
Am nächsten Abend kämmte ich der teiranda wieder die Haare. Ich spähte dabei abwechselnd auf Yalomiros Spiegelbild, das ganz offensichtlich daran war, seinen Verstand zu verlieren. Er lächelte verklärt und streckte sich etwas entgegen, was nur er sehen mochte. Sein Blick zuckte unruhig herum. Immer dunklere Schatten erschienen ihm an Kinn und Wangen, beide zerschrammt und grau von getrocknetem Blut von den Gelegenheiten, bei deren er in die Spieße aus Gold gestürzt war. Ich ahnte, dass ihm die Beherrschung seines eigenen Körpers immer weiter entglitt. Dass irgendetwas versuchte, aus seiner Selbstdisziplin auszubrechen.
Ich dachte an meinen Plan. Es war soweit. Ich musste nur den passenden Moment abwarten.
„Was kann ich tun, um dem yarl zu gefallen?”, fragte die teiranda.
„Ich bin sicher, dass er sich auf der Stelle in Euch verlieben wird”, sagte ich und kam mir schlecht dabei vor, so oberflächlich über Waýreth Althopian zu reden. Obwohl ich selbst erlebt hatte, wie er binnen Stunden unsterblich sein Herz an die yarlara verloren hatte, war ich überzeugt davon, dass er nicht leichtfertig mit Liebesdingen umging. Aus dem Kitschroman vom Smaragdritter und der Rosendame (den ich zwischenzeitlich dreimal gelesen hatte) hatte ich gelernt, dass Liaisons unter Adligen eine ziemlich komplizierte Angelegenheit waren. Wenn es zwischen Althopian und der Dame gefunkt hatte, wenn die beiden einander tatsächlich als von den Mächten füreinander bestimmte hýardoray erkannt hatten, wäre dies der Auftakt zu einem hochkomplexen Werben nach höfischen Traditionen. Von den Details verstand ich zwar nichts, aber sicher war es nicht üblich, dass ein Herr oder eine Dame, selbst wenn sie eine teiranda war, einfach so beschloss, einen ihr völlig fremden Menschen zu betören.
Hatte sie so etwas nötig? Wie verzweifelt musste sie sein! Wie wenig dieses plötzliche Interesse an einem Mann zu ihr passte! Ich fragte mich, ob das damit zusammenhängen mochte, dass Gor Lucegath nicht anwesend war.
Doch Waýreth Althopian war meine geringere Sorge. Ich zupfte eine Spange aus ihrer Frisur, um einige Strähnen umzustecken.
„Hast du denn nicht irgendetwas über ihn in Erfahrung bringen können? Etwas Privates, womit ich ihn überraschen könnte?”
„Etwas Privates?”
„Ja. Weißt du etwas, woran er Vergnügen findet? Worüber er gern redet?”
Ich dachte nach. Dabei wurde mir klar, wie wenig ich über Waýreth Althopian wusste, und das, obwohl Isan damals ununterbrochen von ihm geschwärmt hatte. „Ich weiß nicht recht. Ich sah ihn einmal zum Zeitvertreib mit einem anderen Ritter fechten. Ich glaube, er wollte die … Umstehenden beeindrucken. Ich hörte, er sei der Favorit bei jedem Turnier, an dem er teilnimmt.”
„Ach, Turniere.” Sie seufzte und ihr Blick wanderte ins Leere. „Wie lange ist es her?”
„Eure yarlay brennen doch bestimmt auch darauf, sich mit anderen Herren zu messen”, versuchte ich zu plaudern.
„Meinst du?”
„Aber ja. Vielleicht kommt Ihr darüber ins Gespräch?”
„Ich erinnere mich nicht, wann einer meiner Ritter sich zuletzt zu meinem Ruhm irgendwo präsentiert hätte.” Sie nahm einen ihrer kunstvoll geschnitzten Kämme zur Hand und spielte geistesabwesend damit.
„Mindestens Herr Andriér muss für einmal Euch gekämpft haben.”
„Wann soll das gewesen sein?”
„Wisst Ihr das nicht?”, fragte ich vorsichtig.
Ihr Blick verschwamm. Einen Augenblick lang schien sie sich ganz in ihren Gedanken zu verstricken.
Jetzt! Ich atmete tief ein und ließ die Haarspange fallen.
„Ich werde ihn wohl danach fragen müssen”, redete sie weiter, während ich am Boden herumkroch, um den Haarschmuck wieder aufzuheben. „Es ist offenbar tatsächlich aus meiner Erinnerung entschwunden. Vielleicht sollte ich selbst einmal wieder ein Fest ausrichten. Was meinst du?”
