
Die Zeit setzte wieder ein, und Arámaú brachte Abstand zwischen sich und die yarlay, die sich respektvoll zurückzogen. „Schaut mich nicht an”, krächzte sie mit heiserer, seit Jahrzehnten nicht benutzter Menschenstimme. „Wendet Euch ab, wenn Euch Euer Verstand lieb ist!”
Der Rotgewandete ließ mich los und ging auf sie zu. Den Weltenschlüssel legte er dabei achtlos auf den Tisch. „Arámaú Boscargén”, rief er mit gespenstischer Herzlichkeit. „Wie schön, dich wieder in diesem Körper zu sehen. Und wie überraschend, dass das Alter dich verschont hat in all der Zeit. Ich habe mich stets gefragt, wie sich das wenden wird und ob ich am Ende eine Greisin zu Augen bekäme. Äußerst interessant!”
Sie fuhr zu ihm herum und streckte ihm abwehrend die Hand entgegen. Zwischen ihren Fingern glomm es schwach, wie ein Lämpchen an einer fast leeren Batterie.
Arámaú war auf eine derart sonderbare Weise hübsch, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Die Schattensängerin war kleiner als ich, schlank und zierlich, aber nicht zerbrechlich. Tatsächlich haftete ihr auch in ihrer Menschengestalt eine katzenhafte Anmut und Grazilität an. Ihre Augen funkelten wie silbern gesprenkelte Jade. Ihr Haar war hell, wie Mondlicht auf blankem Wasser, und so dicht und fein, dass es sich aufbauschte. Ihr Gesicht war bleich, wunderschön und voller Grauen.
Wie alt sie in dieser Gestalt sein mochte, konnte ich nicht einschätzen. Mit Sicherheit war sie deutlich jünger als Yalomiro. Vielleicht war sie sogar jünger als ich gewesen, bevor sie sich für so lange Zeit in eine Katze verwandelte. Sie war in ihrer Verkleidung nicht gealtert.
„Ich habe mich gefragt”, fuhr der Rotgewandete fort und ging unbeeindruckt von ihrer tapferen Abwehrhaltung auf sie zu, „warum du zuerst geflohen und dann wieder zurückgekehrt bist. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du versuchst, die arcaval’ay in meine Angelegenheiten hineinzuziehen. Ich hätte das zu verhindern gewusst, aber in der Tat unterhaltsam gefunden. Und nun frage ich mich, was du dir dabei gedacht hast, dieses profane dumme Stück Holz unter meinen Augen weg zu stehlen.”
Sie räusperte sich. Er wartete geduldig, bis sie ihre Stimme unter Kontrolle hatte.
„Yalomiro … wünschte, dass ich auf die ujora aufpasse”, brachte sie hervor.
„Ich denke, du wolltest das selbst auch. Sonst hättest du dich selbst gerettet, als dazu noch Gelegenheit war.”
„Denkt, was Ihr wollt.” Sie wich vor ihm zurück, je näher er kam. Er ließ sich Zeit damit. Sie versuchte, den Tisch zwischen ihn und sich zu bringen. Ihre Fingerspitzen berührten sacht das Holz, so als suche sie Halt daran.
„Was, Arámaú Boscargén, hätte dich davon abgehalten, dich über diese Nacht hinaus vor mir versteckt zu halten? Möglicherweise hättest du Yalomiro Lagoscyre damit einen größeren Dienst erwiesen als den, nun sinnlos die Hüterin der Unkundigen zu spielen.”
„Wie meint Ihr das?”
„Nehmen wir nur einmal an, dass Yalomiro versagt. Dann wäre zumindest noch eine camat’ayra übrig geblieben, eine allerletzte Chance für das Weltenspiel. Du hättest eine Heldin sein können.”
„Bleibt zurück!” Arámaú hob die Hand, eine ziemlich schwache Drohung. Selbst ich erkannte, dass ihre maghsical zitterte, als habe sie einen Wackelkontakt.
„Ich fürchte mich nicht vor dem bisschen Magie, das du auf die Schnelle zusammenkratzen kannst. Du kannst in Pianmurít nicht zaubern, Arámaú, du nicht. Den Rest Magie, der dir geblieben, ist brauchst du, um dich für deine letzten Atemzüge in diesem Menschenkörper zu halten.”
