Ich schaute mich verstört um. Die yarlay, Arámaú und die teiranda waren wie mitten in der Bewegung erstarrt. Gor Lucegath verschränkte die Arme und wartete. Ich schaute von ihm zu den Menschen und wagte nicht, etwas zu sagen. Arámaú schaute starr in meine Richtung. Sie trug ein silberbesticktes, schwarzes Kleid und war barfuß. Die teiranda lächelte entrückt. Und die Ritter – sie waren wohl hin und her gerissen zwischen Furcht und Faszination.

„Wir können miteinander reden”, sagte der Rotgewandte schließlich

„Habt Ihr die Zeit angehalten?”, fragte ich verstört.

„Nein. Ich habe uns beide aus der Zeit herausgenommen, Ujora. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass ich auf diese Weise zu dir sprechen kann und werde. Du hast mich auf deine Entscheidung warten lassen. Aber ich muss wissen, was du dir weiter vorstellst, bevor die Gelegenheit verstreicht. Bevor Yalomiro Lagoscyre mit dem Artefakt doch noch auftaucht. Falls er es tut.”

„Er wird kommen”, antwortete ich leise. „Bestimmt.”

Er holte etwas aus dem Nichts hervor und legte es neben die Geige auf den mit uraltem Schattensängerblut gesprenkelten Tisch. Es war bizarr geformt und glitzerte. Ich hatte nicht damit gerechnet, es jemals wieder zu sehen. Mir wurde die Kehle eng und mein Herz zog sich zusammen.

„Der Weltenschlüssel?”

„Ich habe viele Nächte damit verbracht, herauszufinden, auf welchen Pfaden er dich hierher gebracht hat. Ich hatte dir versprochen, ihn zu erneuern. Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich immer zu meinem Wort stehe. Nimm ihn.”

„Was passiert, wenn ich das tue?”

„Nichts, wovor du dich fürchten musst. Bitte. Greif zu.”

Ich streckte die Hand nach dem Schlüssel aus, dem Ding, mit dem alles begonnen hatte. Was konnte passieren? Immerhin gab es in Pianmurít weit und breit kein Schloss, keine Tür, die sich öffnen ließ. Doch als ich das silberne Werkzeug berührte, war es als zucke ein kleiner magnetischer Puls durch meine Finger. Die Trübe ringsum veränderte sich, zerfloss, und plötzlich waren da … Geräusche. Schritte auf Asphalt. Autos, die vorbeifuhren. Gedämpfte Stimmen im Treppenhaus. Der Hausmeister zankte mit jemandem, vermutlich mit den Nachbarn aus dem Dachgeschoss. Laute Wortfetzen über zu laute Musik während der Nachtruhezeit drangen zu mir vor.

Gor Lucegath stand vor mir, das kleine Oberlicht des Kellerverschlags über sich. Das graue Samstagmorgenlicht lag fremd und unwirklich auf ihm. Draußen prasselte immer noch der Regen.

Neben dem Lastregal mit Konservendosen, Schachteln, leeren Koffern und einem Eimer Streusalz wirkte er so fehl am Platz, dass ich kaum hinschauen konnte. Er erschien mir so … echt. Die Umgebung verblasste vor ihm. Nur eine Armlänge hinter ihm, draußen vor dem Fenster, schob jemand auf High Heels einen Kinderwagen durch eine Pfütze vorbei.

„Ist das der Ort? Der Augenblick?”, fragte er ruhig. „Der Ort, wohin deine Tür sich damals hätte öffnen sollen?”

Ich musste mehrfach Anlauf nehmen, bevor es mir über die Lippen kam.

„Ja.”

„Dann sollte das der Moment des Abschieds für uns beide sein, Ujora.”

„Nein … bitte. Bitte nicht! Bitte, Meister Gor!”

„Worum bittest du mich, Ujora?”

„Bitte … lasst mich nicht hier zurück!”

„Zurücklassen?”

Es wollte aus mir herausbrechen, Panik wallte in mir auf. Ich musste mich zwingen, nicht hysterisch zu werden. „Bitte! Es … ich … ich muss … ich will …” Es hatte keinen Zweck. Ich schluchzte erbärmlich auf. „Nein ….”

Er schwieg. Dann schaute er sich in meinem Keller um und deutete auf ein paar Umzugskartons, die hinter mir standen.

„Was sind das für Schätze, Ujora?”

Schätze? Wohl kaum. Es waren Dinge aus meinem Leben vor der Zeit, als ich in dieses Haus gezogen war. Sachen, Gerümpel, Trödel, für die oben in der Wohnung kein Platz mehr geblieben war, von denen ich mich aber auch nicht hatte trennen wollen. Ich musste es nicht laut aussprechen. Er las meine Gedanken.

„Sind Erinnerungen dabei, Ujora? Andenken an Menschen und Momente, die dir vielleicht einmal etwas bedeutet haben?”

„Warum wollt Ihr das wissen?”, bekam ich mit brüchiger Stimme heraus.

„Willst du das hier, deine Welt, zurücklassen wie deine Kisten hier im Keller? Willst du das, was vor dir liegen mag, gegen etwas eintauschen, was dir nur Schmerz bereiten wird? Außerhalb deiner Welt wirst du sein wie ein entwurzelter Baum. Du magst es dir nicht vorstellen können, solang du ein Jetzt vor dir hast. Aber hast du einmal über ein Später nachgedacht?”

