Wenn es mir gelang, während der Besuche bei der teiranda (die ich einzig unternahm, um Gewissheit zu haben, dass Yalomiro noch lebte) Haltung zu bewahren, weinte ich mich anschließend in meinem Zimmer in Verzweiflung, Wut und Selbstvorwürfe.

Ich machte mir Vorwürfe und war doch zugleich gelähmt. Mit jedem Blick, den ich in den Spiegel erhaschte, wurde mein Verlangen, ihm zu helfen, irgendetwas zu tun, immer unerträglicher. Aber was konnte ich ausrichten, solange er in Pianmurít der Welt entzogen war?

Die Erkenntnis, dass ich definitiv nichts unternehmen konnte, wurde zur immer größeren Qual. Ich saß in dieser Kammer fest wie in einem Goldfischglas, und ganz ähnlich fühlte ich mich. Ich wurde versorgt, aber ich konnte mich nicht verständlich machen, oder, falls die Leute meine Worte verstanden, doch nicht auf ihre Hilfe hoffen. Pianmurít – was immer das eigentlich war – war so unerreichbar für mich wie meine eigene Welt. Alles, was in meiner kurzen Zeit bei Yalomiro in mir in Bewegung geraten war, wie ein Samenkorn, das vorsichtig seine erste Wurzel ausstreckte, wagte sich nicht weiter voran. Jemand hatte eine Steinplatte genau an die Stelle gelegt, wo der Spross aus der Erde gebrochen wäre.

Wenn ich mich dabei in einen erschöpften Schlaf geweint hatte, ging die Entmutigung weiter. Ich sah ihn im Traum vor mir, wie er entkräftet vor den Goldspießen schwankte. Ich streckte meine Hände nach ihm aus und versuchte, ihn aufzurichten, ich schob und zerrte und konnte ihn doch nicht festhalten. Meine Hände waren glitschig von silbernem Blut und seine Augen so glanzlos, als sei er längst tot, oder losgelöst von seinem Verstand.

Es war nicht zu ertragen, und ich dämmerte hinaus als diesem Schlaf, der nur noch Mutlosigkeit und Ohnmacht brachte. Das Windlicht neben dem Bett funzelte trübe vor sich hin. Ich wagte es nicht, bei Dunkelheit zu schlafen. Die Finsternis in Wijdlant hatte weder etwas mit dem Sternenhimmel noch den mysteriösen Schatten zu tun, die ich kennengelernt hatte.

Ich dachte an die Nacht, in der ich mit Yalomiro getanzt hatte und dann Hand in Hand mit ihm eingeschlafen war. An dieses Empfinden vollkommenen Glücks und Geborgenheit und den Moment purer Ekstase. Nie in meinem Leben hatte ich zuvor ein so großes Gefühl in mir gehabt, und keines, das so sehr weh tat.

Warum weinst du?, fragte die weibliche Stimme in meinem Kopf. Ich blickte auf. Die Katze saß im Fenster und schaute mich unverwandt an.

„Du bist wieder da?”, kam es mir über die Lippen, vielleicht etwas zu überrascht. Es war mir peinlich, dass sie mich so verheult sah.

Arámaú räkelte sich und stieg dann ohne Eile auf den Sessel neben dem Fenster herab. Ich sah sie als Schemen im Flackern der kleinen Flamme. Wohin sollte ich denn gehen? Sie setzte sich und legte ihren Schwanz elegant um ihren Körper. Hier gibt es kein Ziel, zu dem es mich hinzieht.

„Ich hatte nicht erwartet, dass du zurückkommst”, gestand ich. „Ich hatte mir fast eingebildet, dass ich von dir nur geträumt habe. Du warst lange weg.”

Und du warst bei der teiranda. Warum gehst du freiwillig zu ihr? Paktierst du mit ihr und dem Rotgewandeten oder unterwirfst du dich ihnen? Was soll ich davon halten?

Ich zögerte. Einen Moment lang fragte ich mich, ob es richtig wäre, mein Geheimnis mit ihr zu teilen. Im gleichen Atemzug erschrak ich über diesen Gedanken. Natürlich musste ich ihr erzählen, dass ich aus purem Zufall eine Möglichkeit gefunden hatte, nach Yalomiro zumindest zu sehen! Immerhin war sie wohl diejenige, die etwas mit alledem anzufangen wusste!

