
Als der Morgen irgendwo im Süden langsam den Horizont überwand, lag noch eine violette Dunkelheit über dem Dorf unweit der Burg des jungen teirand. Hier, nur einen kurzen Fußmarsch hinter den Dünen, waren ein paar Dutzend Häuschen errichtet. Sie gruppierten sich rings um einen zentralen Platz mit einem Brunnen, den die Leute tagsüber nutzten, um sich zu versammeln, zu treffen und miteinander zu schwatzen.
Die Häuser in der Mitte gehörten traditionell den Seefahrern, in diesem Dorf ausschließlich Fischer, die mit ihren Kuttern auf Krabben und kleinere Fische aus waren und sich nicht aus Sichtweite der Küste begaben. Zwei, drei der Männer hatten etwas größere Boote. Damit fuhren sie weiter hinaus – zwar lange nicht so weit, wie die großen Mehrmaster der keptyenay, wie sie in Virhavét und den anderen Hafenstädten längs der Küste lagen. Aber sie brachten die großen Fische mit, die sie auch dort verkaufen konnten. Den Fischfang leisteten die Menschen in Virhavét nicht selbst, dafür gab es das Volk außerhalb der Stadtmauern.. Mit dem kapitalen Fisch von jenseits der Wassergrenze ließ sich dort gutes Geld verdienen.
Die Häuser in den äußeren Kreisen, wo mehr Platz dafür war, hatten geräumige Gemüsegärten. Landeinwärts betrieben die Familien Landwirtschaft, züchteten Kleinvieh und bauten Getreide an. Zuweilen war das lukrativer als der bescheidene Fang der Kleinfischer. Manche hatten ihre Boote bereits aufgegeben. Das Leben veränderte sich, langsam, aber unerbittlich. Es war die Stadt. Die Stadt wuchs und rückte näher. Aber noch war sie weit genug weg, als dass die älteren Leute allzu besorgt waren.
Auch Egnar hatte einen Garten hinter einem Staketenzaun aus wettergebleichtem Treibholz mit seinem bescheidenen, adretten Häuschen. An der Südseite des Hauses rankten an einem Spalier Bohnen und Erbsen empor. In einem großen Tontopf am Tor wuchs eine dornige Rose tapfer gegen den frischen Seewind an. Die Pflanze war von einem hartnäckigen Pilz befallen, der die Blätter vergilben und vor der Zeit fallen ließ. Yalomiro warf einen Blick darauf, heilte die Blume und gab ihr die Kraft für ein Dutzend neuer Blüten. Dann pochte er an die Tür.
Das musste er mehrfach wiederholen, bevor sich im Haus etwas regte. Egnar murrte vor sich hin, schob einen Riegel zurück und blinzelte müde. Er trug ein knielanges Nachthemd mit bunt bestickten Borten und eine gestreifte Schlafmütze. Als er den Besucher erkannte, war der Fischer schlagartig hellwach.
„Bei den Mächten! Ich hatte gehofft, du seist nur ein Traum gewesen.”
„Guten Morgen”, antwortete Yalomiro. „Die Flut steigt. Ich denke, wenn wir noch trockenen Fußes dein Schiff erreichen wollen, sollten wir uns nicht mehr allzu viel Zeit lassen.”
„Hatte ich etwa eingewilligt, dir bei deinem schwachsinnigen Plan zu helfen?”
„Nein, noch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass das nur eine Formsache ist.”
„Egnar?”, rief eine Frauenstimme aus dem Haus. „Wer ist denn da?”
„Nur ein … Kunde, Liebes!”, rief der Fischer über die Schulter. „Schlaf weiter, es ist noch dunkel.”
„Die Sonne wird bald über den Montazíel steigen. Im selben Moment greift die Flut nach dem Strand. Also?”
Egnar trat einen Schritt ins Freie und zog die Tür bis auf einen Spalt weit hinter sich zu. „Nun hör mir mal zu!”, flüsterte er aufgebracht. „Ich habe keine Ahnung, was du vorhast und wo du herkommst, aber das ist alles nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Zum einen weiß Majék noch gar nicht Bescheid.”
„Dein junger Gehilfe? Den habe ich vorausgeschickt.”
„Woher … ach, egal. Was heißt das – vorausgeschickt?”