„Aber …”

„Wenn ich dich jetzt wieder nach Pianmurít zurückgehen lasse, Ujora, wirst du Zeugin dessen werden, wie ich die mir zugedachte Rolle im Weltenspiel erfülle. Ich werde zuerst deine Freundin Arámaú Boscargén töten. Es mag dich trösten, dass ich sie nicht leiden lassen werde. Nicht aus Gnade, sondern weil ich mich schlicht nicht lange mit ihr aufhalten kann. Du wirst anschließend miterleben, wie tapfere yarlay sich gegenseitig in blinder Konfusion und Wut erschlagen werden. Du wirst sehen, wie die teiranda, dieses arme traurige Geschöpf endgültig dem Wahnsinn verfällt und mir zugleich ein unschuldiger junger Mann ins Netz gehen wird. Willst du das wirklich? Willst du sehen, wie es diese Welt, die dich so sehr zu faszinieren scheint, zu Ende geht? Wäre es nicht viel angenehmer, wenn sie … ein wunderlicher Traum für dich bliebe?”

Ich schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, dass das passiert. Yalomiro …”

„Willst du sehen, wie ich Yalomiro Lagoscyre das Herz in zwei Hälften spalte, Ujora? Denn genau das werde ich tun. Das muss ich tun. Er hat es selbst so gewählt und weiß, wie es enden wird, wenn er mir unterliegt.”

„Er wird Euch besiegen!” Nun überkam mich Trotz. Ich wollte mich nicht von seinen düsteren Prophezeiungen beirren lassen. „Yalomiro wird Euch bezwingen!”

„Weil die Dunkelheit seit jeher über das Licht triumphiert, in deiner kleinen Welt der Gerechtigkeit und Märchen?”, fragte er belustigt.

„Er hat das Artefakt!”

„Möglicherweise ist es genau das, woran er scheitern wird, auf die eine oder andere Weise.”

Darauf hatte ich keine Antwort. Er neigte sich zu mir. Seine grauen Augen unter der Maske sahen plötzlich sehr müde aus. „Ujora … ich habe dir das alte Bild von der rotgewandeten ytrara gezeigt. Ich habe dir erzählt, was es einst mit meinesgleichen auf sich hatte, bevor … Nein, ich muss es anders sagen. Es will mir nicht über die Zunge. Aber soll es mir nicht nur ein einziges Mal in meinem Leben vergönnt sein, Trost und Hoffnung zu geben? Und sei es nur dadurch, dich in einer bitteren und zugleich süßen Ungewissheit zu lassen? Ujora, verstehst du denn nicht, dass ich dich vor mir retten will?”

„Warum solltet Ihr das wollen?”

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Ujora. Du wirst mich nicht dazu bringen, dir das zu verraten.”

Wir schauten uns einen Augenblick in die Augen.

Autos, die über nassen Asphalt fuhren. Das Streitgespräch im Treppenhaus. Schritte vor dem Kellerfenster. Trübgraues Tageslicht und lauter altes Gerümpel.

Mein und sein Atem. Er wartete.

„Nein, Meister Gor. Ich will nicht hoffen, dass Yalomiro alles zum Guten wendet. Ich will es wissen. Ich will dabei sein. Und wenn es nicht so kommt, dann … dann will ich lieber in dieser Welt, in der ich fremd bin, umkommen als mir hier Dinge auszumalen und schönzureden.” Ich wischte mir die Tränen weg und atmete tief aus. „Bitte. Ich will diese Welt nicht zurück. Ich gehöre nicht mehr hierher. Und es gibt nichts, was mich hier hält. Nicht einmal eine Erinnerung.”

Er wandte sich von mir ab und ließ seine Finger nachdenklich über den Rand des Regals gleiten, wo die Palette mit den Raviolikonserven stand. Die Sonne. Oma. Mein sicherer Ort. Verlockung.

Nein. Ich musste loslassen. Das hier war vorbei.

„Ich weiß das Angebot zu schätzen, Meister Gor. Ihr …”

„Was?”

Ich zögerte. Vielleicht war es das Dümmste, was ich zu ihm sagen konnte. Aber ich konnte es nicht zurückhalten.

„Ihr wolltet wirklich niemals der Schurke sein, nicht wahr?”

Er zuckte. Seine Hand schloss sich um das Regalgestänge. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er lautlos lachte. Oder weinte er? Ich wusste es nicht.

Aber eines wurde mir klar. Er hätte jederzeit verschwinden und mich zurücklassen können, ausgesetzt in meiner eigenen Welt.. Er hätte mich so leicht loswerden können. Ich hätte nichts dagegen unternehmen können.

Aber er hatte es nicht getan. Er ließ mir die Wahl.

Ich blickte mich ein letztes Mal im Keller um. Die letzten Geräusche meines alten Lebens, die an mein Ohr drangen, waren die Sirene eines Polizeiautos und die polternde Stimme des Hausmeisters. Ich hielt Gor Lucegath den Weltenschlüssel entgegen. Er blickte über seine Schulter.

„Ich gebe Euch das hier aus eigenem Willen“, sagte ich. „Und ich weiß, warum ich es tue. Das ist die Entscheidung, auf die Ihr gewartet habt.”

Langsam drehte er sich wieder um.

„Ich danke dir”, sagte er mit rauer Stimme.

„Wofür?”

Er reichte mir stumm seine Hand. Ich schloss die Augen und griff zu.