Daap Grootplen, der immer noch um den vor Schmerz ächzenden Jóndere Moréaval bemüht war, hielten inne. Beide schauten auf die teiranda.

„Herrin”, sagte Altabete sanft, „das ist ein Spiegel! Das seid Ihr!”

„Nein! Das bin nicht ich! Das ist… Mächte! MÄCHTE!”

Arámaú begann, zu lachen. Sie lachte mit einer Leichtigkeit und Freude wie ein Kind, dem eine schwere Aufgabe gelungen ist und das sich darüber freut.

Der Rotgewandete schaute zwischen ihr und der teiranda hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, was dringender zu tun wäre.

„Das bin ich nicht! Das ist …das ist ein Chaosgeist!”, schrie die teiranda verängstigt auf.

„Es ist die Hülle eines Chaosgeistes”, berichtigte Gor Lucegath schlicht. „Womit hätte ich solche absurde Magie denn sonst bewirken sollen?”

„Nehmt es weg!”, kreischte die teiranda. „Bei den Mächten, nehmt es weg von mir!” Sie schüttelte sich, wand sich aus Altabetes schützendem Griff, voller Ekel und Panik. Es sah aus, als versuche sie, etwas von ihrem Körper zu schütteln, und als das nicht gelang, begann sie in ihrer Verzweiflung, an ihren Gewändern zu zerren. Stoff zerriss, und ihre Fingernägel zogen blutig über ihre Oberarme. Dass sie sich das Gesicht zerkratzte, konnte der hinzueilende yarl Grootplen gerade noch verhindern. Auch mynstir packte die teiranda und umschlang ihren Oberkörper mit beiden Armen.

Aber sie kreischte und strampelte in höchster Not. Sogar der geschundene Moréaval erinnerte sich seiner Pflichten und kroch ächzend auf sie zu, um seiner Herrin helfen.

Wahnsinn. Ganz offensichtlich brach um mich herum der Wahnsinn aus. Genau, wie Gor Lucegath es vorausgesagt hatte. Die teiranda würde endgültig dem Wahnsinn verfallen!

„Zerschlagt den Spiegel!”, rief Arámaú. Mehr kam ihr nicht über die Lippen, denn den Rotgewandete fällte sie mit einem Zauber, der kälter war als Eis, ein Bann, der zwischen uns niederging wie ein Einschlag und den Blickkontakt unterbrach. Ein Ausläufer erfasste mich und riss mich von den Füßen, während Arámaús Körper ohne Gegenwehr zusammensackte und ein Stück weit in entgegengesetzte Richtung durch die Leere schlitterte, als sei es eine Eisfläche.

„Arámaú!” Ich wollte zu ihr laufen, ihr helfen, aber Pianmurít verzerrte sich und alles im Umkreis des Tisches wich knapp aus meiner Reichweite.

Die teiranda schaute sich gehetzt um und entschlüpfte dabei Grootplens und Altabetes Händen. Ihre Panik vor dem, was sie – und offenbar nur sie! – in dem Spiegel sehen konnte, verlieh ihr allem Anschein nach ungeahnte Kräfte und den Mut der Verzweiflung.

Kíaná von Wijdlant riss sich ihre kostbare goldene Krone vom Kopf und schleuderte sie so fest gegen den Spiegel, wie sie es mit ihrem zerbrechlichen, kränklichen Körper und ihren geringen Kräften vermochte.

Der Spiegel zerbarst, als würde er explodieren. Die Scherben ergossen sich um den Tisch. Zugleich schien der Raum sich immer mehr auszuweiten. Arámaú lag jetzt weit entfernt, außer meiner Reichweite im Nichts. Die yarlay und ihre in unmenschlicher Panik kreischende Herrin rückten in den Hintergrund. Es gab nur noch mich, die ich mich unversehens auf dem Tisch wiederfand. Gor Lucegath hatte nach mir gegriffen und so mühelos darauf geworfen, dass ich gar nicht begriff, wie mir geschah.

„Du hast es selbst so gewählt, Ujora”, sagte er, während abseits die teiranda gellend schrie und die Männer versuchten, sie zu beruhigen. Der Rotgewandete stieg leichtfüßig auf den Tisch und kam breitbeinig über mir zu stehen.

Sein Schwert glomm sacht. Die Spitze schwebte eine Handbreit über meiner Brust.

„Nein!”

„Es wird schnell vorbei sein, Ujora”, versprach Gor Lucegath. Seine Stimme klang seltsam, rau, brüchig. Es war, als schalle sie mit einer winzigen Verzögerung nach. „Du wirst es nicht spüren.”

Und tatsächlich spielte sich all das hier wortreich Geschilderte gerade in so kurzer Zeit ab, wie weit, unendlich weit entfernt Yalomiro Lagoscyre benötigte, um die Spiegelscherbe mit einem machtvollen Zauber zu zerschlagen, in Scherben, feiner als der Sand.

***

Glas, das erkannte der Schattensänger im selben Moment, in dem in Pianmurít der Wahnsinn entfesselt wurde, besteht aus Sand, zumindest zu einem sehr großen Anteil, versehen mit großer Hitze und ein paar anderen Zutaten. Nichts anderes hatte der Rotgewandete getan, als er den Spiegel geschaffen hatte. Er hatte Sand, Hitze und eine Handvoll anderer Ingredienzien mit Magie durchtränkt und Zauber hineingewoben, die so erstaunlich mächtig waren, dass Yalomiro sich fragte, woher Gor Lucegath in seinem Leben all dieses Wissen genommen haben konnte. Flüchtig erinnerte er sich an eine der Lektionen, die Meister Askýn ihm erteilt hatte, in einer kühlen Winternacht am See neben dem Etaímalon.

