
Zum Glück hatte ich in dem Moment, in dem die teiranda das Zimmer betrat, nur die Vase vor mir. Solange Arámaú nicht in der Nähe war, wagte ich es tagsüber nicht, die Geige zusammenzufügen. Doch die Katze war seit zwei Tagen verschwunden. Ich sorgte mich sehr, dass ihr ein Unfall zugestoßen sein könnte oder Gor Lucegath möglicherweise auf sie aufmerksam geworden sein könnte. Ich dachte darüber nach, ob ich unter einem unauffälligen Vorwand nach dem Verbleib einer bestimmten Katze fragen konnte. Aber das war zu gefährlich. Möglicherweise würde der Rotgewandete davon erfahren und sich dafür interessieren.
Andererseits, und das erschien mir bei näherem Nachdenken seltsam, war ich mir sicher, dass ich es entweder gespürt oder erfahren hätte, wenn ein Unglück geschehen wäre. Wahrscheinlich von Gor Lucegath selbst.
Aber solange Arámaú nicht da war und achtgab, kam ich mit dem Instrument nicht weiter. Das war frustrierend, nicht nur, weil es mir so wichtig war, dieses mir so wichtige Objekt, die damit verbundenen Erinnerungen zu reparieren. Irgendetwas Irrationales, eine Intuition, die ich mir nicht erklären konnte und vielleicht nur einredete sagte mir, dass die Geige wieder in Yalomiros Hände zurückkehren musste. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sie endgültig zerstört war.
Ich klammerte mich an der Idee fest, dass ich Yalomiro half, indem ich sein Werkzeug wieder zusammensetzte.
Aber all das war in diesem Moment nebensächlich, denn die teiranda stand in meiner Stube und wirkte auf eine zaghafte Weise verlegen. Dass Kíaná von Wijdlant sich ausgerechnet jetzt an mich erinnerte, erschien mir sonderbar.
„Was machst du da?”, fragte die teiranda.
„Ich vertreibe mir die Zeit. Mir war die Vase heruntergefallen. Und da ich sonst nichts zu tun habe…”
„Aber es ist doch nur eine Vase. Wir sagen dem Töpfer Bescheid, und er macht dir eine neue.”
„Das ist nicht dasselbe.”
„Wie meinst du das?”
„Der Töpfer erschafft etwas Neues. Ich repariere etwa Kaputtes.” Ich legte das feine Pinselchen beiseite und presste die Scherben fest aufeinander. Was immer man in dieser Welt als Leim benutzte, es haftete fast so gut wie ein Sekundenkleber. „Es hält mich beschäftigt.Für andere Handarbeiten fehlt mir das Talent.”
Sie dachte nach. „Ob ich meinen Spiegel so auch hätte reparieren können?”
„Ich glaube, nicht alles, was kaputt geht, sollte wieder zusammengefügt werden. Bei manchen Dingen ist es gut, wenn sie zerbrochen bleiben.”
„So wie die Brücke von yarl Altabete?”
„Wie bitte?”
Sie lächelte müde. „Ach, Ujora, ich war so albern. Ich habe mich gerade dazu hinreißen lassen, die yarlay und die spreghenay anzuschreien, wegen einer Nichtigkeit. Einfach so. Ohne Grund.”
„Was meint ihr?”
„Sie machten mich ungeduldig. Es wurde mir zu viel mit ihnen.”
„Ich denke, Ihr könnt Euch glücklich schätzen, die Herren um Euch zu haben.”
„Oh, ich schätze ihre Gegenwart sehr. Aber an manchen Tagen … manchmal, Ujora, frage ich mich, wer sie eigentlich sind.”
Ich schaute ihr ins Gesicht und versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Irgendetwas war anders als sonst.
„Ich hatte mir Gedanken gemacht”, sagte ich und wollte dahinterkommen, was es sein mochte. „Ich hatte tagelang nichts von Euch gehört.”
„Meister Gor hatte mir untersagt, zu dir zu kommen.”
„Und jetzt hat er es wieder erlaubt?”
„Nein.”
Das war es! Ihre Augen – sie waren erschöpft. Aber sie waren … lebendig.
„Ihr seid … aus eigenem Willen hier?”
„Ich lasse mir nicht verbieten, mit wem ich spreche”, sagte sie trotzig. „Ich bin die teiranda.”
