
Die Burg, auf der der teirand Asgaý Spagor residierte, wirkte auf den ersten Blick uninteressant. Auf den zweiten Blick bemerkte man, dass dem tatsächlich so war. Das Gebäude in den Dünen lag nur einen halben Tagesritt von der Hafenstadt Virhavét entfernt. Es bestand im Wesentlichen aus einem dreigeschossigen Wohngebäude mit aufgesetzten, zusätzlichen Türmchen an den Ecken, an das im spitzen Winkel Stallungen und ein Wirtschaftsgebäude angebaut waren. Alle diese Bauten waren schlicht und zweckmäßig, ohne Prunk. Die Gebäude mit den dicken Außenwänden aus verputztem Ziegelstein waren zugleich ihre eigenen Burgmauern, den Innenhof erreichte man durch ein Tor an der Landseite.
Dennoch bot der Herrschersitz einiges mehr an Wohnkomfort als so mancher Palast. Das hatte einen simplen Grund: Die Festung derer von Spagor war ein Neubau, der aus den Ruinen der ursprünglichen Bastion entstanden war, die in den Chaoskriegen ein Raub der Flammen geworden war. Das hatte zur Folge, dass die yarlay des teirand wesentlich imposantere und trutzigere, aber veraltete Burgen bewohnten. Die Herren von Spagor waren – in Generationen betrachtet – noch nicht lange an der Macht. In den Kriegswirren war damals der junge yarl Spagor, mynstir des verstorbenen alten teirand, dem der Krieg sämtliche Nachkommen auf einen Streich geraubt hatte, auf dessen Thron nachgerückt. Irgendjemand musste die undankbare Aufgabe bewältigen, in jenen schrecklichen Zeiten den Schutzbefohlenen einen Halt zu geben. Yarl Spagor machte seine Sache gut.
Den Mächten gedankt, war der ehemalige mynstir ein gerechter, kluger und diplomatisch handelnder Herr gewesen, unter dessen Hand wieder Stabilität und Frieden am Meer einkehrten. Der alte Wohlstand und Reichtum hingegen waren in dem teirandon im Norden nicht wieder in vollem Maße gegönnt. Einen Großteil davon hatte die florierende Stadt Virhavét abgefangen, die in kurzer Frist zu einem bedeutenden Hafen- und Handelszentrum geworden war. Virhavét war nicht so riesig und reich wie Aurópéa am anderen Ende der Welt. Aber das, so waren die Bewohner und vendyray von Virhavét überzeugt, wäre nur eine Frage der Zeit. Einige yarlmálon im Westen, die nach den Kriegen in Trümmern gelegen hatten (darunter das damalige yarlmálon Spagor), hatte die Stadt bereits verschlungen. Alles andere würden die Mächte regeln. Der junge teirand, so glaubte man in den Ratsstuben der Stadt, würde früher oder später den Anspruch auf sein Land gegen irgendetwas Nützliches tauschen. Es galt nur, den richtigen Moment abzupassen.
Besagter teirand, Asgaý Spagor saß zwischen den Zinnen des zweckmäßigen Wehrgangs auf dem Dach des Palastgebäudes, blickte auf die untergehende Sonne im Nordosten und fühlte sich poetisch. Er hatte eine Laute auf den Knien und zupfte beflügelt an den Saiten herum.
Yarl Alsgör Emberbey konnte das kaum mit ansehen, so sehr missfiel ihm der Anblick des jungen teirand. Seinen eigenen Söhnen, so die Mächte ihm in ihrer Gnade bald welche schenken sollten, würde er eine solche Nachlässigkeit nie und nimmer durchgehen lassen. Es war eine Schande!
Der mynstir wandte sich von seinem Herrn ab und schaute der Sonne hinterher. Von seiner eigenen Burg aus hätte er nun den Blick auf einen herrlichen Sonnenuntergang, auf das Wasser der Bucht, in diesen letzten Stunden des Lichtes klar wie goldener Honig.
Nicht, dass er nach all dieser Zeit davon noch still überwältigt gewesen wäre. Doch es war ihm zu Ohren gekommen, dass báchorkoray ausgerechnet sein yarlmálon aufgrund dieses Naturschauspiels als eines der schönsten an der Küste besangen. Aber spielte das eine Rolle, wenn die Ordnung der Dinge sich durch das Lotterleben der teirand so zu verschlechtern drohten? Dass man sich in den östlich gelegenen teirandon über seinen Herrn Gedanken machte, war bekannt. Die Mehrheit der teiranday und yarlay belächelte den jungen Regenten. Andere, auch wenn sie es nicht laut aussprachen, mochten … Gelegenheiten erkennen und nur noch nicht wissen, wie sich diese anpacken ließen.
Wie lange brauchte Althopian wohl noch, um seine Reise zu beenden? Die Zeit wurde knapp!
