„Althopian!” Asgaý von Spagor, diesmal mit einer kleinen Harfe ausgestattet, blickte auf, als sein Lehnsmann den Wehrgang auf dem Dach betrat. „Was für ein Zufall! Ihr gebt Euch mit Emberbey die Klinke in die Hand.”

„Ich hörte es bereits.” Althopian kniete nieder. „Ich melde mich zurück von meiner Fahrt.”

„Und bis wohin seid ihr vorgedrungen?”

„Bis zum Fuß des Montazíel. Ich war am Hof von Benjus von Valvivant. Der teirand entbietet Euch seine besten Grüße und Wünsche.”

„Das ist nett”, sagte der junge teirand. Ohne aufzublicken, schrieb er mit einem Griffel eine Note auf ein Wachstäfelchen nieder, das neben ihm lag. Papier und Feder wären ihm hier oben weggeweht.

„Ich entbiete Euch ferner die Grüße der hochedlen teiranda Kíaná von Wijdlant”, fuhr Waýreth Althopian fort und hasste sich dafür.

Der junge teirand blickte auf. „Wer ist das?”

„Nun, die teiranda von Wijdlant eben. Die Herrin von yarl Altabete und den anderen Herren, die ich ursprünglich treffen wollte. Ihr erinnert Euch vielleicht an die langen Gespräche, die wir von einigen Monden hatten?”

„Ach so. Ja. Natürlich. Dieses teirandon, von dem jeder gehört hat und offenbar niemand je dort gewesen ist.”

„Ich war dort.” Der Ritter erhob sich. Wenn er, wie es die Sitten erforderten, solange warten würden bis sein Herr ihm ausdrücklich erlaubte, aufzustehen, wären seine Knie steif. „Und wenn ich Euch daran erinnern darf: Es verkehren regelmäßig Reisende und Händler zwischen dort und hier. So gut wie jedes starke Seil, das in Eurem Herrschaftsgebiet in Gebrauch ist, stammt von dort.”

„Na gut. Aber Handelsgüter sind Emberbeys Sache.”

Der junge teirand klimperte weiter. Es klang auch nicht besser als mit den anderen Instrumenten, an denen er sich bereits versucht hatte.

„Herr”, nahm Waýreth Althopian einen weiteren Anlauf, „aus Wijdlant komme ich zu Euch mit einem hehren Auftrag.”

„Ach bitte, Althopian, nicht Ihr auch noch. Verschont mich mit Diplomatie und kümmert Ihr Euch selbst darum. Ihr habt all meine Ermächtigungen.”

„Diesmal, Herr, kann ich Euch die Bürde nicht abnehmen. Dazu fehlt es mir an Stand und Würden.”

„Wovon bei allen Mächten redet Ihr da?”

„Ich rede von der schönsten jungen teiranda aller Zeiten. Eine kluge, gebildete und liebreizende Dame.”

Asgaý von Spagor blickte misstrauisch auf. „Was redet Ihr plötzlich wie ein báchorkor, Althopian, und wie ein bezechter noch dazu?”

„Man bat mich, Euch das zu überbringen.”

Er zog das Päckchen hervor, das der Rotgewandete ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte.

„Was ist das?”

„Eine Gabe, die ich Euch persönlich im Auftrag der hochedlen teiranda Kíaná von Wijdlant übergeben soll.”

Asgaý von Spagor legte die Harfe auf dem Mauervorsprung beiseite und packte es aus. Erstmals sah auch Waýreth Althopian, was es war: Ein Stück klares, flaches Glas in der Form eines unregelmäßigen Dreiecks. Es war mit einer einfachen Schnur versehen, an der es sich um den Hals hängen ließ. Der teirand betrachtete es verwirrt, drehte es hin und her und erstarrte.

Dann sprang er so unvermittelt auf, dass er Harfe und Wachsbrett anstieß und beides in die Tiefe polterte. Das Instrument blieb am Fuß der Mauer in einem Gebüsch hängen, die Wachstafel aber zerschellte. Asgaý von Spagor kümmerte sich nicht darum. Gebannt starrte der junge Mann auf das Ding in seiner Hand.

„Bei den Mächten”, wisperte er erschrocken und fasziniert zugleich. „Das ist ihr Bildnis?”

Du hast es getan, dachte der Ritter und schluchzte innerlich. Diesen ersten Verrat hast du begangen, an deinem eigenen, unschuldigen Herrn.

„Es ist eine edle Dame in Bedrängnis”, sagte er. “Sie … bittet um Eure Hilfe.”

„Kommt mit mir, Althopian”, sagte der teirand fasziniert. „Ich will, dass Ihr mir alles erzählt, was Ihr über diese bezaubernde teiranda wisst.”

***

Weit entfernt, im teirandon Pianmurít, saß die teiranda vor einem einstmaligen Schneiderspiegel und begann, mit rosenroten Lippen zu lächeln. Was sie sah, gefiel ihr sehr.

