Ich schrie und zog meinen Fuß hoch. Irgendetwas sehr feines hatte meine Haut aufgeschlitzt, ich spürte warmes Blut tropfen. Das brachte mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück.

Nur, dass es keine Wirklichkeit gab. Da war nur dieser seltsame Zwischen-Raum, durch den ich offenbar schon eine ganze Weile gewandert war. Und zu meinen Füßen ….

„Arámaú?”

Entschuldige. Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, dich aufzuwecken.

Nun begann meine Wade zu brennen. Offenbar hatte sie gar nicht erst eine sachte Methode ausprobiert und mir gleich alle Krallen ins Fleisch geschlagen. Blut strömte mein Bein entlang, rann über den Knöchel, warm und flüssig. Das machte auf seltsame Weise wach.

„Wo kommst du her? Und wo sind wir?”

Ich bin dir gefolgt. Und ich glaube, du hast uns geradewegs nach Pianmurít geführt.

„Wie lange bist du denn schon wieder da?”

Seit Yalomiro seinen Fuß wieder an Land gesetzt hat. Er ist auf dem Weg. Er wird bald hier sein.

„Aber … seit er an Land ist? Wie kann …”

Er muss ja nicht umständlich die Straße benutzen. Aber du, du solltest schnell wieder in die richtige Welt zurückkehren, solange du noch kannst!

„Und wie komme ich da hin?”

Indem du nicht auf Gor Lucegath hörst. Solange er dich in seiner Gewalt hat, kann Yalomiro nicht viel ausrichten.

„Ich war auf der Suche nach irgendjemandem. Die ganze Burg ist wie ausgestorben.”

Unsinn. Es liegt an dir! Du tappst geradewegs aus dem Weltenspiel heraus. Du hast aus eigener Kraft einen Weg nach Pianmurít eingeschlagen.

„Aber … warum sollte ich das tun?”

Ich fürchte, das finden wir heraus, wenn wir weiter in diese Richtung gehen.

Ich zögerte. Sie schaute mich eindringlich mit ihren grünen Katzenaugen an. Du bist auf der Suche nach Gor Lucegath, nicht wahr?

„Er hat … ich denke, er hat die Geige gestohlen.”

Sie seufzte. Bei den Mächten! Das Ding scheint ja wirklich eine Besessenheit von dir zu sein. Verstehst du nicht, dass der Rotgewandete es benutzt, um dich zu sich zu locken?

„Das mag ja sein. Aber … ich muss es unbedingt zurückbekommen!”

Ujora, es sind Scherben! Unwiederbringlich kaputt. Sie zögerte. Sie ist doch nicht etwa vollständig zusammengesetzt, oder?

„Nein. Ich habe die letzte Scherbe bei mir.”

Gut. Dann nimm sie mit und lass uns schnellstmöglich zurück ins Freie!

Sie drehte sich um und ich war fast soweit, ihr zu folgen, denn offenbar hatte sie eine ungefähre Ahnung von Richtungen, die sich einschlagen ließen. Aber unvermittelt legte sich aus dem Nichts heraus eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr herum, und vor mir stand yarl Altabete, von einem Moment auf den anderen aus der Unwirklichkeit erschienen wie aus dem Nebel herausgelöst. Seine Augen waren stumpf und leblos, wie mattiertes Glas.

Im selben Moment fauchte Arámaú auf. Yarl Moréaval, auch er mit ausdruckslosen, starren Augen, hatte sie im Genick gepackt. Die Katze strampelte und kratzte sinnlos nach seiner Rüstung.

„Meister Gor wartet auf euch”, sagte Altabete geistesabwesend. „Es ist alles vorbereitet. Bald werden wir alle zusammen sein.”

***

„Herrin?”

Die teiranda drehte sich um. Sie war müde, so müde. Unablässig hatte sie das Spiegelbild des ruhmreichen Helden angeschaut. Dem Vater hätte der wackere junge Mann wohl gefallen. Warum war er nicht gekommen?

„Grootplen? Was macht Ihr hier, zu dieser Stunde?”