Sie senkte die Hand und ballte die Fäuste. Einen Moment lang gelang es ihr, dem marmorgrauen, munteren Blick des Rotgewandeten standzuhalten. Dann schloss sie die Augen.
Er stand nun so nahe vor ihr, dass er sie hätte berühren können. Sie wirkte so klein, so verletzlich und erschöpft. Ich fühlte mich als Beobachterin auf der anderen Seite des Tisches fürchterlich. Ich hätte Arámaú irgendwie helfen müssen, aber was hätte ich tun können? Schon wieder diese furchtbare Ohnmacht, von der ich nicht wusste, ob es schlicht meine persönliche Feigheit und Passivität war oder ob mir wirklich keine andere Option übrig blieb, ob ich zum Zuschauen verdammt war. Hatte Gor Lucegath mir genau das nicht vorhergesagt? Hatte er es tatsächlich so wörtlich gemeint, als er sagte, ich würde zusehen müssen, wie er all die schrecklichen Dinge tun würde?
„Warum, Arámaú Boscargén”, fragte er, „bist du damals nicht geflohen, als ich dir die Gelegenheit dazu gegeben habe? Warum bist du hier geblieben, um mich zu beobachten?”
„Ich wollte … als Ihr mir die Gelegenheit gegeben habt?”
„Denkst du wirklich, ein so törichter Fehler wäre gerade mir mit Absicht unterlaufen, kleine camat’ayra? Dich vom Gold zu befreien und dir einen Vorsprung zu lassen, während du erfüllt warst mit deiner Magie und dem unbändigen Mut deiner Verzweiflung?”
Sie ließ die Schultern hängen. Ich ahnte, wie verwirrt sie war.
„Ich dachte … ich dachte, ich sei so unwichtig. Ich hielt Euch für trunken genug vom Blut und Schmerz meines Meisters.”
„Mit der Magie deines Meisters habe ich dich aus Pianmurít herausgelassen.”
Arámaú erschrak. „Das war … nicht Noktáma?”
„Nein. Das war ich. Es lag nicht in meinem Interesse, dass du in Pianmurít den Verstand verlierst. Es hatte mich lediglich eine kurze Weile gekostet, bis ich herausgefunden hatte, wie sich eine Verbindung zwischen Pianmurít und den Schatten herstellen lässt. Eine treffliche Übung für den großen Fang, der mir später gelingen sollte. So gesehen, verdankst du Meister Gíonar deine Flucht.”
Offenbar breitete sich nun eine furchtbare Erkenntnis in ihr aus. „Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt gewusst wo und was ich war? Die ganze Zeit?”
„Im Großen und Ganzen, ja. Die Bestätigung hatte ich in dem Moment, in dem yarl Altabete seinen albernen Brief schrieb. Ich war mir allerdings ziemlich lange unsicher, ob du dich unter den Katzen versteckst oder unter den Raben auf den Feldern. Hättest du Wijdlant verlassen, wäre mir das nicht entgangen.”
„Ich hatte gedacht, ich sei es Eurer Mühe nicht wert”, wisperte Arámaú. „Ich habe mich in meiner Belanglosigkeit versteckt.”
Ich schauderte. Das kam mir so bekannt vor!
„Du warst niemals belanglos, Arámaú Boscargén.” Seine Stimme klang sanft, auf eine seltsame Weise respektvoll. „Ich hätte mir niemals die Mühe gegeben, wäre niemals auf dieses alberne Versteckspiel eingegangen, wenn ich dich gering geschätzt hätte.”
„Aber …”
„Du warst keine Gegnerin für mich, das ist wahr. Noch nicht. Aber nun wirst du es auch nicht mehr werden, denn deine Zeit im Weltenspiel ist um. Dazwischen, junge camatay’ra, gab es Gelegenheiten. Reichlich. Du hast sie verstreichen lassen.”
„Gelegenheiten, die ich aus Feigheit versäumte”, sagte sie tonlos. Mir, der mir diese Szene so weit fort erschien, als sähe ich sie auf einem Bildschirm, oder als Zuschauerin in einem Theater, zog sich das Herz zusammen. Wie oft hatte auch ich Chancen verstreichen lassen.
„Nein. Keine Feigheit. Du hast Mitleid mit den Unkundigen gehabt.”
Sie zuckte die Achseln.
