Du hast sie allein gelassen?

– So, wie du es mir geraten hast. Es war zu gefährlich, bei ihr zu bleiben. Außerdem … es hat keinen Zweck mehr.

– Wie meinst du das?

– Yalomiro, es ist zu spät! Die Zauberschatten sind von ihren Augen gefallen. Sie kann sehen, was passiert ist. Und außerdem… Was kann ich tun, wenn sie sich einbildet, allein mit dem Rotgewandeten handeln zu können?

Der Schattensänger seufzte. Im Hintergrund spürte er die Blicke der Fischer auf sich ruhen. Sie fürchteten sich, nicht allzu viel, aber doch genug, dass sie ihre Gedanken immer wieder Boothaken und Harpune streiften.

Der Magier saß bewegungslos unter dem sich verdunkelnden Nachthimmel im Bug des Kutters und starrte nach Süden. Dass er aufgeregt war, bemerkten die Unkundigen unter Umständen daran, dass das Schiff immer mehr Fahrt aufnahm. Das kostete Kraft, möglicherweise mehr, als er eigentlich erübrigen durfte.

– Yalomiro, er weiß, dass ich da bin. Zumindest hat er eine sehr starke Vermutung. Nach all der Zeit kann mich nichts anderes verraten haben als mein Beisammensein mit ihr. Ich … du weißt, wie verzagt ich bin.

– Wo bist du jetzt?

– Nicht weit weg, aber außerhalb der Burg. Er hat keine Zeit dafür, sich um Dinge zu kümmern, die außerhalb der Mauern geschehen. Er hat etwas Großes vor. Er muss sich konzentrieren. Ich spüre, wie sich von seinen Turm etwas ausbreitet.

Mehr konnte und durfte er von ihr nicht verlangen. Er hätte es nicht ertragen, wenn sie sich um seiner Wünsche willen in Gefahr begeben hätte. Er wusste, dass er sie verlieren würde, bald schon. Aber es sollte nicht aus Unvernunft geschehen. Auch sie wusste es, ohne es auszusprechen. Aber sie hatte noch Hoffnung.

– Hast du das Artefakt?

– Ja. Noktáma hat es mir anvertraut.

– Du hast Noktáma gesehen? Von Angesicht zu Angesicht?

Sie hat kein Angesicht. Aber … ja. Ich bin ihr begegnet. Oder dem, dessen Form sie annimmt, wenn sie einem sterblichen Wesen erscheint.

– …

– Arámaú?

– Es ist eine unfassbare Gunst, die du dir zuteil wurde!

– Dessen bin ich mir nicht sicher.

– Noktáma hat sich niemals einem gezeigt, der kein Großmeister war.

– Nun, viel Auswahl hat sie nicht mehr unter unseresgleichen.

– Und was ist nun mit dem Artefakt?

– Es ist schwer. Unfassbar schwer.

„Hey!”, rief Egnar im Hintergrund. „Großsegler backbord voraus!”

Also näherten sie sich der Wassergrenze. Die Küste war nun weniger als einen Tag entfernt.

– Was soll werden, Arámaú?

– Glaubst du, wir … du und ich … könnten es bewahren, wie es unsere und deren Meister taten?

– Der Etaímalon ist verwaist, Arámaú. Boscargén ist verdorrt.

– Du bist ein Gärtner. Ich beschwöre das Wasser!

– Nein. Dafür reicht meine Kraft nicht aus.

– Aber du hättest Zeit.

– Und der Rotgewandete? Wir wissen nicht, wessen Weltenspiel er bestreitet. Wir wissen nicht, wessen Domäne Pianmurít ist. Wir können nicht ewig weglaufen!

– Du kannst ihn besiegen. Es darf nicht anders ausgehen!

– Ich kann nicht gegen ihn kämpfen. Nicht solange…

– Solange er die Unkundige in seiner Gewalt hat? Yalomiro, das ist vorbei! Sie ist schon längst zu einem seiner Geschöpfe geworden. Du hättest es nicht verhindern können!

– Das ist nicht richtig! Er wird sie nicht in seinen Bann bekommen!

– Nun, dann lass es meinetwegen ein Grund sein, ihn herauszufordern. Um unsersgleichen. Er hat unseren Kreis zerbrochen. Er hat alle anderen camata’ay umgebracht. Er hat die Leute in Wijdlant und Valvivant und möglicherweise auch an anderen Orten verflucht! Wenn jemand ihm Einhalt gebieten kann, dann bist du es!

