Anfangs hatte ich noch befürchtet, die teiranda habe ihr Versprechen vergessen. Aber nein – am nächsten Abend, nachdem ich bereits meine Mahlzeit bekommen hatte, tauchte eine ihrer Zofen auf und bedeutete mir, mitzukommen. In Begleitung des Mädchens waren es nur wenige Schritte bis zu Kíaná von Wijdlants Gemach. Diesmal stand wieder ein Wächter davor, der mich jedoch ohne Aufhebens und mit einer kleinen Verneigung eintreten ließ.

Sie hatte auf mich gewartet, saß entspannt an einem Tischchen, hatte einen Krug Wein neben sich und für mich einen Becher parat. „Setz dich”, forderte sie mich gut gelaunt auf.

Ich schaute hinüber zum Spiegel. Der war blind. Tatsächlich komplett blind.

„Es ist etwas Erfreuliches passiert”, erklärte sie und goss mir ein.

Du liebe Zeit – wollte sie etwa gemütlich plaudern?

„Ja?”

„Es scheint so, als sei ein berühmter yarl auf dem Weg nach Wijdlant. Ist das nicht spannend?”

„Ein berühmter yarl?”

„Ein geachteter Herr soll es sein, heißt es.”

„Kommen so selten yarlay zu Besuch, dass dies so wichtig ist?”, fragte ich. Der edle Ritter interessierte mich nicht. Ich war wegen des Spiegels hier. Ich musste wissen, wie es Yalomiro ging. Warum war das Glas matt? Nicht einmal das Zimmer spiegelte sich darin! War der Spiegel etwa defekt?

„Ich habe selten Gäste hier auf der Burg. Es wäre sehr unhöflich, wenn der edle Herr mir nicht seine Aufwartung machen würde, oder findest du nicht?”

„Sicherlich.”

„Vielleicht hast du von ihm gehört, als du in Valvivant zu Gast warst”, fuhr sie fort und nippte vornehm an ihrem Becher. „Man sagt mir, es sei der Herr von Althopian. Du weißt schon – die edlen Rösser.”

Ich erstarrte.

„Waýreth Althopian?”, fragte ich zaghaft. Immerhin war es ja möglich, dass der yarl Brüder hatte.

„Waýreth? Was für ein schöner Name. Ein alter, ein stolzer Name. Wie schön, du kennst ihn also. Er hat in Begleitung einer jungen fánjula die Grenze beim yarlmálon Altabete passiert.”

Waýreth Althopian in Begleitung eines jungen Mädchens? Was sollte das? Hatte Isan es etwa geschafft, sich dem ohnehin geplagten Edelmann an die Fersen zu heften?

„Woher wisst ihr das alles?”

„Meister Gor hat es mir gesagt.”

Ich zuckte zusammen. Der Rotgewandete war also wieder da?

„Wo ist er?”, fragte ich aufgeregt.

„Er dürfte morgen am Abend die Burg von Herrn Andriér erreichen. Er …”

„Nein, nicht der yarl. Gor Lucegath! Ist er wieder zurückgekehrt? Wann habt Ihr ihn gesehen?”

„Ich habe ihn nicht gesehen. Manchmal … redet er auf andere Weise zu mir. Aber er wird wohl bald wieder in Person hier gegenwärtig sein. Sicher will er den yarl willkommen heißen.”

Ich sank in mich zusammen. Nun ja. Zumindest hatte ich damit die Gewissheit, dass der Rotgewandete wusste, was in seinem Reich vorging.

„Was weißt du über yarl Althopian?”, fragte sie begierig. „Erzähl mir von ihm!”

Oh je… was sollte ich berichten? Ich hatte den Ritter selbst ja nur flüchtig kennen gelernt.

„Nun, soweit ich das beurteilen kann, ist er ein hoch angesehener Herr. Alle jungen Mädchen bewundern ihn und die Herren zollen ihm großen Respekt. Er … er ist höflich, gerecht, sicherlich sehr gebildet und offenbar auch sehr erfolgreich auf dem Turnierplatz.”

„Wie sieht er aus?”

„Ich würde ihn als durchaus gutaussehend bezeichnen”, meinte ich vage. „Groß und stark, aber kein roher Kraftprotz. Gepflegt und sicher auch sehr gebildet. Und überaus höflich. Den Damen scheint er jedenfalls zu gefallen.”