Ich tauchte wieder aus vom Fußboden auf. „Sicher”, sagte ich unverbindlich. „Das wäre bestimmt eine schöne Abwechslung für Eure Leute.”
„Ob Meister Gor es mir erlaubt?”
Nein, dachte ich. Aber ich antwortete ihr etwas anderes. „Ihr seid die teiranda. Ihr könnt tun, wonach auch immer Euch ist. Das habt Ihr mir selbst gesagt.”
Darüber schien sie nachzudenken. Ich steckte die Spange fest. Mein Blick fiel auf Yalomiro, in unerreichbarer Ferne hinter dem Glas. Er stand plötzlich ruhig. Sein Blick war in sich gekehrt, als sänne er über etwas nach, das ihn vollständig in Anspruch nahm, so sehr, dass er für den Moment keine Schmerzen mehr spürte. Aus irgendeinem Grund empfand ich das als beängstigend. Ich fühlte mich elend.
Ich kämmte und flocht ihr Haar und bemerkte erst, dass ich weinte, als ihr Blick im Glas unverwandt meine eigene Spiegelung traf.
„Warum die Tränen Ujora?”
Ich wischte mir durchs Gesicht. „Verzeihung. Ich bin … traurig.”
„Einfach so?”
Nein, natürlich nicht einfach so. Aber wie hätte ich es ihr erklären können? „Ja. Einfach so.”
„Ich mag keine Tränen, Ujora. Hör auf damit. Niemand darf in meiner Gegenwart weinen.”
Sie erhob sich und wandte sich vom Spiegel ab, unterbrach jäh meinen Blick in Gor Lucegaths Domäne.
„Verzeihung.” Ich war erschrocken über die Härte, mit der sie sprach.
„Ich habe selbst viel zu viel geweint. Meister Gor wird schon dafür sorgen, dass deine Traurigkeit ebenfalls versiegt”, fügte sie etwas milder hinzu. „Mir hat er diesen Dienst erwiesen.”
„Meinetwegen muss er sich diese Mühe nicht machen…”
„Oh, ich glaube, es ist ihm keine Mühe, sondern ein Anliegen.” Sie lachte. „Wie oft hat er gesagt, dass er die Traurigkeit verbannen will aus dem Weltenspiel.”
Nun war ich ernsthaft verwirrt.
Auch sie stutzte und schien einen Augenblick lang in sich hineinzuhorchen. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Geh”, sagte sie milde. „Komm erst wieder, wenn du bessere Laune hast.”
Ich verneigte mich und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, als der Wächter mir die paar Schritte hinüber in meine Stube eskortierte. Meine Hand hielt ich ganz locker gegen die Falten meines Kleides gepresst. Die Spule tanzte sacht zwischen meinen Fingern.
***
Schmetterlinge … sie waren so hübsch, so zart und den Blumen immer so nah … ob schon ein Schattensänger vor ihm auf die Idee gekommen war, in die Form eines Schmetterlings zu schlüpfen?
Er taumelte schwerelos im Geist über eine bunte Blumenwiese im Glanz des Frühlings, auf Höhe der Blüten und an sich wiegendem Gras vorbei, und alles an ihm war die unbändige Freude eines flüchtigen Moments ohne Sorgen. Das war leicht und interessant. Der winzige Schmetterlingskörper war ganz anders als seine gewohnten Formen, nichts von der Kraft des Pferdes, vom Geschick der Katze, vom zielstrebigen Flug des Raben. Der Schmetterling war so zerbrechlich, unbeschwert und fein anzusehen, dass es eine Ungeheuerlichkeit war, dass sich noch niemand vor ihm an dieses Kunststück gewagt hatte.
Nun gut, die Schwierigkeit daran war offensichtlich. Dieser hier, sein alter, sein geschundener Körper aus Fleisch, Knochen und Schmerz war viel zu groß und zu schwer, um ein zierliches Insekt zu werden. Aber wenn er nur seinen Geist transformierte und von dem Vehikel, das Yalomiro Lagoscyre genannt wurde, gänzlich löste, seinem Leib davonflog…
– Und was könnte so ein kleiner Seelenschmetterling ausrichten, um Gor Lucegaths absonderliche Pläne zu durchkreuzen? Könnte ein kleiner Schmetterling das ay’cha’ree verteidigen? Was willst du machen? Dich daraufsetzen und grimmig mit den Flügeln schlagen?
Yalomiro schreckte auf. Das, was in der Leere war und zu ihm sprach, war keine körperlose Stimme.
