
Kíaná von Wijdlant, saß vor dem Porträt ihres Vaters. Links und rechts neben dem Bild hatte sie Windlichter aufstellen lassen und dann die Kammerzofe weggeschickt. Die Frau war ohnehin den ganzen Tag so verwirrend betrübt gewesen, dass es der teiranda ihre sehnsüchtige Laune fast verdorben hätte. In dem schummerigen Licht der kleinen zuckenden Flammen erschien ihr das Porträt des alten teirand von Wijdlant lebendiger zu sein.
Ob er sich für sie gefreut hätte? Ob er den jungen teirand des kleinen Reiches am Meer in seine Arme und sein Herz geschlossen hätte?
Kíaná von Wijdlant, die sich nach ihrem Bad lange nicht so behaglich fühlte, wie sie es sich gewünscht hätte, war sich sicher, dass er glücklich gewesen wäre. Glücklich darüber, dass seine kleine teirandanja jemanden in ihr Leben ließ, der ihr gut tun würde.
Sie saß und hielt stille Zwiesprache mit dem vergangenen Vater. Wie besorgt war er gewesen, wie sorgfältig bedacht darauf, dass sie, die künftige teiranda einst einen Gefährten finden würde, der ihrer angemessen war. Der auf sie achtgab. Der sie umsorgte und behütete. Warum nur war er so bekümmert gewesen?
Die teiranda erinnerte sich wie durch Schleier an bunte, lustige Feste, an Tanz und Musik und auch an junge Männer, kaum älter als sie selbst, die man ihr vorgestellt hatte. Sie entsann sich an Turniere, bei denen die Söhne von yarlay miteinander gewetteifert hatten.
Und immer wieder hatte der Vater gefragt. Schau sie dir an, geliebte Tochter. Welcher gefällt dir? Welcher macht, dass dein Herz schneller klopft, wenn er mit dir spricht?
Keiner, Vater, hatte sie gesagt. Keinen von diesen will ich.
Aber was soll werden, geliebte Tochter, wenn ich einmal nicht mehr bin? Wer soll dann an deiner Seite sein? Schau sie dir an.
Sie interessieren mich nicht.
Was soll werden? Du darfst nicht allein bleiben, geliebte Tochter!
Ich bin nicht allein. Du bist bei mir!
Was soll werden…
… immer…
… wenn ich nicht …
… immer …
Fort …
Die teiranda seufzte. Etwas drängte sie dazu, wieder zu dem Spiegel zu gehen und sich weiterhin am Anblick des edlen Recken zu weiden, der sie zur hýardora nehmen würde. Den, den der Rotgewandete für sie auserkoren hatte. Doch sie konnte ihren Blick nicht von dem Bildnis des Vaters wenden.
Wann war all das gewesen? Gestern? Im Winter? Vor hundert Sommern? Es machte keinen Unterschied. Er hatte einen Nachfolger für sich selbst gesucht., das begriff sie jetzt Einen, der sie beschützen und ihr Halt geben würde. Sie hatte es abgetan. Und irgendwann hatten die Feste und Turniere aufgehört. Und er war fort gewesen.
Schmerz… so viel Schmerz. Und Tränen.
Die Mächte hatten den Rotgewandeten gesendet, der ihr Trost brachte. Und nun einen Gefährten.
„Hörst du, Vater”, wisperte sie. „Bald bin ich nicht mehr allein. Bald wird alles sein, wie es sein soll. Ohne Schmerz und ohne Tränen! So, wie du es dir gewünscht hast!”
***
Ich glaubte nicht, dass das Getränk, das Meister Gor mir kredenzt hatte, tatsächlich so harmlos gewesen war, wie es den Anschein hatte. Ich wälzte mich unruhig im Schlaf herum und fühlte mich sonderbar. Mir war, als würde das Blut in meinen Adern irgendwie … kribbeln. Es tat nicht weh, aber es war unerträglich.
Wenn ich bereit wäre, ihm meine Entscheidung mitzuteilen, hatte Gor Lucegath zu mir gesagt, sollte ich einfach zu ihm kommen. Die Tür zu seinem Turm stünde mir jederzeit offen. Was für ein Angebot, so schrecklich und doch so …. verlockend. War es nicht das, was ich ursprünglich gewollt hatte? So schnell wie möglich aus dieser unheimlichen Welt verschwinden, mich in meinem alten Leben verbarrikadieren und in Sicherheit sein?