„Die teiranda hat einen Zauberspiegel … oder sowas Ähnliches.”

Ich weiß.

„Tatsächlich?”

Sie benutzt das verfluchte Ding seit Ewigkeiten. Es tut ihr nicht gut. Es zehrt an ihrem Verstand.

„Dann weißt du auch, dass man durch den Spiegel Yalomiro sehen kann.”

Nein.

„Nein? Was heißt das?”

Das heißt, dass ich davon nicht wusste. Immerhin treibe ich mich nicht täglich im Gemach der teiranda herum. Dazu habe ich keinen Anlass.

„Dann geh und schau nach, wenn du mir nicht glaubst!”

Warum denkst du, dass ich dir nicht glaube? Nun klang sie fast ein wenig amüsiert. Ich bin mit dem Wesen von Spiegelmagie durchaus vertraut. Aber es wird bei mir nicht funktionieren.

„Wie kannst du das wissen?”

Diese Art von Zauberspiegel zeigt nur, was derjenige, der den Bann gewirkt hat, jemanden sehen lassen will. Und da der Rotgewandete nicht weiß, dass ich hier bin, wird der Spiegel für mich schlicht leer sein.

„Das klingt kompliziert.”

Nun ja. Magie ist nicht so schlicht gewirkt, wie Unkundige sich das vorstellen mögen.

„Sicher. Entschuldige.”

Magische Spiegel sind so gefährlich, dass selbst Yalomiro davor Respekt hatte. Sie sprang zu mir hinüber aufs Bett. Also weinst du um seinetwillen? Wie steht es um ihn? Was will der Rotgewandete, das du siehst?

„Was er will, das ich sehe?”

Sie knurrte ungeduldig. Natürlich. Glaubst du, der Rotgewandete lässt in diesen Mauern irgendetwas aus Zufall geschehen? Wenn er nicht gewollt hätte, dass du den Spiegel findest, dann hätte er den Zugang in das Gemach der teiranda zugesperrt.

Einen Moment konnte ich es noch zurückhalten. Dann brach es aus mir heraus. Artikuliert reden konnte ich nicht. Stattdessen heulte ich erneut los.

Arámaú unterbrach mich dabei nicht. Sie legte sich nieder und kreuzte ihre Vorderpfoten unter der Brust. So wartete sie, bis ich mich ein klein wenig beruhigt hatte. Seltsam. Es tat gut, dass sie da war und mich nicht unterbrach, weder um mich zu trösten noch um mich aufzufordern, mich zusammenzureißen. Letzteres war ich gewohnt, seit ich denken konnte.

Als die Tränenflut sich ihren Weg gebrochen hatte und sich nach und nach zu einer immer noch aufgewühlten, aber kontrollierbaren Woge abmilderte, gelang es mir, Arámaú meine Hilflosigkeit zu schildern. Ich beschrieb ihr, wie Yalomiro litt und wie hilflos und verzweifelt meine Untätigkeit mich machte.

„Ich sehe das alles und kann nichts tun!”, heulte ich in mein Kissen.

Was würdest du tun wollen?

„Das letzte Mal habe ich mit einem lächerlichen Messerchen versucht, Fesseln durchzuschneiden, obwohl mir klar war, wie schwachsinnig allein der Versuch war. Aber es war etwas! Verstehst du? Es war Schwachsinn, aber es war etwas!”

Sie antwortete nicht. Vielleicht war sie zu höflich, um etwas zu sagen.

„Ich komme mir so unsagbar dumm und unnütz vor”, schluchzte ich schließlich. „Ich sitze hier herum und mir fällt nichts ein, was ich tun könnte, um ihm zu helfen! Ich weiß ja nicht einmal, wo genau er ist!”

Ohne den Rotgewandeten kannst du nichts tun. Du musst warten und hoffen, dass Yalomiro durchhält, womit auch immer Gor Lucegath ihn schindet. Du hast keine Schuld daran, die du dir vorwerfen müsstest.

Ich schniefte und wischte mir die Augen.

Aber welchen Nutzen hat der Rotgewandete daran, dich zu quälen?, fragte Arámaú zu meiner Überraschung,

„Mich? Wie meinst du das?”