Sie schaute verträumt in ihren Becher.

„Soll ich euch jetzt vielleicht die Haare…”

„Wie würde er an meiner Seite aussehen?”

„Wie bitte?”

„Denkst du, er könnte ein guter teirand für Wijdlant sein?”

Was sollte das? Was war in sie gefahren? Und was um alles in der Welt sollte ich darauf antworten? Ich sagte das erste und Dümmste, was mir einfiel: „Aber er ist in die yarlara von Ivaál verliebt.”

Ihr Blick verfinsterte sich. Das war nicht gut.

„Außerdem ist er nicht… standesgemäß, Majestät. Er ist ja kein teirand oder so etwas.”

„Das tut nichts zur Sache.”

„Und außerdem ist er ist sicher deutlich älter als Ihr.”

„Das ist auch egal.”

„Nun gut, aber…”

„Du kannst gehen”, sagte sie kühl.

Hatte ich es mir verdorben? Nur weil ich erwähnt hatte, dass Waýreth Althopian nicht mehr zu haben war?

„… aber wenn er Euch sieht”, faselte ich geistesgegenwärtig weiter, „wird er die yarlara bestimmt auf der Stelle vergessen.”

Sie runzelte argwöhnisch die Stirn.

„Niemand ist schöner und begehrenswerter als Ihr”, schmeichelte ich und mir wurde fast übel dabei. „Die yarlara von Iváal verblasst in Eurer Gegenwart wie … wie ein Flämmchen an einem strahlenden Sommertag.”

Sie stellte den Becher ab und ging hinüber an den Frisiertisch. Ich griff meinerseits nach dem Getränk und stürzte schnell einen Schluck herunter, solange sie nicht hinsah. Offenbar hatte ich gerade noch die Kurve bekommen.

„Versteh mich nicht falsch, Ujora”, sagte sie leise und setzte sich hin. „Es ist für mich sehr wichtig. Ich warte schon so lange auf jemanden, der mein hýardor sein wird. Früher, da war das anders. Damals haben sie mir noch den Hof gemacht. Aber das ist so lange her…”

„Wie lange?”, fragte ich vorsichtig.

„Zu lange. An manchen Tagen spüre ich, wie weit diese Zeit zurückliegt. Und dass sie alle fort sind.”

Sie schaute in den Spiegel. Das Glas klarte augenblicklich auf und zeigte ihr starres, wunderschönes Gesicht. Gleich dahinter erschien Yalomiro, zerschunden, mit gesenktem Kopf. Er zitterte. Entweder war ihm schrecklich kalt, oder er hatte Schmerzen. Oder … er weinte.

Ich begann, mich um ihre Haare zu kümmern. Es war so gespenstisch, dass sie auf seinen Anblick nicht reagierte. Er blieb ebenfalls unbeweglich, bis auf dieses Beben, und hob nicht ein einziges Mal den Kopf.

Den Rest des Abends sprach die teiranda nicht weiter, ganz in Gedanken versunken war sie. Ich erhaschte – vielleicht war das gut so – auch keinen Blick in Yalomiros Augen. Immerhin lebte er.

Das gab mir für die nächsten Stunden wieder etwas Zuversicht.

Der beflissene Wachposten führte mich zurück in meine Stube und zündete die Laterne an, die neben der Tür bereitstand. Wahrscheinlich wunderte er sich, warum ich die paar Schritte nicht alleine ging, aber er hatte sicherlich seine Weisungen. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und zog die Tür zu.

Wir müssen reden.

Ich zuckte zusammen und erwartete, eine der Zofen oder Mägde zu sehen, die hier auf mich gewartet hatte. Doch soweit ich es im Licht der Nachtlaterne erkennen konnte, war niemand im Raum. Außerdem, das wurde mir klar, war die unwirsche Stimme in meinem Kopf erklungen.

Ich sitze auf dem Bett. Komm näher, aber lass das Licht stehen.

Ich zögerte, und die Stimme setzte, etwas verträglicher, hinzu: Na komm schon. Ich tu dir nichts.

Zaghaft tastete ich mich an das Bett heran. Tatsächlich, da war etwas, das auf dem Kissen lag und sich nun aufrichtete. Ein schimmerndes, jadegrünes Augenpaar glomm auf. Die Katze!