Ich warf mich auf den Rücken und starrte die Decke an, ohne etwas zu sehen. Meine Gedanken tanzten ungelenk im Kreis und rempelten einander an.
Was, wenn es tatsächlich richtig wäre, wenn ich das Angebot annähme und mich aus dieser Welt entfernte? Wieder auf mein eigenes Weltenspielbrett zurückkehrte, wie Isan es vermutlich ausgedrückt hätte?
Ich stellte mir vor, wie sie einander gegenüberstanden, Yalomiro und Meister Gor. Magie gegen Magie, die ohne Rücksichtnahme losbrechen würde, m den jeweils anderen niederzuwerfen. Tatsächlich: Wenn ich fort war, konnte Yalomiro endlich kämpfen. Er konnte Meister Gor angreifen und vernichten.
Er konnte sein Leben dabei verlieren. Aber ich würde es nie erfahren.
Ich malte mir aus, wie ich in meinem Kellerabteil stand, mich umdrehte und die Treppe wieder hinaufstieg. Hinauf, zurück in meine Wohnung, in mein eigenes Reich. Ich konnte lernen. Oder fernsehen. Oder stundenlang im Internet surfen. Weiter leben wie bisher. In einer Welt, in der ich mit gewöhnlichen Leuten zu tun hatte, die weder hinter magischen Schleiern verborgen waren oder in ständiger Angst vor unberechenbarer Magie lebten. In einer Welt, wo ich ein passables Examen ablegen und anschließend in einem langweiligen Vollzeitjob arbeiten würde, tagein, tagaus.
Vielleicht würde ich irgendwann einen hýard… einen Lebensgefährten finden, heiraten, vielleicht sogar Kinder haben. Wollte ich Kinder haben? Ich dachte einen Moment darüber nach. Ich wäre mit Sicherheit keine gute Mutter. Kinder waren mir unheimlich. Sie waren laut und impulsiv, und respektieren würden sie mich sowieso nicht. Niemand tat das.
Vielleicht würde mein hypothetischer Partner mich genauso hintergehen und ausnutzen wie alle anderen. Vielleicht würde ich einmal meinen Job verlieren. Vielleicht würde ich allein und einsam wieder in die winzige Einzimmerwohnung zurück ziehe, zu viel billigen Wein trinken und am Ende meines Lebens nach ein paar Tagen von der Polizei gefunden werden, weil sich Nachbarn beim Hausmeister über den Gestank beschwerten.
War ich nicht schon einmal soweit gewesen mit meinen Gedanken?
Ich würde so vieles nie erfahren…
… nicht, wie Yalomiro das Artefakt geborgen hatte – und was er letztlich damit tat. Nicht, ob er Gor Lucegath besiegen würde – und was er danach tun würde. Würde er allein – oder mit Arámaú zusammen – zurück in den Boscargén gehen? Würde das, was Gor Lucegath dort angerichtet hatte, sich jemals wieder gutmachen lassen? Ich würde es nicht erfahren …
Nicht, wie die Begegnung zwischen Kíaná von Wijdlant und dem teirand Asgaý von Spagor verlief. Vielleicht war der junge Mann ein anständiger Typ, der tatsächlich eine liebevolle Beziehung mit ihr eingehen würde, obwohl ihr Kennenlernen eine magische Kuppelei war. Ich würde es ihr so sehr gönnen … Ich würde es nicht erfahren …
Nicht, ob Waýreth Althopian mit der yarlara von Ivaál zusammenkam. Nicht, ob Isan jemals eine gute doayra werden würde. Ob die edlen yarlay Altabete, Moréaval und Grootplen jemals wieder unbeschwert sein konnten.