„Der Rotgewandete wünscht, Euch zu sehen. Ich soll Euch führen.”

„Er wünscht, mich zu sehen? Mitten in der Nacht?”

„Bitte, Herrin. Es scheint von höchster Wichtigkeit zu sein.”

„Aber …” Sie schaute sich hilfesuchend zum Spiegel um. „Ich kann hier doch nicht weg.”

Der mynstir warf ihr einen verwirrten Blick zu. „Herrin?”

„Ich kann nicht weg. Ich muss doch den teirand empfangen.”

„Ich verstehe nicht, Herrin. Ich bitte Euch, lasst den Lichtwächter nicht warten!”

Sie erhob sich. Aber statt zu ihrem mynstir zu gehen, trat sie an den Spiegel heran und berührte das Glas zärtlich mit der Hand. „Ich muss warten. Ich weiß, er wird kommen!”

Der Ritter seufzte. Als der Rotgewandete ihn losgeschickt hatte, um die teiranda zu holen, hatte er nicht mit deren Widerstand gerechnet. Und es eilte.

„Herrin!” Mutig tat er einen Schritt auf sie zu und berührte sie respektvoll am Unterarm.

Sie wich ihm trotzig aus. „Nein!”

„Er wird ungeduldig werden!” Der Ritter griff nach ihr, eine Tollkühnheit, die bestraft werden konnte. Sie wand sich weg, ließ sich auf die Knie fallen und umklammerte den Spiegel mit beiden Armen.

„Ich kann ihn nicht allein lassen!”, rief sie aus. „Lasst mich in Frieden!”

„Herrin, ich bitte Euch!” In seiner Verzweiflung packte er sie und wollte sie aufheben, aber sie strampelte und machte sich schwer wie ein eigensinniges Kind. Der Spiegel kam bedenklich ins Schwanken.

„Lasst mich in Frieden!”, schluchzte sie. „Ich muss hierbleiben!”

Was hatte sie nur mit diesem alten, blinden Spiegel?

Daap Grootplen seufzte und ließ sie los. Dann kniete er neben ihr nieder. Sie weinte.

„Herrin”, fragte er sanft, „wie wäre es, wenn wir den Spiegel einfach mitnehmen?”

***

Yalomiro beobachtete aus den Augenwinkeln, wie das Mädchen mit knappen, routinierten Griffen die kostbaren Samenkörner in einem kleinen Handmörser zerstieß, um das Öl darin freizusetzen. Die junge doayra verstand sich auf ihre Fertigkeiten.

Dass Gor Lucegath den Ritter zuerst mit seinem verzauberten Wein gefügig und dann abhängig davon gemacht und seiner Begleiterin zugleich das Gegengift ausgehändigt hatte, verwirrte den Magier. War es ein grausamer Anflug von Humor gewesen? Oder hatte der Rotgewandete etwas anderes im Sinn gehabt und nicht mit der Ratlosigkeit von unerfahrenen Unkundigen gerechnet?

Aber warum hätte er für den Ritter diesen … Ausweg bereithalten sollen?

Waýreth Althopian hatte sich zwischenzeitlich wieder aufrichten können, aber er war noch lange nicht so weit, wieder auf seinen Füßen zu stehen. Der geschundene Ritter kämpfte gegen die Übelkeit, die ihn, zusätzlich zu den Nachwirkungen des magischen Schocks, zu überwältigen drohte, aber er würgte nur trocken und zitterte vor unwirklicher Kälte. Verlegen vermied er es, in Yalomiros Richtung zu blicken. Der Magier hockte sich neben ihm hin, legte dem Bedauernswerten die Hand auf den Rücken und versuchte, seine Qualen etwas zu lindern. Aber es würde wohl eine ganze Weile dauern, bis sein Körper vom magisch versetzten Wein entgiftet wäre.

„Ich verstehe nicht recht, was in mich gefahren ist”, sagte der Ritter beschämt.