War ich etwa von dem einen Becher wässrigem Wein betrunken? „Bist du das? Sprichst du mit mir?” Ich setzte mich ans Fußende. Wir starrten einander an, die Katze und ich.

Ich würde es nicht sprechen nennen. Ich verständige mich mit dir.

Ich wagte kaum, es auszusprechen.

Du bist das kleine Tier, das yarl Altabetes Brief …”

Es war eine dumme Idee von mir, im Nachhinein betrachtet.

Eine absurde, verwegene und doch so naheliegende Erkenntnis durchzuckte mich.

„Du … bist du… Arámaú?”

Ihre Augen weiteten sich. Dann stieß sie einen Seufzer aus, als fiele ihr eine erdrückende Last vom Herzen.

Noktáma sei gepriesen, wisperte sie. Wenn du meinen Namen weißt, dann … kennst du Yalomiro Lagoscyre?

Ich nickte eifrig. „Ja! Ja, ich … kenne ihn!”

Wo ist er?, fragte sie aufgeregt und sprang mit einem Satz näher. Ist er hier? Ist er in der Nähe? Ich kann ihn nicht wahrnehmen!

„Schwer zu erklären. Der Rotgewandete hat ihn an einen sonderbaren Ort verschleppt.”

Nach Pianmurít?

„Ja, nach Pianmurít. Wo immer das ist.”

Das schien sie zu ernüchtern. Das ist schlimm. Was ist mit dem Rotgewandeten?

„Der ist seit Tagen verschwunden. Aber irgendwie ist er doch nicht weg.”

Sie seufzte, als habe sie nichts anderes erwartet. Dann setzte sie sich aufrecht hin und schaute mir ins Gesicht.

Ich muss mich für die Sache neulich entschuldigen. Ich hatte keine Lust, das Schoßtierchen für ein neues Hoffräulein werden zu müssen. Moréaval hat mich überrascht. Ich hatte bei seinem Pferd im Stroh geschlafen.

„Warum bist du zurückgekommen?”

Denkst du, mir ist entgangen, dass dich die Magie, mit der der Rotgewandete diese Burg ausstaffiert hat, in Verwirrung gestürzt hat? Ich habe nachgedacht und fand, das müsse ich mir ansehen. Wer bist du und wo kommst du her?

„Na ja … es wird dich sicher überraschen, aber ich komme aus einer anderen Welt. Ich bin durch einen Weltenschlüssel hergekommen.”

Eines von Yalomiros Spielzeugen?, fragte sie, mit einem sonderbar belustigten Unterton.

„Spielzeuge?”

Yalomiro hat oft kleine Zaubereien an Gegenständen gewirkt. Meister Gíonar hat sich so oft bei Meister Askýn darüber beklagt, aber der Großmeister hat sich darüber amüsiert. Und ich auch. Einmal … nein. Dafür ist jetzt keine Zeit.

Dass sie sich selbst unterbrach, enttäuschte mich. Wie gern hätte ich mehr über die unbeschwerte, die gutgelaunte Seite von Yalomiro erfahren. Aber es gab in der Tat Wichtigeres.

Wie seid ihr hergekommen? Und … wie kann es sein, dass du … nun ja. Du bist eine Frau. Wie kann das sein?

„Was ist daran nur so seltsam? Ich habe in meiner Welt, Yalomiros … Spielzeug gefunden. Damit hat es mich hierher verschlagen. Ich habe unbeabsichtigt einen Bann gebrochen, der auf ihm lag. Dann sind wir losgezogen. Willst du es detaillierter?”

Nicht jetzt. Ich habe nicht viel Zeit. Nur eines … welchen Grund hatte er, ausgerechnet nach Wijdlant zu gehen?

Ich zögerte. Sollte ich es ihr sagen?

Natürlich. Das war ich ihr schuldig. Yalomiro hatte sich in Gefahr begeben, um sie zu finden. Immerhin war sie ihm … wichtig gewesen.

„Er hat gehofft, dass du hier bist”, antwortete ich dann.

Sie sagte nichts darauf. Aus ihrem Katzengesicht ließ sich keine Gefühlsregung ableiten. Aber ich bildete mir ein, dass ihre Schwanzspitze zuckte. Ganz unter Kontrolle hatte sie ihre Emotionen wohl nicht.