Ich würde auch nie erfahren, wie Arámaú in ihrer menschlichen Gestalt aussah. War sie attraktiv? Sicherlich … wenn es der Fluch der Schattensänger war, Unkundige allein durch ihren Anblick zu betören, war Arámaú sicherlich wunderschön. Passte sie zu Yalomiro? Ich würde es nie erfahren …
Nie mit eigenen Augen sehen, wie schön und friedlich die Domäne der Schattensänger war. Ich würde auch niemals das wilde Meer im Norden sehen, oder den nächtlichen See am Etaímalon. Und nie herausfinden, was es mit den arcaval’ay in Aurópéa auf sich hatte, die am Rande einer Wüste lebten und über die ich so gut wie gar nichts wusste. Nur, dass es dort geflügelte Einhörner gab.
Ich würde nicht erfahren, was Gor Lucegath zu dem gemacht hatte, was er war.
Neugier? Was das alles tatsächlich einfach nur oberflächliche und egoistische Wissbegierde, Sensationslust meinerseits? Ging mich all das wirklich etwas an? Sollte ich mich nicht besser um meine eigenen Dinge kümmern?
Ich würde nie wieder dieses … Gefühl spüren, dass ich in Yalomiros Gegenwart hatte. Dieses … diese…
… Liebe.
Bring das Opfer. Geh fort. Ohne dich hat er dich Chance, der mächtigste Magier aller Zeiten zu werden. Der siegreiche. Der berühmte. Der, der das Monster zerschmettert hat.
Ich will …
… verzichte! Behalte es als schöne Erinnerung, als etwas, an das du zurückdenkst, wenn der graue Alltag dich erdrückt!
Nein!
Du bist dumm und selbstsüchtig!
Nein!
Denkst du im Ernst, dass es ohne dich nicht weitergeht im Weltenspiel?
Yalomiro…
Ein Klotz bist du an seinem Bein! Im Weg stehst du jedem seiner Zauber! Seine Kraft saugst du ihm aus mit deiner Gegenwart wie eine Zecke!
Das ist nicht wahr!
Ein törichtes, unverschämtes Ding bist du, das unnütz in Dingen wühlt, die der törichte Verstand nicht erfassen kann!
Aber…
Lauf! Flüchte und geh deiner Wege! Misch dich nicht in Dinge, die du nicht verstehst. Pack dich und…
WER BIST DU?
…
Ich fuhr hoch, saß kerzengrade im Bett und atmete heftig. Ein Luftzug säuselte um meinen Fensterladen. Ansonsten war es still. Und kalt.
Was war das gewesen? Hatte ich das alles nur geträumt? War es eine magische Nebenwirkung von Gor Lucegaths Wein gewesen? War ich unter den wirren Gedanken eingeschlafen?
Ich wartete einen Moment. Der Wind wurde schwächer. Ich tastete um mich. Dabei geriet mir der Geigenbogen unter die Finger. Fest schloss ich meine Finger um das Haar und fasste einen Entschluss. Sobald ich genug Tageslicht hatte, würde ich die Geige zusammenfügen.
Irgendetwas sagte mir, dass es jetzt der richtige Moment dazu war.
***
Über all dem wachte der Rotgewandete, schlaflos stand er am Fenster und blickte nach Norden. Nichts entging ihm, nicht die Sentimentalität der teiranda, nicht die plötzliche Entschlossenheit der Unkundigen, nicht die Verzweiflung der yarlay, die jeder für sich von Träumen geplagt ihre letzte Nacht im Weltenspiel verschliefen. Nicht eine der vielen kleinen Sorgen der Schutzbefohlenen der teiranda.
Und nicht die Katze, die sich unschlüssig im Schilf jenseits des Burggrabens herumtrieb.
Gor Lucegath nahm seine Maske ab und rieb sich erschöpft die Augen.
Dann zog er sein Schwert, stieß es vor sich zwischen die Holzbohlen des Fußbodens, an die vorbestimmte Stelle des komplizierten Musters, das er dort aufgemalt hatte, kniete davor nieder und tastete nach der Klinge. Das, was sich in seinem Innersten darüber lustig machte, versuchte er zu ignorieren.
Es tat so weh!
***
„Sie kommen! Sie kommen zurück!”
Kelwa rannte mit ohrenbetäubend klappernden Holzpantinen über den Hof, so schnell, dass ihr mehr als ein Hausknecht aus dem Weg springen musste.
Isan hatte sie gehört und stürmte ihr entgegen. „Was? Wo?”