***

„’ weiß nicht”, sagte Majék leise. „Ich glaub’ nicht, dass er schläft. Vielleicht isser tot.”

„Nein. Dann wäre er bei dem Seegang längst vorübergekippt. Lassen wir ihn besser in Ruhe.”

Die beiden schauten argwöhnisch zu ihrem unheimlichen Passagier hinüber, der mit untergeschlagenen Beinen mitten auf dem vorderen Deck saß und seinen Blick zum Mond gerichtet hatte. Ein sublimer Schimmer schien auf seinen Augen zu liegen, die unablässig auf das Gestirn gerichtet waren.

Der Tag war ereignisreich gewesen. Zuerst hatten sie die Wassergrenze passiert, jenen Bereich des Meeres vor der Küste, der tief genug war, damit die großen, schwer beladenen Mehrmaster nach Osten und Westen fahren konnten. Auch die Inseln des teirandon Ovéstola erreichten sie, wenn sie in diesem Bereich kreuzten.

Einen Grund, noch weiter nach Norden zu fahren als dorthin, gab es nicht. Dort auf dem Wasser jenseits der Fahrtrouten gab es kein Land, keine Küste, keine Inseln. Nur das Chaos.

Das Chaos, so hieß es, war eine Wand aus Sturm, Nebel und tosendem Wasser, die kein Schiff passieren konnte, ohne augenblicklich zerschlagen und in die Tiefe gezogen zu werden. Kein Mensch wusste, was sich hinter dem Chaos verbergen mochte – und ob dort überhaupt etwas war. Doch dass im Grenzgebiet rings um die Welt die Chaosgeister und das Widerwesen selbst lauerten, das war allgemein bekannt. Die Mächte hatten sie dorthin verbannt, am Anbeginn der Zeiten.

Vielleicht würde der Schattensänger ihnen begegnen, vorausgesetzt die Naturgewalt würde ihn nicht umgehend verschlingen. Aber sollten sie ihn daran hindern, wenn es doch sein ausdrücklicher Wunsch war?

Was, wenn er sich nicht abbringen ließ von seinem Vorhaben? Wenn er womöglich das Schiff verzauberte und zu nahe an das Chaos heran zwang? Egnar hatte seine Harpune unauffällig in die Nähe seines Steuerrades geholt, nachdem der Magier in seine seltsame Starre verfallen war. Nur für alle Fälle.

Jenseits der Wassergrenze waren sie am Bug von zwei Großseglern vorbeigesegelt, die nach Ovéstola fuhren. Es hatte spaßige Wortgefechte mit den Seeleuten gegeben, die nicht fassen konnten, dass einfache Fischer mit ihrer kleinen Nussschale so weit draußen waren. Der Schattensänger hatte sich bei diesen Gelegenheiten unter Deck verborgen.

Dann war der Wind schwächer geworden, und die Segel des Kutters fingen kaum noch genug Wind ein, um rasch Fahrt zu machen. Der Magier hatte ihnen vorgeschlagen, dass sie ihre Netze auswerfen sollten. Tatsächlich hatten sie kurz darauf zwei riesige Fische, groß wie Schafe gefangen, mit prächtigen bunten Mustern auf glitzernden Schuppen und beängstigenden Zähnen. Solche Fische hatte noch nie zuvor jemand gesehen. Was für ein Beweis für ihre weite Fahrt!

Sie wollten noch mehr, aber der Schattensänger hatte zu bedenken gegeben, dass sie sich das lieber für frischen Fang auf dem Rückweg aufsparen sollten, und sie mussten ihm zustimmen. Einen der Fische legten sie in Salz, einen Teil des anderen hatten sie mit getrockneten Kräutern aus Kelwas Garten gegessen, sehr vorsichtig, da sie später Haut und Gräten dem teirand präsentieren wollten. Vielleicht konnte man den Balg ausstopfen, so hatte er etwas, womit er vor anderen Herren prahlen konnte.

„Es gefällt euch nun doch, die tapferen Fischer des teirand zu sein, nicht wahr?”, hatte der Schattensänger belustigt gefragt. Vom Fisch zu kosten hatte er abgelehnt. Er benötige keine Nahrung, hatte er gemeint.

„Wenn die yarlay mit ihrer Tapferkeit prunken, können wir das auch”, hatte Majék kühn behauptet.

„Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?”

„Wenn nicht diese verdammte Flaute wäre, wären wir morgen gegen Mittag in Sichtweite des Chaos. Wenn es stimmt, was man so von den Abenteurern hört.”

„Abenteurer?”

„Natürlich. Denkst du nicht, auch tollkühne keptyenay hätten ab und zu versucht, sich das Chaos aus der Nähe anzugucken?”