Ihr wisst, was mit den camat’ay geschehen ist?

„Ja. Nein. Ich meine – es hieß, ihr seid alle tot.”

Mögen sie alle, hinter den Träumen, ihren Frieden finden. Nein, nicht alle. Ich bin noch hier. Ich, Arámaú Boscargén, bin die Einzige, die dem Rotgewandeten entkommen ist.

„Hast du mit ihm gekämpft und gewonnen?” Ich war beeindruckt.

Nein, gab sie kleinlaut zu. Ich bin weggelaufen. Etwas anderes bringe ich nicht zuwege. Ich denke, es war eine Unachtsamkeit von Gor Lucegath, und anschließend eine Menge Glück. Oder Noktámas schützende Gegenwart. Die Geschichte ist zu lang für diesen Moment. Aber seither bin ich immer hier gewesen und habe ihn beobachtet. Ich habe mich unter seinen Augen vor ihm verborgen.

„Wie kann man sich vor ihm verstecken? Yalomiro sagte, Magier können Magie nicht voreinander verbergen.”

Das ist richtig. Die Kunst ist also, den Rotgewandeten nicht damit zu konfrontieren. Hier gab es genug echte Katzen, zwischen denen ich nicht auffalle, solange ich ihm nicht schnurrend um die Beine streiche. Ich halte Abstand und meine Magie in mir. In meiner menschlichen Gestalt hätte er mich im Handumdrehen wieder gepackt, egal, wo ich hingelaufen wäre. Damit bin ich viele Sommer erfolgreich gewesen.

„Also bist du … es sind doch viele, viele Jahre vergangen?”

Unter meinem Katzenpelz könnte ich wohl deine Großmutter sein.

„Das tut mir leid.”

Zum Glück verschließt diese Verkleidung nicht mit der Zeit. Aber sie wird unbequem zu tragen. Sie gab ein abschätziges Maunzen von sich. Nun, ich habe wirklich wenig Glück mit meinen brillanten Ideen. Aber nun, da Yalomiro wieder da ist, ist wieder Hoffnung. Ich wusste, ich musste nur lange genug Geduld haben. Früher oder später hätte der Rotgewandete Yalomiro schließlich erwecken müssen. Dann wäre ich zur Stelle gewesen. Sie seufzte. Wer konnte ahnen, dass es so lange dauern würde?

„Weißt du denn, wie man zu ihm kommt, hinein in Meister Gors Domäne?”

Gar nicht. Wir kommen ohne ihn dort nicht hin. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder, Yalomiro gelingt es selbst, sich zu befreien. Aber wenn das gangbar wäre, hätte er es längst getan. Nun gut, dann bleibt nur eine Aussicht: Du musst den Rotgewandeten dazu bringen, ihn freizugeben.

„Wieso ich?”

Wer denn sonst? Ich etwa?

„Nun gut”, sagte ich. „Aber dazu muss Meister Gor erst wieder auftauchen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns… ich meine, wie viel Yalomiro noch bleibt.”

Sie sprang vom Bett herunter und kletterte über den Sessel auf die Fensterbank.

„Wo willst du hin?”, fragte ich.

Ich komme zurück. Stell mir keine Fragen. Es ist besser, je weniger du weißt.

„Aber wenn du abstürzt?”

Doch sie war schon draußen und balancierte auf einem winzigen Sims. Keine Sorge. Ich falle nicht auf Gors Lucegaths Tricks als Baumeister herein. Ich weiß, wie man sie durchschaut. Yalomiro ist … ein hervorragender Lehrer. Du hast viel Glück gehabt, ihm zu begegnen, ujora.

Und fort war sie. Im Nachhinein fragte ich mich, ob ich diese ganze kurze Begegnung möglicherweise nur geträumt hatte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir wichtige Details einander vorenthalten hatten. Andererseits ahnte ich irgendwie, dass die ganze Geschichte sie verstört hätte. Vielleicht auch verärgert. Wahrscheinlich beides. Jedenfalls wollte ich ihr keinen Grund zur Eifersucht geben. Nicht, bevor ich wusste, woran ich bei ihr war.

Aber woher konnte sie meinen Namen kennen?