– Ich kann ihm nicht allein entgegentreten. Es…

– Ich bin bei dir! Ich werde kämpfen!

– Arámaú …

– Und wenn die Mächte es so haben wollen, dann werde ich dir beistehen. Lass mich einmal in meinem Leben kein Feigling sein, Yalomiro. Ich bitte dich darum.

– Arámaú … bitte. Ich will nicht, dass du das tust!

– Hast du etwa Angst, ich könnte es dir verderben?

– Nein. Bei den Mächten, Arámaú, du hast so viel geopfert, so viel ertragen. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst. Mit mir mag geschehen, was Noktáma für mich bestimmt hat. Aber ich kann nicht verantworten, dich in diese Angelegenheit noch weiter hineinzuziehen!

– Du musst nicht die Verantwortung tragen, Yalomiro. Aber du musst auch nicht allein gehen. Ich bin bei dir. Egal, wie es ausgeht, ich gehe mit dir.

– Aber …

– Falls unsere nächste Begegnung keine Zeit dazu lässt … Ich will, dass dir klar ist, wie viel du mir bedeutest, immer bedeutet hast. Ich gehe mir dir, soweit es geht. Und zwar aus freiem Willen. Ich … Yalomiro, ich mag nicht deine hýardora sein. Aber du wirst immer mein … Bruder sein.

– …

– Yalomiro?

– In der kommenden Nacht. Ich werde aus dem teirandon Spagor heraus aufbrechen und rennen. Wirst du da sein? Werde ich dich dort finden, wo es vielleicht endet?

– Ich werde auf dich warten.

Er schmiegte seinen Geist an den ihren. Für einen Moment waren sie Kinder, die im Frieden von Boscargén lernten, ihre Magie zu kontrollieren. Es fühlte sich an wie in jenen hellen Sommernächten, in denen sie am See gesessen hatten du sich einander tröstend in den Armen gehalten hatten. Damals war er es gewesen, der das kleine, einsame und von ihrer Macht verstörte Mädchen aufgemuntert hatte. Nun war sie es, die ihn umarmte und wiegte, bis sich die Tränen lösten und der Kummer sich lichtete, den die Macht mit sich brachte.

„He!”, rief Majék und kam näher. „Flennst du etwa?”

Er schrak auf, und das zarte Band zu Arámaú wehte in der Nacht fort wie Spinnweben in einem Lufthauch. Yalomiro stand auf, umklammerte die Reling und starrte voraus. Für einen Lidschlag überkam ihn Zorn auf den Unkundigen, der ihre Innigkeit unterbrochen hatte. Er erschrak davor und zwang die Unbeherrschtheit in sein Herz zurück. Dann tastete er verstört nach der Feuchte auf seinen Wangen. Eine Träne fing er auf und starrte sie erschrocken an.

„Was ist denn los?”, reif nun auch Egnar, etwas einfühlsamer. „Brauchst du Hilfe?”

Yalomiro zerrieb die Träne zwischen den Fingerspitzen. „Lasst die Netze herunter”, sagte er. „Ich hatte euch einen reichen Fang auf dem Rückweg versprochen.”

Das ließ Majék sich nicht zweimal sagen. Aufgeregt wandte er sich um und lief ans Werk, noch bevor er sehen konnte, dass der Magier sich die Augen wischte.

***

„Kelwa war verwirrt, dass Ihr so schnell verschwunden seid”, sagte Isan, als sie Waýreth Althopian seinen Wein aus der Kalebasse einschenkte. „Sie macht sich Sorgen, dass ihr Essen nicht gut war.”

„Die gute Frau hat nicht oft Ritter zu Gast, nehme ich an”, sagte er müde.

„Wieso?”

„Zerbrochene Krebspanzer, zerschmettertes Rüstzeug. Unter meinesgleichen ist es eine diskrete Todesdrohung, so etwas serviert zu bekommen.”

„Oh.” Isan war bestürzt. „Ich verstehe. Nein, das hat sie sicher nicht bedacht.”

„Das ist mir klar. Er trank so angewidert, als handele sich um eine bittere Arznei. „Ich werde mich bei ihr entschuldigen, sobald sie morgen wieder hier ist.”

„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ihr seid der yarl.”