Spiegel sind gefährlich. Mit Spiegeln spielt man nicht. Du kannst alles zu einem Werkzeug machen, wonach dir beliebt, hatte der alte Mann damals gesagt (und damit Yalomiros verhängnisvolle Faszination für magisch ergänzte Objekte völlig unnötig befeuert), aber lass dich nicht dazu verführen, magische Spiegel zu erschaffen.

Nun verstand Yalomiro Lagoscyre, was das zu bedeuten hatte.

In dem Moment, in dem er die Scherbe mit einem wohlgezielten Zauber, nicht heftiger als ein Nadelstich zertrümmerte, verband sich der wegspritzende Sand aus dem Glas mit dem der Dünen. Wie winzige Hagelkörner schlugen die Spiegelfragmente zu Boden, drangen in den unschuldigen Sand ein und gaben dort die Magie von Pianmurít weiter, wie eine Kettenreaktion, in einer rasenden Geschwindigkeit, die niemand mehr hätte stoppen können.

Den Pferden und dem Pony gelang es noch, sich in Sicherheit zu bringen. Aber man würde sich wundern, wo die fünf Reiter abgeblieben waren. Man würde nach ihnen suchen. Vielleicht würden die Burgbewohner und Leute aus dem Fischerdorf auch die richtigen Schlüsse ziehen und versuchen, mit Schaufeln und bloßen Händen in den Überresten der deformierten Düne nach den sicherlich unter der Last des abgerutschten Sandes längst erstickten Rittern und dem teirand zu graben.

Finden würden sie nichts. Dort, wo sie standen, die vier Ritter, der teirand, die junge doayra und der Schattensänger, wurde der Sand nachgiebig und rieselte in einen Abgrund, der sich auftat wie die untere Kammer eines Stundenglases.

Alles, was Yalomiro noch tun konnte, war geistesgegenwärtig seine maghiscal auszubreiten und die unkundigen Menschen bei ihrem Sturz nach Pianmurít festzuhalten, auf dass niemand sich in der Leere verlor.

***

Es war absurd und ganz anders, als ich mir jemals den Moment kurz vor meinem Ende vorgestellt hatte. Ich starrte zu Gor Lucegath auf und wunderte mich, wie ruhig ich angesichts meines unmittelbar bevorstehenden Todes blieb. Meine Gedanken waren auf eine verstörende Weise pragmatisch. Wenn er mir nun sein seltsames glimmendes Schwert in den Körper stieß, war das etwas, das er in seinem Leben schon oft getan hatte. Er würde sein Ziel nicht verfehlen. Vielleicht war alles, was ich nun noch zu tun hatte, meine Todesangst zu überwinden und einfach still zu halten, um es ihm so einfach wie möglich zu machen.

Arámaú … war sie auch tot? Sie war zu weit entfernt, aber sie regte sich nicht. Sofern sie noch lebte, war sie wahrscheinlich schwer verletzt oder bewusstlos. Der Rotgewandte hatte mir gesagt, er wolle sie nicht leiden lassen. Ich zweifelte nicht daran.

Ich drehte den Kopf, um einen letzten Blick auf die teiranda, auf die tapferen Ritter zu erhaschen. Wie es nun mit ihnen weiterging, würde ich nicht mehr erfahren. Was ich sah, war eine tumultartige Szene mit der panischen jungen Frau in der Mitte, die in unmenschlicher Angst schrie. Die drei Ritter hatten Mühe, sie festzuhalten, damit sie sich nicht selbst verletzte.

Yalomiro kam zu spät. Seine Geige, das zerbrochene, jämmerlich geleimte Ding, an das ich so viel Hoffnung gehängt hatte, lag neben mir. Ich streckte die Hand danach aus. Wenigstens einmal noch wollte ich es berühren und mich an jene Nacht erinnern, in der ich mit dem Schattensänger getanzt und mich entschieden hatte, ein neuer Mensch zu werden.

Ich spürte das schwarze Holz, warm und lebendig wie ein Baum, auf dessen Rinde Sommerwärme lag. Die Leimspuren waren wie duftendes Harz.

Gor Lucegath lachte, aber es war, als kämpfe er gegen sein eigenes Gelächter an. Es kam aus seiner Kehle, aber sein Gesicht lachte nicht. In den grauen Augen hinter der Maske lag großer Ernst, fast ein wenig Melancholie. Das Geräusch aber klang … grässlich. Zugleich setzte der Magier langsam seinen Fuß auf das Instrument.

„Wo mag er nur bleiben, dein Retter, der Retter dieser Welt, der Held des Weltenspiels? Wo ist er, der dunkle Magier, der Schattensänger, Noktámas Auserwählter?”

Ich starrte zu ihm auf und war, ungeachtet der kopflosen Panik, in die ich hätte verfallen sollen, überrascht. Ich hätte um Hilfe schreien sollen, versuchen, mich unter ihm weg zu winden. Ich hätte sogar nach ihm treten können. Aber zu all dem war ich nicht fähig, zu groß war das Entsetzen. Hier stimmte etwas nicht. Es war Gor Lucegaths Stimme. Aber es waren nicht seine Worte.

Und zugleich war da etwas Neues, etwas wie wirbelnder Staub, wie ein Wind, der sich erhob…

„Meister Gor?”, fragte ich verwirrt.

„Es ist vorbei”, flüsterte er. „Er kommt zu spät …”

„Bitte …”. wisperte ich. „Bitte, tut es nicht.”

… und silbriges Licht, und das Holz knirschte unter dem Fuß des Rotgewandeten, und Menschen schrien durcheinander und alles war verzerrt und eisig kalt und heiß und die Klinge kam auf mich zu und…

„YAL!”

… dann flutete etwas Schreckliches, Mächtiges und Ewiges über mich hinweg. Und dann war es vorbei.