Er interessiert sich für dich. Wenn dem nicht so wäre, hätte er dich längst hinter die Träume gebracht oder einfach laufen lassen. Ujora, Tag um Tag habe ich mit angesehen, wie Gor Lucegath Unkundige peinigt, indem er an ihren Gefühlen zerrt. Der arme yarl Moréaval zum Beispiel fantasiert jede Nacht gnadeflehend für seine Mutter, und … nun, von den meisten Leuten hier erwartet Gor Lucegath Respekt. Von den yarlay verlangt er Gefügigkeit. Was will er von dir? Was hast du ihm anzubieten?

„Ich weiß nicht. Ich denke nicht, dass ich irgendetwas habe, was er gebrauchen könnte. Ich bin die ganze Zeit nur herumgelaufen und habe versucht, zu verstehen, wo ich gelandet bin.”

Da muss mehr sein. Früher oder später wird er deutlicher werden.

Ich zögerte, sie danach zu fragen. Aber anders kamen wir nicht weiter. „Arámaú … kannst vielleicht du nachschauen, ob er überhaupt in seinem Turm ist?”

Der Turm ist mit sehr starker Magie geschützt. Unmöglich, sich unbemerkt zu nähern. Man müsste lebensmüde sein, daran zu denken.

„Oh”, machte ich enttäuscht. „Schade.”

Ich habe es nichtsdestoweniger schon versucht. Was denkst du, wo ich die letzten Tage gewesen bin!

„Du warst im Turm?”

Ja. Ich habe mich sogar ein Stück weit die Treppe hinauf gewagt. Aber ich musste immer wieder auf halbem Weg umkehren. Die Barriere ist undurchdringlich, und ich wage es nicht, ihn aufzustören.

Auf eine merkwürdige Weise tröstete mich diese Bemerkung. Ich war also nicht die Einzige, deren Ideen zum Scheitern verurteilt waren.

Um Yalomiro zu helfen, musst du vielleicht irgendetwas machen, was den Rotgewandeten auf den Plan ruft.

„Wie meinst du das?”

Du musst etwas anstellen, um Gor Lucegath aus seinem Gelass herauszulocken. Etwas, was er nicht ignorieren kann.

„Was denn?”

Sie legte das Kinn auf die Matratze und schaute mich mit großen grünen Augen unverwandt an. Keine Ahnung. Ich bin nur eine camatay’ra mit Ideen, die immer fehlschlagen. Vielleicht hast du mehr Glück und Verstand als ich. Vielleicht fällt dir ein Plan ein.

„Machst du dich gerade lustig über mich?”

Nein, antwortete sie ernst. Es ist nichts Amüsantes an dieser Sache. Aber wir können Yalomiro nicht beistehen, bevor der Rotgewandete sich nicht von der Position bewegt, an der er gerade verweilt. Er allein entscheidet, wann es weiter geht. Bevor er sich nicht rührt, bleibst du hier und Yalomiro in Pianmurìt gefangen.

„Aber was kann ich tun? Ich sitze hier in diesem Zimmer wie in einer Abstellkammer und komme nicht zum Zug.”

Glaube mir, ujora, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, dass ich selbst das Spiel in Gang setzen könnte, ich hätte es augenblicklich getan. Es ist nicht gut, dass Unkundige darin mitmischen. Das gibt immer nur Ärger und Hindernisse.

Wahrscheinlich hatte sie das gar nicht abfällig gemeint. Aber es verletzte und ärgerte mich zugleich.

„Denkst du, ich wäre zu dumm, um mir etwas Hilfreiches einfallen zu lassen? Nur weil ich nicht zaubern kann?”

Sie schwieg, was mich noch mehr reizte. Doch noch bevor ich etwas Unsachliches äußern konnte, gestand sie: Ich habe Yalomiro damals im Stich gelassen, obwohl ich zaubern kann. Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, das nun nicht gutmachen zu können?

„Du hast ihn im Stich gelassen? Was heißt das?”

Wenn ich getan hätte, was er mir aufgetragen hat, wäre all das hier vielleicht nicht geschehen. Ich bin zur Unzeit weggelaufen und alles war zu spät.

Aha. Das war ja eine ganz neue Information. Wenn sie Yalomiro in der Not nicht beigestanden hatte, gab es vielleicht noch mehr, was ich wissen sollte.