Alsgör Emberbey kannte nicht alle Details, die sich hinter der Abenteuerfahrt des jüngeren yarl verbargen. Er wusste, dass die yarlay von Wijdlant Bedarf an einer Zusammenkunft angemeldet hatten, offenbar an ihrer teiranda vorbei. Das war suspekt, denn Wijdlant galt seit langem als wunderlich isoliertes teirandon. Man hörte, dass es mehr und mehr verwahrloste und gerade noch im Stande war, seine Bewohner zu ernähren; andererseits auch zu vermeiden wusste, dass sich jemand in die Geschicke einmischte. Was für ein Gedanke, wenn die yarlay von Wijdlant ein ganz ähnliches Problem mit ihrer Herrin hätten wie er und Althopian mit dem ihren! Wenn sogar ihr mynstir bei der Sache mitmischte!
Alsgör Emberbey seufzte. Wie gut würde es ihm gefallen, sich einer Allianz mit den yarlay von Wijdlant anzuschließen. Die Herren von Emberbey hatten schließlich nicht über Generationen ihr Blut und Glück für ihre teiranday geopfert und schweres Leid und Unrecht dafür erdulden müssen, nur damit sich jetzt der amtierende Herrscher als verantwortungsloser Tunichtgut erwies.
Asgaý Spagor ließ sich die Brise durch seine blonden, zum Zopf gebundenen Haare wehen und schien von der resignierten Miene seines Gefolgsmanns gänzlich unbeeindruckt. Seit dem großen Wortgefecht, das Emberbey mit ihm ausgetragen hatte, hatte der junge teirand nicht mehr mit dem älteren Ritter gesprochen.
Im Nachhinein, so dachte Emberbey, hätte ihn sein unbeherrschtes Auftreten vor einem echten teirand umgehend den Kopf gekostet. Aber der junge Mann hier … der hatte lediglich verstört dreingeschaut und sich dann, die Tür hinter sich zuschlagend, in seine Gemächer verzogen, wie ein bockiger Knabe. Und er, der angesehene und respektierte yarl Emberbey hatte da gestanden, unter den peinlich berührten Blicken des Hausgesindes. Es war demütigend gewesen.
Bei den Mächten, sollten er und Althopian etwa ausbaden, was der alte teirand, möge er hinter den Träumen seinen Frieden finden, an seinem Sohn versäumt hatte, ihm einzubläuen?
Der yarl kam näher. Nein. Er wollte nicht ungerecht sein. Asgaý Spagor war kein schlechter Mensch, das ganz gewiss nicht. Aber ein teirand … nein, das war er auch nicht. Der junge Mann war gut erzogen und intelligent. Einen zuverlässigen Dienstmann, einen mynstir oder vielleicht Amtmann würde er abgeben. Möglicherweise auch einen passablen Musiker, wenn auch das Geklimper für Emberbeys Geschmack recht dissonant klang. Aber ein teirand … nein. Das war er nicht. Wenn er und Althopian sich noch so anstrengten – aus zartem Glas ließ sich kein Schwert schmieden.
„Kommt Ihr, um Euch zu entschuldigen, Emberbey?”, fragte Asgaý Spagor, ohne von seinem Instrument aufzublicken.
„Es war unbeherrscht von mir, Euch vor all den Leuten Vorhaltungen zu machen.”
„Oh. Gut. Ich verzeihe Euch den Auftritt. Und jetzt können wir die Sache wieder vergessen, ja?”
„Vergessen?”
„Ich vergesse, dass Ihr mich getadelt habt, und Ihr erinnert Euch daran, dass ich nie wieder davon hören will. Ich bin nicht mein Vater!”
„Das habe ich zu keiner Zeit behaupten wollen.”
„Dann ist es ja gut.”
Er klimperte weiter. Der yarl blieb ratlos eine Weile neben ihm stehen. Gedankenverloren betrachtete er den schwarzen Vogel, der sich auf dem Dach des Ecktürmchens niedergelassen hatte und den Schnabel unter den Flügel bettete. Bald wäre es zu dunkel zum Fliegen. Emberbey hätte sich auch gern bald schlafen gelegt. Aber diese Sache hier musste er heute noch regeln.
„Herr, ich möchte Euch um Urlaub ersuchen.”
„Den sollt Ihr haben, sobald Herr Waýreth wieder zurückgekehrt ist.”
„Herr, darauf kann ich nicht warten. Wenn alles wie verabredet geschehen ist, wird zur Mitte des nächsten Mondes das Schiff aus Ovéstola die Bucht passieren und die Dame absetzen. Der Anstand gebietet es, dass ich sie nach der weiten Reise selbst begrüße.”
„Ach, deswegen!” Das Gesicht des jungen teirand erhellte sich. „Ich hatte schon fast wieder vergessen, dass die Dame eingewilligt hatte, zu Euch zu kommen. Ihr solltet öfter über solche Herzensdinge reden.”
„Ich wüsste nicht, was ich darüber zu sagen hätte.”
„Also”, plauderte der teirand, „wenn ich meine hýardora erwarten würde, mir wurde das Herz übergehen vor Worten.”