Die ältere Frau blieb schnaufend stehen. „Der Turmwärter hat’s mir gesagt”, japste sie. „Der hat ein sehr gutes Teleskop. Mit der Flut werden sie hereinkommen.”
„So habe ich eine kleine Frist”, sagte Waýreth Althopian, dem das Geschrei ebenfalls nicht verborgen geblieben war. Isan schaute sich zu ihm um. Der Ritter, der sich beim Stall etwas abseits um sein Pferd gekümmert hatte, kam heran. Sein Gesicht war fahl und grimmig.
„Was habt Ihr vor, Herr?”, fragte Kelwa, die ebenfalls über seine Miene erschrak.
„Ich werde den Schattensänger im Empfang nehmen”, sagte Althopian.
„Ich komme mit”, beschloss das Mädchen.
„Du wirst fein hier blieben. Und du, Kelwa, wirst darauf achtgeben, dass sie mir nicht nachschleicht.”
„Herr!”, empörte Isan sich.
„Nein, Isan. Diesmal erweichst du mich nicht.”
„Aber…”
„Nein! Bei den Mächten, du weißt genau, wie gefährlich es ist!”
„Ich schaue ihn auch bestimmt nicht an.”
„Und er wird bestimmt nichts Unrechtes tun”, schlug Kelwa sich auf Isans Seite. „Also, ich werde selbstverständlich meinen Gefährten empfangen.”
„Nein!”
Kelwa machte große Augen. „Wie – nein?”
„An jedem anderen Tag magst du das tun. Heute gehst du in dein Haus und wartest, bis er wohlbehalten an deine Tür klopft.”
Kelwa zog sich einen Schritt von ihm zurück und senkte gehorsam die Augen. Isan seufzte und lächelte unschuldig. „Wie Ihr wollt.”
Er erwiderte ihren Blick einen Moment. Dann winkte er zwei Waffenknechte heran, die gerade in der Nähe standen. „He! Ihr beide! Bringt die beiden Damen ins Verlies und sorgt dafür, dass sie bis Sonnenaufgang darin bleiben!”
„Herr!”, rief Kelwa entsetzt aus. Sogar die beiden Knechte schienen sich nicht sicher zu sein, ob sie ihn recht verstanden hatten.
„Aber warum?”, begehrte Isan empört auf. „Was wirft man uns vor?”
„Unberechenbarkeit.”
„Aber …”
„Herr, ist das Euer Ernst?”, wagte einer der Männer, sich einzumischen.
„Sorgt für Bequemlichkeit und bewirtet die beiden angemessen. Sie haben nichts verbrochen. Aber ich will keine in den nächsten Stunden vor meinen Füßen herum strolchen wissen. Zu ihrer eigenen Sicherheit!”
Die Knechte schauten einander ratlos an, bezogen dann aber doch halbherzig neben der Fischersfrau und der jungen doayra Stellung, bereit, zuzupacken, sobald eine sich bewegte.
„Herr, das ist doch völlig unnötig!”, empörte Isan sich. „Und … übertrieben!”
„Noch ein Widerwort, Isan, und ich lasse dich zusätzlich in Eisen legen. Es ist zu eurem eigenen Besten.”
Isan schnaubte und streifte die Hand des Wächters ab, der sie vorsichtig am Arm zu berühren gewagt hatte. „Komm, Kelwa. Wir finden den Weg allein.”
„Aber …”, begehrte die Fischersfrau auf und warf dem Ritter einen verständnislosen Blick zu.
„Nimm es nicht persönlich”, sagte er und vermied es, die verwirrte Frau anzuschauen. „Aber es ist von großer Wichtigkeit, dass ich dem Schattensänger allein begegne. Und nun füge dich und gib acht, dass das Kind sich nicht in Gefahr bringt.”
„Ja, Herr”, sagte Kelwa ergeben und trottete Isan hinterher. Die Wächter, die den yarl so nicht kannten, schlossen sich an, als er sie mit einer herrischen Geste wegscheuchte. Nicht ohne ihm zuvor skeptisch zu beäugen,
Waýreth Althopian blieb noch einen Moment allein auf der Treppe stehen. Dann seufzte er tief und befahl sich in Gedanken den Mächten.
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