„Ich habe bereits mit ihm geredet. Ein aufgeweckter, abenteuerlustiger Bursche, scheint es mir. Er war Feuer und Flamme, als ich ihm erzählte, dass du den keptyenay in Virhavét beweisen wirst, dass ein gestandener Seemann wie du es leicht mit den Großseglern aufnehmen kann. Der Junge wird bereits beim Schiff sein und es klarmachen.”
„Was? Aber …”
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns auf der Fahrt tatsächlich ein Großsegler begegnen wird. Sie werden staunen über die Kühnheit der Fischer von Spagor. Der teirand kann sich seiner verwegenen Schutzbefohlenen rühmen, wird es in Virhavét heißen.”
Die Tür öffnete sich. Eine rundliche Frau in ihren mittleren Jahren, auch sie im Nachtgewand und mit einer bestickten Rüschenhaube auf dem graublonden Haar, lugte besorgt ins Freie.
„Mit wem redest du da, Lieber?”, fragte sie verwirrt.
„Na mit ihm! Dieser komische Vogel glaubt, mich zu Abenteuern überreden zu müssen!”
Yalomiro war beim Anblick der Frau geistesgegenwärtig in den Schatten der Erbsenspaliere zurückgewichen und hatte sich die Krempe seines Hutes in die Stirn gezogen. Die Frau schaute verwirrt zu ihm hinüber.
„Vergib mir, dass ich mich dir nicht offen zeige. Das wäre für dich gefährlicher als die kleine Fahrt, um die ich deinen hýardor bitte.”
„Er ist ein Schwarzmantel”, erklärte Egnar. „Der Kerl, der das Boot geputzt hat.”
„Oh”, machte die Frau beeindruckt. Dann trat auch sie einen Schritt zurück und blickte zu Boden. „Gibt es irgendetwas, das ich tun muss?”
„Du könntest zurück ins Haus gehen”, schlug Yalomiro vor. „Versteh das bitte nicht falsch. Aber es erscheint mir sicherer, wenn eine Mauer zwischen uns ist.”
„Nein”, sagte die Frau entschieden. „Ich will wissen, was du mit meinem hýardor zu bereden hast. Das geht mich ebenso viel an wie ihn. Vielleicht sogar mehr.”
„Du sorgst dich ohne Grund. Ich habe nicht vor, ihn in Gefahr zu bringen.”
„Kommt ins Haus. Beide. Es müssen nicht alle Nachbarn ein Ohr auf diese geheimen Gespräche haben.”
„Dann wäre ich mit dir auf derselben Seite der Mauer. Hast du keine Angst um deinen Verstand?”
Sie lächelte. „Nein. Dafür bin ich schon zu alt. Solange wir einander nicht in die Augen schauen, wird schon nichts geschehen. Und wenn doch … nun, dann haben die Mächte es so gewollt.”
„Du bist sehr mutig. Wenn es dir dabei wohler ist, kann ich mich in ein Tier verwandeln, während wir reden.”
„Nichts da. Auf meinem sauberen Fußboden hat kein Vieh etwas zu suchen. Und nun kommt. Man horcht gewiss schon nebenan.”
„Liebes”, protestierte Egnar. „Kelwa!”
Aber Kelwa hatte die Tür bereits einladend geöffnet. Der Fischer seufzte und trat unwillig beiseite.
Die Stube war ebenso bescheiden und schlicht wie die Fassade, aber jedes Detail strahlte Würde und Behaglichkeit aus. Im Zentrum des Zimmers gab es unter einem Abzug im Reetdach einen gemauerten Herd, um den herum blank geputzte Töpfe und Pfannen standen. Die weiß gekalkten Wände waren mit bunten, handgemalten Bordüren mit maritimen Motiven, Muscheln und Seesternen verziert. An einem Tisch standen Stühle aus grobem Holz, gepolstert mit bunten, strohgefüllten Kissen. Eine Tür hinter einem Vorhang aus kleinen, im sachten Durchzug klimpernden Muschelschalen führte weiter hinein ins Haus, wahrscheinlich in die Schlafkammer der beiden.