„Wenn Ihr Euch hier und da ein wenig engagieren und Euch den Damen präsentieren würdet, dann würde ich Euch mit Freuden dabei zuhören.”
Der teirand errötete. „Ich weiß nicht recht …”
Alsgör Emberbey sah seine Chance. „Herr, es wäre Althopian und mir selbst eine Herzensfreude, Euch bei einem vásposar zu begleiten …”
„Ach, hört auf, Emberbey. Bei welchem Turnier habt Ihr Eure Dame denn beeindruckt?”
„Das ist etwas anderes. Für solche Dinge bin ich nicht mehr jung genug.”
„Und was hat Euch in Eurer Jugend gehindert?”
Der blödsinnige Schwur, den dein Vater uns abgenommen hat, Bürschchen, zuckte es durch Emberbeys Gedanken. Und das weißt du ganz genau!
„Es ist, wie es nun einmal steht. Aber es ändert nichts daran, dass ich der Dame Höflichkeit schulde. Ich habe nicht mehr so viel Zeit wie Althopian für solche … abenteuerlichen Dinge übrig.”
„Um der Mächte willen, meinetwegen. Dann packt Eure Sachen und bereitet der Dame ein herzliches Willkommen. Ich komme hier schon alleine zurecht.”
Das bezweifelte der yarl. Aber er verbiss sich einen Kommentar.
„Wie ist sie?”, fragte der teirand. „So unter uns?”
„Wer?”
„Die Dame, Emberbey. Eure künftige yarlara!”
„Ihre Mutter beschreibt sie mir als bescheiden, demütig und artig. Sie hat eine ausgezeichnete Erziehung und Bildung genossen.”
„Ist sie hübsch?”
„Dem Bild nach zu urteilen, das man mir zukommen ließ, haben die Mächte sie reichlich mit Liebreiz beschenkt.”
Der teirand wandte sich wieder dem Sonnenuntergang und der Romantik zu. „Ich glaube, ich könnte das nicht. Ich glaube, Liebe sollte anders aussehen.”
„Es ist keine Liebe”, sagte der yarl gleichmütig. „Möglicherweise wird daraus welche. Für den Moment ist es ein Arrangement, das mich und meinen maedlor viel Zeit und Diplomatie gekostet haben. Und der Dame wird es den Wohlstand und den Respekt bringen, den ich ihr bieten kann.”
Der junge teirand schwieg.
„Das Leben ist nicht so, wie es in … Romanen … beschrieben wird. Es gibt keinen fehl- und tadellosen Smaragdritter, keine vollkommene Rosendame. Keine von den Mächten bestimmte unsterbliche Liebe. Ich hoffe, diese Erkenntnis kommt Euch, bevor auch Euch nur noch diplomatische Korrespondenz übrig bleibt, um Euer Haus zu erhalten.”
„Nun haltet Ihr mir doch wieder einen Vortrag. Ich wette, Althopian würde anders darüber denken.”
„Nicht mehr. Ich war dabei, als er Euch mit flammender Rede überzeugen wollte, auf ein vásposar zu gehen und auf taube Ohren stieß. Ich weiß, dass er eine Liste derartiger … Lustbarkeiten führt und von jedem báchorkor aufdatieren lässt, den er findet; alles für den Fall, dass Ihr zur Besinnung kommt.”
„Was wollt Ihr beide eigentlich von mir? Ich bin kein Krieger! Und meine hýardora finde ich wohl selbst.”
„Aber ihr seid unser teirand! Bei den Mächten, begreift doch endlich, dass das auch ein klein wenig Verantwortlichkeit mit sich bringt! Und Ihr dazu beitragen solltet, dass man Euch kennen und ernst zu nehmen lernt.”
„Emberbey, Ihr fangt schon wieder Streit mit mir an!”
„Solange ich es bin, der sich streitet”, brach es aus dem mynstír heraus, „soll es gut sein. Aber wollt ihr warten, bis Rodekliv oder Ferocrivé mit ihren Leuten hier vor den Mauern auftauchen?”
„Ihr seht Gespenster! Warum sollten die Herren das tun?”
„Weil ich nicht immer hier sein werde, Majestät! Und Althopian, so er von seine Reise zurückkehrt, auch nicht. Wer wird für Euch einst die Kastanien aus dem Feuer holen, das andere entzünden mögen?”
Asgaý Spagor erhob sich. „Ich habe niemanden darum gebeten, der teirand zu sein. Wenn es möglich wäre, könnte diese Ehre von mir aus haben, wer will. Ihr vielleicht? Althopian? Nur zu! Vielleicht hätte ich dann endlich meine Ruhe vor euch!” Er packte seine Laute und schritt an dem yarl, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. „Gute Reise, Emberbey. Grüßt die Dame von mir.”
Er verschwand im Turmeingang und schlug die Tür hinter sich zu. Yarl Emberbey brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Dann nahm er den Weg durch den gegenüberliegenden Turm und ließ den schlafenden Raben auf dem Dach allein zurück.
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