„Nun, vielleicht hätte es all die Sommer lang nur einer tapferen camat’ayra bedurft, die die arcaval’ay um Hilfe ersucht hätte. Vielleicht hättest du einen Weg aus Wijdlant heraus gefunden, wenn du nur ein wenig darüber nachgedacht hättest, statt all deine Energie zu verschwenden, um mich nicht aus den Augen zu lassen und auf Yalomiros Rückkehr zu warten. Vorbei, Arámaú Boscargén. Zu schade. Vielleicht hätten Pataghíus Magier es sogar vollbracht, mich aufzuhalten. Sie sind arrogant und gefährlich, aber lange nicht so übel, wie deinesgleichen es seit der Schlacht um Aurópéa zu wissen glaubt. Und nun – mach dich bereit.”
Er zog sein Schwert, ganz beiläufig, ohne jede Angriffslust. Arámaú wich zurück und gab einen ganz sonderbaren, jämmerlichen Laut von sich. Das riss mich aus meiner Schockstarre heraus.
„Nein!”, rief ich. „Nicht!”
„Das ist eine Sache unter Magiern, Ujora. Du hast deinen Willen gehabt. Nun lass mich in meinem Werk voranschreiten.”
Jemand anders reagierte. Jóndere Moréaval kam, zu meinem Entsetzen, eilig heran und drängte sich mutig zwischen das blauschimmernde Schwert und Arámaús geduckten Körper.
Meister Gor seufzte.
„Lasst die fánjula in Frieden”, brachte der junge Mann tapfer hervor.
„Nicht!”, sagte Arámaú verblüfft. „Was tut Ihr!”
Gor Lucegath seufzte. „Ach, Moréaval, nun spielt nicht im falschen Moment den Helden. Das Mädchen ist eine Schattensängerin, und Ihr seid ganz offenkundig betört von ihrem Fluch. Das dürfte Euch völlig klar sein.”
„Das ist egal! Nicht einmal Ihr dürft eine Waffe gegen eine Frau ziehen!”
„Ich sehe, neben allem anderen, keinen anderen Weg, um Euch von Eurem plötzlichen Wahn zu kurieren.”
„Bist du wahnsinnig, Junge?”, rief Grootplen, ließ Altabete los und versuchte, den mutigen Ritter aus Meister Gors Reichweite zu zerren. „Mach dich nicht unglücklich!”
„Wenn Ihr der fánjula ans Leben wollt, dann nur an mir vorbei!”, brach es aus Moréaval heraus.
Altabete war wohl bewusst. dass es sinnlos war, ebenfalls auf den jungen Mann einzudringen. Er kniete rasch neben der teiranda nieder, die immer noch stumm den Spiegel liebkoste. „Herrin! Herrin! Bitte, schaut her! Gebietet ihm! Bringt den armen Narren zur Vernunft!”
Ich schaute mit Grausen von einem zum, anderen. Hatte dieser eine kurze, unbeabsichtigte Blick in Arámaús Augen tatsächlich ausgereicht, den jungen Ritter um den Verstand zu bringen? Waren Schattensänger wirklich so gefährlich für Unkundige, und Isan hatte all die Zeit gar nicht übertrieben? Vielleicht gelang es mir wenigstens, Jóndere Moréaval gemeinsam mit Daap Grootplen aus der Reichweite des Rotgewandeten zu ziehen. Ich versuchte, zu ihm zu laufen, aber Gor Lucegath hielt mich mit einer flüchtigen Geste auf. Mir war, als liefe ich in eiskalte, massive Luft hinein, dann war ich buchstäblich wie erstarrt. Offenbar war der Rotgewandete tatsächlich entschlossen, mich als passive Zuschauerin an seiner Inszenierung teilhaben zu lassen.
Kíaná von Wijdlant lächelte wie im Traum, so sehr yarl Altabete sie schüttelte. Sie blickte sogar zu ihrem offensichtlich lebensmüden Dienstmann hin, aber sie schien nicht zu begreifen, was vor sich ging.
„Bitte, edler yarl“, flehte nun auch Arámaú selbst, „es ist unrecht, wenn Ihr Euch einmischt. Dies ist nicht Eure Verantwortung.”
„Ich habe geschworen”, brachte Moréaval wirr hervor, „zu kämpfen, um zu beschützen und Unrecht zu vereiteln!”
„Das ist löblich, Herr Jóndere, aber ich benötige Eure Fertigkeiten an anderer Stelle. Also geht aus dem Weg!”