„Habt Ihr keine Angst, dass er davon erfährt?”
„Er wird es längst wissen. Aber es ist mir egal.”
Was um alles in der Welt war los mit ihr? Auflehnung war etwas, was nicht zu ihr passte. War sie irgendwie aus ihrer verklärten Apathie herausgerissen worden und hatte sich dann zu mir in meine Stube verirrt?
Sie griff nach den losen Scherben, drehte und wendete sie einen Moment lang und kam dann auf die Idee, dass das Muster darauf ihr Hinweise gab. Ich ließ sie gewähren, während sie sich in meine Arbeit einmischte. Ich ahnte, dass sie im Augenblick nicht reden wollte, wahrscheinlich, weil ihr selbst nicht klar war, was sie gerade tat, was ihr impulsives Verhalten ausgelöst und was es bewirkt hatte. Vielleicht tat es ihr gut, einen Moment in Ruhe gelassen zu werden und Ablenkung zu haben. Aber es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Sie legte die Scherben verlegen zur Seite.
Ebenso gut wusste ich, dass ihr Gebaren den Rotgewandeten alarmieren musste und unser stilles Beisammensitzen nicht von langer Dauer sein würde. Diesen kurzen Moment musste ich nutzen. Ich langte zu ihr hinüber und legte meine Hand auf die ihre. Ihre Finger waren kraftlos, kühl. Sie schaute mir ins Gesicht und für einen Lidschlag hatte ich den Eindruck, eine ganz andere Person säße mir gegenüber. Jemand, der mir erschreckend ähnlich war. Nicht optisch, selbstverständlich. Kíaná von Wijdlant war die schönste Frau, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Trotzdem hatte ich einen gruselig langen Augenblick das entsetzliche Gefühl, in einen Spiegel zu blicken.
Ich wollte etwas zu ihr sagen, irgendetwas Kluges oder Aufmunterndes, vielleicht auch etwas Witziges, nur um zu sehen, ob sie in ihrem momentanen Zustand möglicherweise lachen konnte. Doch mir fiel nichts Brauchbares ein, und so schwiegen wir.
„Danke”, kam es schließlich fast unhörbar über ihre Lippen.
„Wofür?”
„Du bist hier”, sagte sie. „Dafür.”
Ihr nun zu sagen, dass ich nur hier war, weil mir schließlich nichts anderes übrig blieb, wäre herzlos gewesen. Also antwortete ich nicht. Gewissermaßen verstand ich, was in ihr vorgehen mochte. Ich wusste, wie es war, sich inmitten anderer Leute ganz allein zu fühlen.
Im Nachhinein betrachtet war es erstaunlich, wie viel Zeit sich Meister Gor ließ, um sie zurück in seine Fänge zu holen. Doch zum Glück überraschte er uns nicht aus dem Nichts heraus. Sein Kommen wurde von einem kleinen Tumult angekündigt, ein unverständliches Stimmengewirr auf dem Flur, und dann riss er die Tür auf.
Die jüngere Kammerzofe der teiranda war ihm dicht auf den Fersen. Sie humpelte, als sei ihr Fuß verletzt, fiel neben ihm auf die Knie und rang ihre Hände zu ihm. Yarl Moréaval versuchte verbissen, die Kammermaid aus der Reichweite des Rotgewandeten zu ziehen. Der Ritter murmelte und zischte unverständlich auf sie ein. Ich konnte zwar weder seine Mimik sehen noch seine Worte verstehen, aber höchstwahrscheinlich war er bemüht, Ärgeres zu verhindern. Einige andere Personen blieben vor der Tür wagten offenbar nicht, die Schwelle zu passieren. Ich glaubte, in dem Nebel Daap Grootplen zu erkennen. Wahrscheinlich war Andriér Altabete auch nicht weit.
Gor Lucegath blieb stehen. Einen Moment lang schien er abzuwägen, ob er seine Aufmerksamkeit zuerst der teiranda und mir oder dem panischen Mädchen widmen sollte.
„Lasst sie los”, gebot er dann dem Ritter und wandte sich der Zofe zu. Unter seinem Blick verstummte sie mitten im Schluchzer. Ihr verwischtes Gesicht war dem Magier starr zugewandt.