„Gor Lucegath hat Euch geheißen, mich zu berauben. Er dachte sich wohl, es sei einem unkundigen Krieger ein Leichtes, es mir aus der Hand zu nehmen, nachdem ich es aus seinem Versteck geholt habe.”

„Ich hätte keine Chance gehabt, das zu tun.”

„Doch. Der Rotgewandete war sich gewisslich sicher, dass ich arglos war und Euch nicht hätte verletzen wollen. Wäret Ihr entschlossen genug und zum Äußersten bereit gewesen, yarl Althopian, ich läge nun hier in meinem Blut, das Eure Ehre in alle Ewigkeit befleckt hätte.”

„Und wenn Isan nicht dazwischen gegangen wäre?”

Yalomiro berührte das kleine Ding unter seinem Gewand. „Ich mag es mir nicht ausmalen. Dieses junge Mädchen hat uns beide gerettet.”

Die Männer schwiegen einen Moment.

„Ihr wolltet mich nicht wirklich töten, nicht wahr? Ihr habt mit flacher Klinge nach mir geschlagen.”

„Nein. Ich wollte Euch nicht umbringen. Nur lang genug außer Gefecht setzen. Ich schäme mich so sehr für meine Ehrlosigkeit”, sagte der Ritter matt.

„Ich habe mich zu einer ähnlichen Ehrlosigkeit hinreißen lassen. Lasst uns darüber schweigen, sobald Ihr mir eine Frage beantwortet habt.”

„Bitte, fragt.”

„Liegt es im Wesen der Liebe, dafür töten zu wollen?”

„Es ist viel um der Liebe willen getötet worden.”

Yalomiro schwieg nachdenklich.

„Wie geht es weiter?”

„Ich werde unter den gegebenen Umständen darauf verzichten, Euren Herrn zu besuchen. Und vielleicht tut auch Ihr gut daran, Euch eine Weile dort nicht blicken zu lassen und Euch verborgen zu halten.”

„Und mich damit erst recht verdächtig zu machen?”

„Sofern ich diese Nacht überlebe, Herr Waýreth, wird mein erster Weg mich zurück hierher führen, um Euren Leumund reinzuwaschen und Eurem teirand die Augen zu öffnen. Ihr seid nicht der Einzige, dem das wichtig zu sein scheint.”

„Wie sicher seid Ihr, dass Ihr überleben werdet?”

„Wenn ich nicht zurückkehre, spielt es keine Rolle mehr, was an Hoffnungen und guten Absichten in Euch ist.”

Isan reichte dem Ritter den Mörser. „Ich habe ein wenig Honig hinzugefügt, damit es erträglich zu schlucken ist, Herr. Beeilt Euch.”

Der Ritter senkte dankbar den Blick und zog sich einen Handschuh ab, um die Paste mit dem Finger aufzunehmen. Während er das offenbar widerliche Gemisch herunter zwang, wandte Yalomiro sich dem Mädchen zu und zog seine Hutkrempe herunter. Isan wagte es nun, zumindest in seine Richtung zu schauen.

„Ich hoffe von Herzen, dass wir einander einmal wieder begegnen werden. Ich denke, es gibt viele Dinge, die ich dir gern beantworten würde. Doch dazu fehlt uns nun die Zeit.”

„Ich wünsche mir das auch”, antwortete sie. „Ich wünsche Euch, dass Ihr Eure Sache gut beenden könnt. Es … hört Ihr das auch?”

Etwas kam auf sie zu. Yalomiro erhob sich. Isan starrte erschrocken ins Dunkle, dorthin, wo sich in den mondbeschienenen Dünen die Reiter näherten. Waýreth Althopian hatte es auch gehört und versuchte, aufzustehen. Das gelang ihm zwar halbwegs, aber es war nicht daran zu denken, dass er sein Pferd bestieg.

Der Schattensänger seufzte lautlos. Er glaubte nicht an Zufälle. Gor Lucegath hatte es mit voller Absicht so gewendet, dass er hier in dieser Nacht kostbare Zeit verlor.

Was, bei den Mächten, hatte der Rotgewandete für ein absurdes Spiel im Sinn?