Er war es selbst. Er stand sich in Person gegenüber, aber er war gealtert. Sein Ebenbild trug die Gewänder eines ytra und den Stab in der Hand, jenen, der einst Ovidáol Etaímalar gehört hatte. Die Waffe, die er im Etaímalon an ihrem Platz gelassen hatte und die damals in Aurópeá so viele Leben gefordert hatte. Warum schleppte er dieses alte, unglückselige Ding mit sich? Was hatte der Wahnsinn mit ihm vor?
„Du bist nicht echt”, sagte Yalomiro müde. „Du bist eine Halluzination, wie die anderen auch.”
– Ich bin eine Möglichkeit. Ich bin ytra Yalomiro Lagoscyre. Ich bin der, der deine Aufgabe erfolgreich abgeschlossen hat.
„Und wie hast du das fertiggebracht?”, fragte Yalomiro erschöpft.
– Das wirst du herausfinden.
„Ich werde gar nichts herausfinden. Ich bin zerbrochen, habe keine Kraft mehr! Gor Lucegath hat mich besiegt. Sieh mich doch an!”
– Nein, sieh du mich an. Sieh, was aus dir werden kann, sofern du jetzt nicht anfängst, dich in flüchtigen Phantasien und Selbstmitleid aufzulösen!
Yalomiro schwieg. Das Trugbild neigte sich zu ihm vor, über die Goldspitzen hinweg. Seine eigenen Augen strahlten im Glanz einer vollkommenen, einer makellosen maghiscal, aber es war noch etwas anderes in ihnen. Etwas Fremdes, etwas, das allen Schattensängern vor seiner Zeit gefehlt hatte.
– Ich bin ein hýardor. Ich bin ein Vater. Ich bin ein Freund.
„Ein Vater? Wie…”
– Du musst das ay’cha’ree bergen, damit du zu dem wirst, was ich sein kann.
„Aus eigenem Willen muss ich es tun. Nicht, weil es mir jemand aufträgt.”
– Genau genommen, trägst du es dir gerade selbst auf. Aus eigenem Willen.
„Was?”
– Ich will, dass ich es getan haben werde.
Yalomiro schaute das Gaukelbild, das da mit Ovidáols todbringendem Stab außerhalb der Goldspitzen stand, konfus an. Er war zu ermattet, um diesem Argument zu folgen. Also nahm er es hin.
– Du tust es, weil du alles in Ordnung bringen willst. Und du solltest dir damit Mühe geben. Wenn du versagst, werde ich nicht sein.
„Wie? Sag mir, was ich machen muss, damit ich zu dir werde!”.
Die Erscheinung des älteren, des weiseren und machtvollen Schattensängers schaute ihm in die Augen. Yalomiro konnte sich nicht von seinem eigenen Blick lösen. Der war gestreng, fordernd, und zugleich gütig und auch ein klein wenig amüsiert.
– Gib dich nicht auf. Was würde Meister Askýn von dir denken, wenn er dich so sehen würde? Was würde deine ujora von dir denken, wenn du vor dem Rotgewandeten zu Fall kommst? Begreifst du nicht, wie mächtig ihr seid, indem ihr einander vertraut? Einander ergänzt? Einander liebt?
Goldenheißer Schmerz jagte durch seine Glieder. Yalomiro schreckte hoch, spürte das Metall in sein Fleisch dringen und Wunden reißen. Erneut hatte der Schlaf nach ihm gegriffen und ihn zu Fall gebracht.
Er war allein. Er hatte geträumt. All das war nicht wahr gewesen, ein Wunschdenken, das außer Kontrolle geriet angesichts der Verzweiflung, die ihn nun wieder traf und über ihn hineinbrach wie ein Steinschlag. Yalomiro schrie seine Qual heraus, und Pianmurít verschluckte sie gierig.
Es war die Nacht des elften Tages.
***
Der Weg zur Burg von Wijdlant zog sich zäh dahin. Die schlammigen Felder und halbverdorrten Waldstücke, die sie durchquerten, wirkten verwahrlost, als hätten die Pflanzen und Bäume keine rechte Lust zum Wachsen. Kamen sie an Herden vorbei, sahen Vieh und Geflügel zwar nicht krank, aber abgestumpft aus. Menschen, die ihnen entgegen kamen, waren wortkarg und schienen keine rechte Lust zu haben, mit dem Ritter zu reden.
Am Mittag des zweiten Tages, nachdem sie das yarlmálon Altabete verlassen hatten, begann es wieder zu regnen. Auf dem unbefestigten Weg sammelten sich Pfützen und Schlamm.