„Das ist kein Freibrief für schlechte Manieren.”

Isan lachte, aber als sie seinen unglücklichen Blick sah, rief sie sich selbst zur Ordnung.

„Was bedrückt Euch schon wieder so, Herr? Ich habe Euch lange nicht mehr lächeln sehen.”

„Es gibt wenig, das mich derzeit zum Lächeln bringen könnte.”

„Auch nicht die yarlara von Ivaál?”

„Wer weiß, ob die Dame meiner überhaupt noch gedenkt?”

„Mit Verlaub, Herr, wenn dem nicht so wäre, wäre sie…”

„Was?”

„Vergebt mir. Meine Zunge geht mit mir durch. Das hat die alte Verta stets getadelt. Isan, hat sie gesagt, wenn du weiterhin so plapperst wie eine Schwatzdrossel, dann wird das böse ausgehen. Sie sagte …”

Was wäre die yarlara?”

Isan seufzte. „Sie wäre eines Lächelns von Waýreth Althopian nicht wert.”

„Das sagst du, ohne zu erröten?”

„Nun, wenn ich Euch im Alter näher wäre, könntet Ihr es zu Recht als frech ansehen. So lasst es das gedankenlose Reden eines Kindes sein.”

„Gib acht, dass du dich nicht für jünger hältst, als du bist.” Althopian schüttelte mit leisem Tadel den Kopf. „Die Scherbe zeigt immer noch nordwärts. Der Schattensänger wird bald mit Kelwas hýardor wieder hier sein.”

„Da bin ich neugierig. Als ich den Schwarzmantel gesehen habe, sah er nicht aus, als würde er die nächsten Tage überleben.”

„Es bedarf wohl etwas mehr, um einen Schattensänger dauerhaft außer Gefecht zu setzen. Der Rotgewandete weiß genau, wie weit er gehen kann. Seinesgleichen war einst gefürchtet und gefragt dafür.”

Sie nahm im den Becher aus der Hand. Von der Galerie um das Dach des Haupthauses aus hatte man einen guten Blick aufs Meer. Im letzten Abendlicht zog ein halbes Dutzend der Fischerboote mit ihren bunten Segeln in Richtung Strand. Auf den Gezeiten konnten sie sich zu ihren Liegeplätzen treiben lassen und von dort ruhen, während das Wasser sich in der Nacht wieder zurückzog.

Egnars Schiff, das Kelwas Beschreibung nach aranzienfarbene Segel hatte, ,würde – mit Glück – in der kommenden Nacht wieder dabei sein. Den ganzen Tag über war das bizarre Wetter, das sich den Mächten sei Dank wieder aufgelöst hatte, das beherrschende Thema im Dorf und auf der Burg gewesen.

„Und Ihr wollt mir immer noch nicht sagen, was der Rotgewandete Euch geheißen hat, in seinem Namen mit dem Schattensänger zu verhandeln?”

„Es ist besser, wenn du nicht davon weißt. Und nun schweig endlich darüber.”

„Ich habe keine Angst.”

„Danach hat niemand gefragt.”

„Ich will aber, dass Ihr das wisst.”

Er schüttelte erneut den Kopf über sie.

„Mädchen”, sagte er nur, „die Mächte haben dich in einen falschen Körper gesteckt.”

Sie runzelte die Stirn. „Was soll denn das heißen?”

Wahrscheinlich hätte sie darauf ohnehin keine Antwort bekommen. Aber die Ankunft von yarl Emberbey unterbrach ihr Gespräch. Der ältere Ritter wirkte unwillig, aber beherrscht, wie es seine Natur war. Vermutlich, mutmaßte Isan, war das die einzige Emotion, zu der er fähig war: Beherrschtheit. Die arme yarlara, die bald an seiner Seite leben sollte. Es würde sehr viel Geduld und Weisheit brauchen, um diese harte Schale nur ein wenig aufzuweichen.

„Hier seid Ihr! Habt Ihr Eure Medizin genommen?”

Isan packte die Kalebasse demonstrativ in ihre Tasche.

„Kann ich allein mit Euch reden?”

„Es gibt nichts, was so geheim sein könnte, dass sei es nicht hören sollte. Und selbst wenn, es würde nicht lange dauern, bis sie ohnehin davon erführe.”