Im gleichen Moment erschrak und schämte ich mich für diesen winzigen Anflug von Zufriedenheit darüber, dass Arámaú auch nicht perfekt war.

„Warum bist du weggelaufen, als es ernst wurde?”

Angst. Dumme, törichte Angst. Zuerst hatte ich Angst, mich vor meinem Meister lächerlich zu machen. Danach hatte ich Angst um mein Leben, als ich begriff, was mein Verzagen uns alle kosten würde.

Ich schaute verlegen beiseite. Was Angst war, wusste ich. Und sich lächerlich zu machen … oh ja. Darin hatte ich viel Erfahrung. Obwohl ich gern gewusst hätte, was genau damals vorgefallen sein mochte, fragte ich nicht nach. Das erschien mir indiskret.

Möglicherweise, sagte sie, habe ich ähnlich schmerzhafte Träume wie du, ujora.

Das machte mich nachdenklich. Arámaú hatte viele Jahre an Yalomiros Seite verbracht. Sie war vertraut mit ihm. Und obwohl sie so gefasst, so sachlich blieb und sich keine Regung anmerken ließ, spürte ich, wie nahe sie ihm stehen mochte. Ich versuchte, sie mir in einer menschlichen Gestalt vorzustellen, aber das war keine gute Idee. In meiner Einbildung nahm sie die Züge von jemand an, auf den ich lange schmerzhafte Zeit sehr eifersüchtig gewesen war. Das war nicht gerecht.

„Arámaú”, nahm ich all meinen Mut zusammen. „Wer bist du eigentlich? Ich habe Yalomiro danach gefragt, aber er ist mir ausgewichen.”

Wer ich bin?

Liebst du ihn?”

Sie lachte leise, als hätte ich etwas unsagbar Albernes gesagt. Ich schaute bestürzt zu ihr hinüber.

Du weißt nichts über unseresgleichen, nicht wahr?

„Ich weiß vielleicht nicht alles. Aber Yalomiro hat mir … eine Menge erklärt”, behauptete ich.

Ich kann mir gut vorstellen, dass er es bei gewissen Themen gar nicht erst versucht hat.

„Was …”

Es steht mir nicht zu, mich in das einmischen, was auch immer zwischen dir und ihm besteht. Aber ich hätte gern Klarheit, was ich von dir zu halten habe.

„Ich bin auf eurer Seite. Auf der Seite der Schattensänger, meine ich.”

Das ist ausgesprochen ungewöhnlich für ein unkundiges Wesen. Aber vielleicht ist es ein Vorteil. Lass dir etwas einfallen, mit welchem Köder du den Rotgewandeten zum nächsten Schritt bringst. Ich bin sicher, dass er nur darauf wartet, dass du etwas versuchst. Und wenn es Schwachsinn ist.

***

Wenn er diesen Körper aufgeben musste, so beschloss Yalomiro in der zehnten Nacht, dann wollte er ein Baum sein.

Bäume waren gut. Bäume waren phantastisch. Bäume vollbrachten lauter heilige Dinge zum Frieden der Kreaturen und zum Wohlgefallen der Mächte. In ihren Kronen lebten die singenden Vögel und die summenden Insekten. Im Sommer schirmten sie das, was zu Ihren Füßen wuchs und an ihrem Stamm Zuflucht suchte, vor der brennenden Hitze Pataghíus, der Macht des helllichten Tages und des Sonnenscheins ab. Außerdem atmeten sie. Hungrigen Kreaturen gaben sie Nahrung.

Ja, sobald er diese Hülle nicht mehr brauchte, die ohnehin aus nichts anderem mehr bestand als aus Müdigkeit und Schmerzen, würde er sich umgehend in einen Baum verwandeln, den schönsten und fruchtbarsten Baum von Boscargén. Dann würden seine zitternden Beine, seine geschundenen Füße sich mit der warmen, feuchten, heilenden Erde verbinden und seine Wurzeln sich ausbreiten und mit dem großen Netz verbinden. Er würde seine gebundenen Arme erheben und zu Ästen und Zweigen werden lassen, in denen sie ruhen, leben und Nester bauen konnten, die Vögel und die Käfer und Bienen und die Schmetterlinge…. Schmetterlinge … die wunderbaren schwarzen Schmetterlinge …