Yalomiro sah all das mit seinen nachtsichtigen Augen und ließ die Umgebung einen Moment auf sich wirken. In diesen Wänden lag ein Dunst, eine Absonderung von etwas, das er nicht benennen konnte. Es war ein kostbares Gefühl, das ihn anrührte.
Kelwa riss ein Zündholz an, machte Licht an einer Ölschale auf dem Tisch und holte geschäftig eine irdene Flasche und zwei irdene Becherchen aus einem Schrank. Sie schenkte eine scharf riechende klare Flüssigkeit ein und reichte sie den Männern hinüber.
Egnar überlegte nicht lange und stürzte den Schnaps hinunter. Der Magier zögerte damit.
„Ich möchte nicht unhöflich sein”, sagte er in Kelwas Richtung und betrachtete den Becher unschlüssig. „Aber ich bin solche Dinge nicht gewohnt.”
„Dann gib her.” Egnar pflückte das Pinneken aus Yalomiros Fingern. „Ich brauch das jetzt.”
„Lieber!”, mahnte Kelwa, seufzte und wandte sich an dem Magier. „Kann ich dir etwas anderes anbieten? Du bist unser Gast, wenn du schon Geschäfte mit meinem Gefährten machen willst.”
„Ich bin bereits beschenkt damit, dass du mich furchtlos in dein Haus gelassen hast. Meinesgleichen erlebt selten solche Freundlichkeit.”
„Unser Haus”, brummte Egnar und ließ sich am Tisch nieder.
Sie errötete. „Du meine Güte, wie artig du reden kannst”, kicherte sie. „Bitte, setz dich.”
„Danke”, sagte Yalomiro und nahm Platz. „Ich bin … überrascht, wie wenig Misstrauen mir hier entgegenschlägt. Ich kenne es von dort, woher ich komme, ganz anders. Meinesgleichen ist nicht überall wohlgelitten.”
„Kein Wunder”, murmelte Egnar. „Wenn ihr alle so dreist seid…”
„Ach, hör nicht auf den Knurrhahn”, sagte Kelwa. „Sag mir lieber, was du hier willst.”
„Mein Name ist Yalomiro Lagoscyre. Ich komme von jenseits des Montazíel, aus einer Gegend, die man einst Boscargén nannte.”
„Du liebe Zeit! Von da, wo Wald und Erde abgestorben sind? Man hört so schlimme Dinge von dort … die armen Leute, die da in der Nähe gewohnt haben…”
„Man hört Dinge?”
„Die báchorkoray sagen, die Gegend sei verflucht. Reisende meiden sie.”
„Wie ich sah, sind dort viele Menschen geflohen und haben, so die Mächte ihnen wohlgesonnen waren, anderswo eine neue Heimat gefunden. Zwischen dem Boscargén und dem Montazíel bin ich auf meinen Reisen kaum jemandem begegnet. Nur die Bergleute sind noch da.”
„Und jetzt stehst du hier am Ende der Welt und erzählst mir etwas vom Ruhm der Fischer von Spagor. Für was hältst uns? Für Ritter zur See?”
„Hat dein hýardor immer so schlechte Laune?”
Sie lächelte liebevoll. Egnar schnaubte unwillig.
„Also gut. Bevor wir vor lauter Gerede die Flut verpassen, stechen wir in See. Aber auf meinem Schiff habe ich das Sagen, damit das klar ist. Ich fahre dich bis über die Wassergrenze.”
„Bis in Sichtweite des Chaos.”
„Das fehlte mir noch.”
„Bis zum Chaos?”, fragte Kelwa erschrocken.
„Gerade soweit, dass weder dem Schiff noch seiner Besatzung eine Gefahr droht. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass dein hýardor den Mut hätte, am Rand des Chaos entlang zu segeln. Glaub mir, wenn ich daran zweifeln würde, hätte ich jemand anderen gefragt.”
Egnar brummte vor sich hin. Aber es klang ein klein wenig geschmeichelt.
„Ich versichere euch bei den Mächten, dass ich nicht beabsichtige, irgendjemanden in Gefahr zu bringen. Im Gegenteil. Ich habe diese Reise begonnen, um an deren Ziel zu verhindern, dass etwas … etwas undenkbar Schlimmes geschieht. Es ist keine Vergnügungsfahrt. Es geht um etwas sehr Wichtiges.”