Isan, die immer noch nicht verwunden hatte, dass yarl Altabete seine hýardora so lange Zeit allein auf ihrer Burg zurückgelassen hatte, zog die Kapuze ihres wollenen Wetterumhangs in die Stirn. Das Maultier war klatschnass, der Sattel rutschig und kein Unterschlupf oder gar eine Reiseherberge in Sicht.
„Habt Ihr geahnt, wie es hier aussieht?”, fragte sie.
Waýreth Althopian antwortete nicht. Vielleicht trommelte der Regen zu laut auf seinem Helm, sodass er sie nicht hörte. Isan dachte schon nicht mehr an ihre Frage, als er unvermittelt entgegnete: „Außerhalb dieses teirandon, so scheint es mir, muss man andere Erinnerungen an … das hier zu haben.”
„Wie meint Ihr das?”
Er wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Ich kann nur für mich und meinen teirand sprechen”, sagte er. „Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass es sich in den anderen angrenzenden yarlmálon ähnlich verhalten dürfte. Wenn ich yarlay aus Wijdlant irgendwelchen Gelegenheiten begegnet bin, hatte ich nie den Anlass zu denken, hier lägen Dinge im Argen. Sie haben in bunten Farben von ihren schönen Burgen, fruchtbaren Ländereien und mit großer Liebe von ihren Damen und Familien gesprochen. Daap Grootplen hat nahezu geprahlt mit seinen prächtigen Feldern und Andriér Altabete war voller zärtlicher Worte über seine Dame.” Er zögerte. „Entweder waren das alles Großtuereien vor den Rittern anderer teiranday. Oder die Ritter waren nicht bei Sinnen. Oder sie standen unter einem Bann.”
„Und was haltet Ihr für wahrscheinlicher?”
„Nun, wenn Magier beteiligt sein sollten, halte ich jegliches für möglich.”
„Meint Ihr, der Schattensänger hat Böses mit der teiranda vor?”
„Hast du nicht zugehört, als die yarlara von einem Lichtwächter sprach?”
Isan wartete.
„Es würde mich nicht minder wundern, wenn dieser Rotgewandete eben jener wäre, der deinem teirand zu übel zugesetzt und wohl auch die Gefährten des camat’ay zur Strecke gebracht hat.”
„Wie soll das zusammenpassen, Herr?”
„Ich weiß es nicht. Wir werden es erfahren. Sag, Mädchen, erinnerst du dich, jemals Altabete, Grootplen oder Moréaval, oder irgendeinen Gesandten aus Wijdlant in Valvivant gesehen zu haben?”
„Nein. Seltsam, nun da ihr es sagt…”
„Wie lange hast du dort gelebt?”
„Einige Sommer, Herr. Ich bin zu der alten Dame Verta gegangen, weil sie einen trefflichen Ruf als doayra hat.”
„Sagtest du nicht, du kämest vom Meer?”
„Aus einem Dorf in der Nähe von Virhavét. Gar nicht weit weg vom teirandon Spagor, aber westlich davon..”
„Ah. Deshalb wusstest du so gut über mich Bescheid.”
„Wer würde nicht den Namen des rühmenswertesten Ritters der ganzen Gegend kennen?”
„Du schmeichelst mir schon wieder.”
„Ihr müsst nicht bescheiden sein. Jedenfalls hatte Verta als junge Frau einmal einen großen Dienst für einen reichen vendyr [Kaufmann] aus Virhavét getan, und so war sie dort bekannt.”
„Und weshalb hast du es nun so darauf angelegt, deine Herrschaft zu wechseln, von einem prächtigen und reichen teirandon hin zu einem bescheidenen Gefolgsmann eines unbedeutenden teirand?”
„Es erschien mir ein Wink der Mächte, dass Ihr nach Valvivant gekommen seid. In Valvivant … Herr, einem Gast mag es nicht auffallen. Aber in Valvivant … es war sterbenslangweilig. Es ist schön und bequem und es gibt keine Sorgen. Aber es passiert nichts. Es ist, als bliebe die Zeit stehen. Ich hatte Sehnsucht nach Veränderung.”
Der Ritter schwieg wieder eine Weile. Er dachte nach.
„Möglicherweise”, meinte er dann, „liegt auf Valvivant ein ganz ähnlicher Fluch wie auf diesem teirandon. Das würde die Furcht des teirand erklären. Mit etwas Glück wissen wir heute Abend mehr. Mögen die Mächte geben, dass all das nicht so viel Veränderung bringt, dass du Sehnsucht nach der Langeweile bekommst.”
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