„Es tut nichts zur Sache, ob es dir leid tut oder ob du Schuld daran hast, Mädchen. Es ist geschehen, was ich nicht wollte. Ich finde die teiranda zusammen mit der fánjula im selben Raum. Das wirklich Traurige daran mag sein, dass deine Herrin wusste, dass ich dich dafür nun bestrafen werde. Wirklich sehr bedauerlich, dass der teiranda die Unversehrtheit ihrer engsten Gefährtinnen nicht ein wenig mehr Achtsamkeit wert ist.”
Die Zofe wimmerte jämmerlich.
„Herr Jóndere, schafft sie mir aus den Augen, ich habe mit der teiranda einige Worte zu wechseln. Mit der pflichtvergessenen Magd werde ich mich im Weiteren beschäftigen. Später. Wenn ich in der Laune dazu bin. Und egal, wo Ihr möglicherweise versucht, sie vor mir zu verbergen.”
Der Ritter beeilte sich, der Kammermaid aufzuhelfen. Die junge Frau war wie von Sinnen, sie versuchte, sich aus Moréavals Griff zu winden und ihr verzerrtes Jammern und Flehen klang erschreckend angsterfüllt. Aber der Magier interessierte sich überhaupt nicht für das Jammern der panischen Dienerin.
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als der junge Ritter das arme Mädchen endlich aus dem Raum manövriert hatte. Gor Lucegath schloss die Tür hinter den beiden mit einem beiläufigen Wink. Dann seufzte er tief und schüttelte den Kopf über der teiranda und mir.
„Ungehorsam, Herrin?”, fragte er nur betrübt. „Schon wieder?”
Sie vermied es, ihn anzusehen. „Ich bin die teiranda. Dies ist meine Burg. Gehorsam schulde ich mir nur selbst.”
Ich war mir sicher, dass sie diese Worte bereuen würde. Aber er schwieg, ließ sich auf der Kleidertruhe nieder und schwieg. Sein Blick war undurchschaubar. Schon nach kurzer Zeit wurde die Stille ausgesprochen unangenehm. Ich mutmaßte, dass er abwarten wollte, wer zuerst die Nerven verlor und irgendetwas Demütiges sagte. Schließlich war er es selber, der das Schweigen brach.
„Ich habe nicht ohne Grund darum gebeten, dass ihr euch voneinander fernhaltet. Es tut euch beiden in diesen Tagen nicht gut.”
Ich erwartete, dass Kíaná von Wijdlant ein Widerwort für ihn parat hatte. Aber sie schwieg.
„Hast du sie hierher eingeladen, Ujora?”
„Das würdet Ihr doch wissen, oder?”
„Selbstverständlich. Aber ich möchte es von dir hören.”
„Sie hat angeklopft. Ich habe sie hineingelassen. Mehr nicht.”
„Und Ihr, Herrin? Warum habt Ihr gegen mein Gebot an diese Tür geklopft und wurdet eingelassen?”
„Ich weiß nicht”, murmelte sie. „Es… es tat gut.”
„Hattet Ihr Euch so sehr erschrocken vor dem, was vorhin mit Euch geschehen ist?”
„Ihr meint die Wut?”
„Ich meine die Krankheit, die ich besiegt zu haben glaubte.”
Ich horchte auf.
„Du musst wissen, Ujora, dass der Geist der teiranda zuweilen sehr … verletzlich ist. Ich befürchte fast, im Verlauf der letzten Tage haben sich alte Wunden wieder geöffnet, an denen nicht zu rühren ist.”
Also doch. Genau wie ich es vermutet hatte. Kein Fluch, keine Verzauberung. Eine psychische Erkrankung. Ein Auslöser, der möglicherweise irgendwelche Traumata wieder erweckt hatte. Vielleicht war durch Yalomiro und mich zu viel Unruhe in ihren monotonen Alltag gekommen.
Sie seufzte. Neben ihm wirkte sie plötzlich auf eine sonderbare Weise klein und schmal.