„Wenn Ihr an mir vorbei wollt, müsst Ihr mich töten!”, sagte der junge Mann entschlossen.
„Denkt an Eure Mutter!” Arámaú berührte den Ritter sanft an der Schulter. „Denkt an die Frau, die Ihr am meisten liebt. Nicht an mich, deren Fluch Euch zur Unzeit gestreift hat.”
Über Moréavals jungenhaftes Gesicht glitt Verwirrung. Er wandte sich Arámaú zu. „Woher weißt du von…”
Gor Lucegath seufzte. Dann warf er einen unwilligen Zauber gegen den Ritter, der die Muskeln des jungen Mannes erfasste. Moréaval schrie jämmerlich, sein Schwert entglitt ihm. Sein Oberkörper bog sich soweit nach hinten, dass ich befürchtete, sein Rücken würde durchbrechen. Ich wandte mich mit Grausen ab.
Doch die kurze Ablenkung reichte Arámaú aus. Die Schattensängerin riss sich aus ihrer Starre und glitt unter dem Tisch hindurch. Noch bevor der Lichtwächter seinen Bann von Moréaval lösen und sich uns zuwenden konnte, stand sie vor mir und hatte ihre Hände fest an meine Schläfen gelegt. Ihre Finger waren, sacht und kühl von dem ersterbenden Flimmern ihrer restlichen Magie. Sie schaute mich eindringlich mit ihren nun menschlichen grünen Augen an. Das Silber darin schien nun zu fließen wie Schlieren auf einer Seifenblase.
***
Das Werkzeug bestand ganz offensichtlich aus einer Scherbe jenes Zauberspiegels, der die teiranda all die Zeit gezeigt hatte, wie sie in Pianmurít aussah, umschlossen mit der Larve aus absurder Schönheit, die der Rotgewandete ihr angepasst und aufgesetzt hatte. Er hatte das verwirklicht, was die junge Herrscherin sich ersehnt hatte, weil sie es für das Richtige hielt. Kíaná von Wijdlant war einsam gewesen. Sie hatte die Schönheit für ihre Rettung gehalten, das Trugbild war ihre Zuflucht geworden. So eine einfache Beute!
Aus demselben Spiegel hatte Gor Lucegath den kleinen Kompass gefertigt, der Waýreth Althopian zu ihm dirigiert hatte. Er, Yalomiro Lagoscyre, war auf sehr schmerzhafte Weise durch das magische Glas gestürzt, viele Splitter waren damals mit seinem Blut benetzt worden. Was damals so zufällig, so beiläufig erschienen war, hatte ihn, Yalomiro Lagoscyre, mit Pianmurít verbunden. Der Weg dorthin führte durch Schmerz und Scherben.
Yalomiros Handfläche war nur einen Hauch von dem geschliffenen Glasstück an der Kordel entfernt. Asgaý von Spagor hatte es das Spiegelbild der teiranda gezeigt. Wer wusste, in welcher Weise es seinerseits das Bild des jungen teirand verfälscht und Kíaná von Wijdlant gezeigt hatte?
Wie an Angelschnüren waren die Ritter und das Mädchen nun mit dem Talisman verbunden, jede dieser Schnüre gewirkt aus all diesen menschlichen Emotionen, Wut, Enttäuschung, Resignation, Verrat, Stolz, Mitgefühl, Tapferkeit, Güte, Weisheit … Liebe… so viel Liebe. Es war ganz und gar unmöglich, zu entscheiden, wessen Seele zu welchem Anteil in diesen Zauber vermischt war. Nur Asgaý von Spagor selbst hing nicht an einem solchen Faden. Das war nicht nötig. Er hatte den Anhänger an einer echten Schnur in der Hand. Er war willens, dieser Schnur zu folgen, um die teiranda zu finden.
Der Schattensänger legte seine Hand hinter das schwebende Glasstück und befahl Magie in seine Fingerspitzen. Wenn es ihm gelänge, das Glas zu zerstören, ohne es zu berühren …
Die Scherbe klarte vor seinen Augen auf. Er blickte nach Pianmurít, sah sie beide dort stehen, Arámaú und die ujora, in die Enge getrieben und ausgeliefert. In seinem Geist brandete etwas auf, so schmerzhaft und groß, dass es seinen Verstand überstieg und sein Herz versengte.
Er kam zu spät.
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