„Die, die noch rechtzeitig beidrehen konnten, haben alles haarklein aufgeschrieben. In Virhavét sitzt so ein armer Tropf regelmäßig in der Hafenkneipe und erzählt gegen Geld seine Schauergeschichten.”

„Nun”, sagte der Schattensänger, und in den Segeln knallte der Wind von achtern, „vielleicht habt ihr beide bald Gelegenheit, euch zu ihm zu setzen.”

„Lieber nicht”, hatte Majék gesagt und schaute sich verwirrt nach dem Segel um. „Angeblich hat er früher ‘n richtig großes Handelsschiff, so ‘nen unsinkbaren Pott mit vier Masten befehligt. Seither hat er nicht mehr den Fuß in ein Ruderbötchen gesetzt. Solche Angst macht ihm seit damals das Meer.”

Nun, bei Nacht, saß der Magier still da und kam ihnen unheimlich vor. Auch der Wind, der so unvermittelt aufgezogen war, erschien ihnen sonderbar.

Majék stellte unauffällig einen schmiedeeisernen Bootshaken neben die Harpune. Nur zur Sicherheit.

***

Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht habe ich ihn noch einmal täuschen können. Aber ich glaube, er schöpft Verdacht.

Arámaú hatte ihm berichtet, dass der Rotgewandete sie mit der Maus geprüft hatte. Das hatte ihn beunruhigt, aber nicht sonderlich überrascht.

– Wenn er dich all die Zeit nicht bemerkt hat in deiner Verkleidung, dann ist dir irgendeine Unachtsamkeit unterlaufen.

Ich habe so gut achtgegeben …

– Du tust es weiterhin meisterhaft! Hätte er dich unzweifelhaft durchschaut, er hätte dich nicht am Leben gelassen. Ich habe stets gewusst, dass du ein überreiches Talent für den Gestaltwandel hast.

Ich weiß. Aber ich habe dein Lob immer für … Höflichkeit gehalten.

– Wen von uns beiden hatte Meister Gíonar damals zuerst erkannt, als wir um die hohen Bäume mit den Raben um die Wette geflogen sind? Wen hat er aus dem Vogelkörper heraus gebannt und vor allen anderen für den Unfug gescholten?

Dich.

– Und wer ist unentdeckt mit den echten Raben entkommen?

Ich. Aber …

– Ich hätte es nicht so lange fertig gebracht, den Rotgewandeten zu beirren. Wenn du dich zuvor immer knapp außerhalb seiner Aufmerksamkeit bewegt hast, bist du ihm vermutlich jüngsthin zu nahe gekommen.

Möglich. Vielleicht habe ich mich zu nahe an deiner Unkundigen aufgehalten und bin damit in sein Blickfeld geraten.

Einen Augenblick lang drängte sich Stille zwischen sie.

– Wenn es zu gefährlich für dich wird, musst du fliehen. Er wird deinetwegen nicht die Burg verlassen. Bring dich in Sicherheit und warte auf mich.

Und deine Unkundige?

– Er wird hoffentlich zu seinem Wort stehen und sie nicht antasten, solange er auf mich wartet.

Aber …

– Arámaú … ich will nicht, dass du in Gefahr gerätst. Das kann ich nicht verantworten. Damit ist auch der Unkundigen nicht geholfen.

Es hat nun angefangen. Pianmurít beginnt, sie zu verändern.

Ihm wurde eiskalt.

– Wie?

Es ist ein Zauber von ihren Augen gefallen. Sie hat eine Wirklichkeit erkannt, durch den Zauber hinweg, der sie und Pianmurít trennt.

– Ein unbelebtes Objekt?

Eine Flasche Wein.

– Ich bin so schnell wieder bei euch, wie es geht. Noch bevor sie beginnt, Menschen in ihrem Bann zu erkennen. Und wenn ich den ganzen Rückweg rennen muss.

Denn dann, daran bestand kein Zweifel, hätte Pianmurít die Unkundige ebenso gepackt wie die teiranda und ihre Getreuen und Schutzbefohlenen. Dann würde sie hineingezogen in die unterschwellige Magie, in einen Dämmerzustand, den der Lichtwächter erschaffen hatte, mochten die Mächte wissen, wie und warum.

Deine Zeit läuft immer schneller, Yalomiro. Gor Lucegath verliert mehr und mehr die Kontrolle über das, was er tut.

– Nur noch kurz. Bald wird alles so enden, wie es den Mächten gefällig ist.

Gib auf dich acht, Yalomiro.

Ihre Gedanken kreisten noch einen Augenblick inniglich umeinander herum, dann verblasste Arámaús Gegenwart. Yalomiro tauchte aus seiner Trance auf wie aus Wasser, aber er erwachte nicht.

Stattdessen begann er, geräuschlos zu singen. Es war das Lied der ujora, und seine unsichtbare Stimme trug es vor dem Schiff her über Meer, dem Chaos entgegen.