„Ich habe mir diesen … Rückfall wohl selbst zuzuschreiben. Ich war zu sehr auf die privaten Angelegenheiten zwischen dem Schattensänger und mir konzentriert und habe meine Herrin dabei vernachlässigt. Es wäre fatal, wenn sich solche Vorfälle häufen würden, Ujora. Du tust meiner Herrin nicht gut. Aber ich sehe, dass du ausnahmsweise nichts selbst dazu beigetragen hast, um ihr Leid zu schüren. Ich empfehle dir für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie noch einmal an diese Tür klopft, nicht zu öffnen. Egal, wie sehr sie darum flehen mag.”
Er erhob sich und hielt der teiranda galant seine Hand hin. „Kommt, Majestät. Ich bringe euch zurück nach Pianmurít.”
„Ich will nicht nach Pianmurít”, flüsterte sie.
„Aber wohin solltet Ihr sonst gehen wollen?”
Sie schaute ihn an. Ich konnte sehen, wie ihre Augen mit jedem Wimpernschlag wieder strahlender und zugleich glasig wurden.
„Die Brücke …”, murmelte sie. „Ich will die Brücke reparieren….”
Er schüttelte milde den Kopf. Dann legte er ihr sanft die Hand auf die Stirn. Ihre Haltung ermattete, und der altbekannte, entrückte Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Was immer sich in ihrem Geist an die Freiheit gekämpft hatte, es war nun abgerutscht und zurückgestürzt, tief in Ihr Herz hinein. Sie lächelte und sah dabei unfassbar unecht aus.
Er betrachtete sie einen Moment schweigend und wandte sich dann wieder mir zu.
„Wenn du willst, können wir miteinander reden. Ich vermute, du hast Fragen.”
Worauf wollte er hinaus? Ich war so verwirrt über die ganze Situation, dass mir keine Antwort einfiel. Gerade noch rechtzeitig kam mir noch in den Sinn, dass ich ihn in dem Glauben lassen musste, nicht zu wissen, was aus Yalomiro geworden war. Würde er mir etwas anderes sagen als Arámaú?
„Wie seid Ihr mir Yalomiro verbleiben? Ich nehme an, er ist gegangen, um das ay’cha’ree zu holen, so wie ich ihn … gebeten hatte?”
„Das hoffe ich in deinem Interesse.”
„War er denn wieder stark genug?”
„Die junge doayra hat ihn gut versorgt. Und du hast ihn mit seiner eigenen Magie gekräftigt, wie du es im selben Moment hättest tun sollen, in dem ich ihn dir zurückgegeben hatte. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.”
„Aber Ihr wisst, wo er nun ist?”
„Selbstverständlich. Er kann nichts an meinem Blick vorbei unternehmen.”
„Dann wisst Ihr auch, ob es ihm gut geht?”
„Glaube mir – wenn ich davon Kenntnis erhalten sollte, dass ihm irgendetwas zustößt, bist du die Erste, die davon erfährt. In allen Details.”
„Danke”, sagte ich kleinlaut.
„Ich werde in nächster Zeit ein besseres Auge auf euch haben.” Er fasste die teiranda am Arm. Die schöne junge Frau erhob sich steif. „Und nun werde ich zusehen, dass sich dieser wirre Geist hier wieder ein wenig beruhigt.”
„Bitte”, beeilte ich mich, „bitte tut Ihr nichts an.”
Er musterte mich. In seinen grauen Augen hinter der Maske lag ein seltsamer Ausdruck.
„Warum sorgst du dich um sie? Und wieso glaubst du, dass ich ihr schaden will? Vielleicht will ich ihr wirklich nur Linderung verschaffen? Ich denke nicht, dass dir klar ist, warum ich mir all die Mühe mit ihr gebe. Es gibt hier Geschichten jenseits der deinen, Ujora.”
Ich schaute auf das Scherbenpuzzle vor mir auf dem Tisch. „Entschuldigung.”
„Es ist gut.” Der Rotgewandete lächelte. Dann beschrieb er eine winzige Geste mit dem Finger in Richtung der Vase. Alle Scherben, die ich zusammengefügt hatte, klirrten auseinander. Ich zuckte zusammen. Er hatte tatsächlich den Leim an den Klebestellen weggezaubert.
„Du hast nicht mehr viel Zeit, Ujora. Verschwende sie nicht mit den falschen Dingen.” Gor Lucegath deutete eine Verbeugung an und dirigierte dann mit erstaunlicher Behutsamkeit die weggetretene teiranda aus dem Raum.
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