Emberbey seufzte. „Mädchen”, sagte er, „in alle den Sommern habe ich nie erlebt, dass Her Waýreth so große Stücke auf einen seiner Knappen gehalten hätte. Enttäusche ihn nie.”

Isan errötete. „Das käme mir nie in den Sinn, Herr.”

„Was gibt es?”, lenkte Althopian ab.

„Ich wüsste gern, was das wieder für eine neue Narretei ist, die Ihr dem teirand ins Ohr gesetzt habt. In der Küche tratschen sie darüber, dass er ein Vagabundengewand in Auftrag gegeben habe. Für eine Geheimmission.”

„Nun, daraus lernen wir, dass wir unseren teirand besser niemals auf eine wirkliche Geheimmission aussenden sollten, wenn man schon jetzt in der Küche darüber tratscht.”

„Althopian, ich frage es Euch rundheraus: Was habt Ihr vor?”

„Er wird es Euch nicht sagen”, sagte Isan und nestelte dabei demonstrativ an ihrer Tasche. „Ich versuche selbst schon seit Tagen, es herauszufinden.”

Emberbey warf ihr einen schneidenden Blick zu. Der jüngere Ritter seufzte.

„Was ich sagen kann ist, dass es von allergrößter Wichtigkeit ist, dass unser teirand der teiranda von Wijdlant begegnet. Ob er sich dabei aufführt wie ein liebestoller Narr oder sie sich wie eine schmachtende fánjula, ist unerheblich. Das sollen die beiden untereinander finden. Ich sage dazu nichts.”

„Gibt es Grund zu Annahme, dass die hochedle teiranda … interessiert an ihm sein könnte?”

„Ja”, antworteten Isan und Althopian wie aus einem Munde.

„Ich verzichte darauf zu fragen, woher ihr das wisst. Und diese Begegnung soll nun … heimlich stattfinden?”

„Natürlich”, sagte Althopian. „Oder möchtet Ihr, dass dies alles in großer Peinlichkeit endet und in Küchen und Thronhallen zwischen Aurópéa und Virhavét die Runde macht? Haben wir uns nicht schon lächerlich genug gemacht?”

„Sind wenigstens die yarlay der teiranda eingeweiht?”

Nun horchte Isan auf.

„Die edlen Herren befinden sich genau in derselben Situation wie wir, solange alles diskret abläuft. Die Begegnung zwischen ihr und unserem Herrn hätte unter andineren Umständen wohl nie stattgefunden. Mehr weiß auch ich nicht. Aber es ist wichtig, den teirand auf seiner Mission zu begleiten. Heute schlafen wir noch hier. Morgen Nacht…”

„Benötige ich auch eine alberne Verkleidung? Oder ist es statthaft, der hochedlen teiranda standesgemäß zu begegnen?”

„Ihr kommt nicht mit.”

„Wollt Ihr mir das verbieten? Selbstverständlich bleibe ich an der Seite meines Herrn.”

Althopian schenkte dem yarl einen langen Blick.

„Ihr müsst das nicht tun, Herr Alsgör. Eure hýardora erwartet Euch…”

„Mein Lebtag könnte ich es mir nicht verzeihen, wenn meinem teirand in seinem Übermut etwas zustieße. Oder in seiner Unerfahrenheit … Peinlichkeiten geschehen, die wir verhindern können. Es ist dafür gesorgt, dass jemand die Dame in Empfang nimmt und auf meine Burg geleitet. Auf meine Anwesenheit wird sie wohl noch eine Weile länger verzichten können.”

Waýreth Althopian zögerte. Isan wartete gespannt. Die Ritter kannten sich lang genug, um einander einschätzen zu können; um zu bestimmen, wie sinnvoll es war, dem jeweils anderen dreinzureden.

Zugleich begriff das Mädchen etwas sehr Wichtiges: So unterschiedlich die beiden Männer waren – Asgaý von Spagor, der ihr Herr hätte sein sollen, war für sie so etwas wie ein Sohn. Ein ungeratener, aufmüpfiger und undankbarer Sohn vermutlich, aber doch einer, für den sie sich verantwortlich fühlten.

„Am Morgen nach dem kommenden”, sagte Althopian schließlich. „Legt ruhig Eure beste Rüstung an. Vielleicht können wir den teirand als fahrenden Sänger ausgeben, der sich uns angeschlossen hat. Er wird sich ohnehin nicht ausreden lassen, seine Laute mitzunehmen.”