Die beiden wechselten beunruhigte Blicke miteinander.
„Tatsächlich ist es so, dass das, was möglicherweise geschieht, wenn ich erfolglos bin, weit schrecklicher wäre als eine kleine Seereise.”
„Aber was willst du beim Chaos?”
„Ich … nun, ich muss etwas aus dem Chaos herausholen.”
„Herausholen!”
„Ja.”
„Wie ist es hereingekommen?”
„Wäre es dir recht, wenn ich dir das auf See erkläre? Die Flut kommt immer näher”.
„Das Chaos”, sagte Egnar eindringlich, „ist unüberwindlich. Es ist das Ende der Welt. Du kannst da nicht so einfach reingehen. Da drin lauern die Chaosgeister!”
„Ich bin ein Magier.”
„Du bist wahnsinnig!”
„Möglich. Aber halten wir uns damit nicht auf. Wenn das Chaos mich wirklich verschlingen sollte, wirst du keinen Nachteil daraus haben. Du drehst einfach bei und fährst wieder hierher zurück, als seien wir einander nie begegnet.”
Der Fischer seufzte und wollte sich einen dritten Schnaps einschenken, aber Kelwa nahm ihm beiläufig die Flasche weg. „Und wenn du erfolgreich bist? Was dann?”
„Wenn ich Erfolg habe”, sagte er, „kann die Erde vom Boscargén wieder zum Leben erwachen. Und ich werde mich eures teirand annehmen. Vielleicht gelingt mir, was seine yarlay vergeblich versuchen.”
„Wer’s glaubt …”
„Und wenn all das euch noch nicht überzeugt – so habt ihr wenigstens das Geld für euch, das ich für die Fahrt bezahlen werde.”
„Wie viel?”
„Etwa drei Goldmünzen in Silber und Kupfer.”
Egnar starrte einen Moment die Maserung der hölzernen Tischplatte an. Dann gab er sich einen Ruck und erhob sich. „Schon gut. Ich zieh mich an. Anders werden wir dich doch nicht los. Aber ich sag es dir: Sobald mir das Wasser nicht mehr geheuer ist, drehe ich bei.”
Er schlurfte brummelnd und schimpfend davon. Kelwa blieb allein mit Yalomiro am Tisch zurück.
„Ich lasse nicht zu, dass ihm etwas geschieht”, versicherte der Magier. „Von all den Menschen, die mir auf meiner Reise begegnet sind, wird er derjenige sein, der sich in die geringste Gefahr begibt. In vier oder fünf Tagen ist er wieder hier, mit oder ohne mich, aber mit einem Netz voller Fische und einer ordentlichen Entlohnung in der Tasche.”
„Wie kannst du mir das versprechen?”
„Du musst mir vertrauen.”
„So wie die yarlay von Althopian den Schwarzmänteln vertraut haben?”
Yalomiro lächelte. „Bei den Mächten, einer der unseren muss tatsächlich einen bleibenden Eindruck bei diesen yarlay hinterlassen haben.”
Sie ging nicht darauf ein. Er tastete nach ihren Gedanken, fand aber nur eine seltsame Mischung aus Besorgnis und Vertrauen, und ein Übermaß an fürsorglicher Güte.
„Was ist es, das euch an eurem teirand so anrührt?”, fragte er. „Warum ist dein hýardor mehr an Asgaý Spagors Glück interessiert als an eigenem Verdienst?”
„Das kann dir Egnar besser erzählen als ich. Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen. Der teirand … nun, er ist ein lieber, weichherziger Junge. Ich glaube, wir haben Mitleid mit ihm. Und zugleich sind wir beunruhigt. Seine yarlay verlieren die Geduld mit ihm, und er versteht nicht, wie ernst es ist.”
„Sollten Schutzbefohlene Mitleid mit ihrem Schutzherrn haben?”
„Nein. Aber das ändert nichts daran, dass sich nichts ändern wird, solange er sich darauf verlässt, dass seine yarlay ihm alle Verantwortung abnehmen. Möglicherweise braucht er einfach einen Grund dafür, selbst teirand sein zu wollen.”
Darüber dachte der Schattensänger einen Augenblick nach. Kelwa schaute ihn nicht an, aber er spürte ihre Erwartung.
„Ich werde einen Grund finden.”
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