– Yalomiro Lagoscyre!

„Bitte… lasst mich schlafen!”

– Yalomiro Lagoscyre! Stell dich dem Urteil von deinesgleichen!

„Bitte … Meister Gíonar… bitte… ich bin zu müde …”

Camat’ay! Bei Noktáma, bei der Macht, die uns auserwählte und ihre Kraft schenkte, was ist über den zu sagen, der unseren Kreis ins Verderben stürzte?

„Das ist nicht wahr…”

– Du bezichtigst deinesgleichen der Lüge?

„Nein … ich …”

– Was hast du dann zu deiner Verteidigung vorzubringen, Yalomiro Lagoscyre?

Yalomiro ächzte und zwang seine Augen dazu, sich zu öffnen. Es war der achte Tag, und nun waren die Stimmen über ihn gekommen, die vergangenen Stimmen derer, die mit oder ohne sein Verschulden hinter die Träume gegangen waren, wer wusste das schon? Er war ihnen wehrlos ausgeliefert, inmitten des Nichts. Sie waren alle da, körperlos, nicht wirklich da, und doch so real, als sei er unter ihnen. Als hätten sie ihn vor den Thron im Etaímalon gezerrt und ließen ihn sich für alles Noktáma und den Mächten Ungefällige verantworten, was jemals ein camat’ay verbrochen hatte.

„Zeigt euch wenigstens”, ließ er seine Stimme in der Leere verhallen. „Wie soll ich wissen, wer von euch wirklich ist?”

– Du kennst meine Stimme, Yalomiro Lagoscyre. Du hast sie oft genug gehört, wenn ich euch bei Kindereien ertappt habe, um Unkundige zu erschrecken.

„Wir waren Kinder…”

– Und du warst der Achtloseste von allen.

„Es waren kleine Zaubereien … harmlose Streiche …”

– Du hast mit der Magie gespielt! Törichte, sinnlose Eitelkeit!

Er wimmerte. „Meister”, wisperte er.

– Allein durch deine Schuld bin ich gestorben. Das weißt du. Du hättest es verhindern können!

„Meister Askýn …”

– Deine Pflicht wäre es gewesen, mich zu verteidigen, mit der Magie, von der du wohl allzu viel für anderes übrig hattest!

„Aber…”

– Eitle Taschenspielereien, Yalomiro Lagoscyre, Albernheiten, die niemandem nutzen und noch mehr Wirrnis herbeigeführt haben. Dein Weltenschlüssel war es, der dem Unheil Tür und Tor geöffnet hat!

„Ich …”

– Warum hast du nicht in Demut und Vernunft gehandelt, Yalomiro Lagoscyre? Was hat dich dazu getrieben, dem Feind allein gegenüberzutreten?

– Er tat es wohl nicht, weil er in seinem Hochmut überzeugt war, dem Rotgewandeten ebenbürtig zu sein.

„Ich habe nicht …”

– Schweig, Yalomiro Lagoscyre! Schweigen sei über dich, solange wir hier über dich beraten! Kein Wort mehr über deine Zunge!

Der Schattensänger biss sich auf die Lippen. Auch als körperlose Stimme hatte Meister Askýn nichts von seiner Autorität verloren.

– Ich habe es mir wohl selbst zuzuschreiben. Ich hätte sie beizeiten zügeln sollen, seine vorzügliche Kraft, eine Kostbarkeit, die Noktáma ausgerechnet an einen leichtfertigen Taugenichts verschwendet hat. Wie oft habe ich von euch zu hören bekommen, wie übermütig und ungestüm er seine Kunst übt! Er, der hier nun steht, in der Gewalt unseres Widersachers und vergiftet mit einer Magie, die nicht für unseresgleichen geschaffen wurde!

– So viel Unfug hat er mich gelehrt, zu Spielereien verführt, dir mir zu nichts genützt, mich nicht gerettet haben!

Arámaú? Nein! Urteilte sie so über die kostbaren Momente kindlichen Glücks, unschuldiger Unbeschwertheit, die sie abseits ihrer Lektionen erlebt hatten?

„Ich habe dich lachen sehen, Arámaú. Ich weiß, dass du meine Freundin warst!”

– Irregeführt hast du mich, Yalomiro Lagoscyre, der du versucht hast, in die Lehren meines ytra hineinzupfuschen!

„Ich wollte dir beistehen!”

– Du hast es verdorben! Du hast mich mit dir in den Untergang gestürzt!

– Ist es nicht geradezu absurd, dass derjenige, den wir für so mächtig hielten, sich vom Rotgewandeten hat übertölpeln lassen wie ein einfältiges Kind?

– Wie fühlst du dich, Yalomiro Lagoscyre? Wie fühlst du dich, als Gefangener des schrecklichsten Feindes, wo du doch triumphierend und gestärkt Noktámas Geschick für dich hättest entscheiden können?

– Warum hast du ihn nicht getötet, als du die Gelegenheit dazu hattest?

– Was ist eine reine maghiscal gegen die Vergeltung, die du hättest haben können!

– Ein jämmerlicher Feigling bist du, Yalomiro Lagoscyre, ein Verräter an deinesgleichen und Noktáma selbst!

Aufhören… sie sollten aufhören, so zu ihm zu reden. Seine Füße gaben nach. Das Gold schlitzte ihm das Fleisch auf. Aber sie wisperten weiter, von allen Seiten, alle, die mit ihm im Etaímalon gelebt hatten, sogar die, die in Frieden und Ehren hinter die Träume gegangen waren, noch bevor Gor Lucegath aufgetaucht war. Sogar jene, die lange vor ihm gelebt hatten.

– Wir sind tot, Yalomiro Lagoscyre. Er hat uns einen nach dem anderen hinter die Träume gebracht. Jeden Einzelnen hat er ausgelöscht, unter Qualen, gegen die das, was du gerade erträgst, lächerlich ist.

– Was ist denn nun mit deiner Magie, Yalomiro Lagoscyre? Reicht sie nicht aus, um ein paar Fesseln zu zerreißen?

– Hätte einer wie du, der mächtigste, der klügste und kunstfertigste aller Schattensänger etwa nicht die Macht, ein bisschen Gold zu verbiegen?

Die Schattenstimmen um ihn herum lachten ihn aus. Immer boshaftere und gemeinere Dinge sagten sie. Vor allem der Spott in Meister Askýns Stimme, die Anklage in Arámaús Worten tat weh. Von allen Seiten zischten sie in seine Ohren, als stünden sie keine Handbreit von ihm entfernt.

– Mit einem Fluch geschlagen haben uns die Mächte, weil wir ihn nicht zur Demut gebracht haben!

– Aber geben wir ihm nicht die ganze Last für das Unheil. Ein wenig davon haben wir uns selbst zuzuschreiben.

– Natürlich. Wir hätten ihn unter den Unkundigen lassen sollen, auf dass sie ihn erschlagen, bevor seine Magie erwacht und ihm zu Kopf steigt!

Yalomiro kämpfte mit der Scham und den Tränen. Ihre Worte, Worte von Stimmen, die er geachtet und geehrt hatte, waren kaum zu ertragen.

– Und nun, Yalomiro Lagoscyre? Was soll aus dir werden?

– Der Feind wird dich vor die Wahl stellen. Wie wirst du entscheiden? Wirst du standhaft bleiben und das ay’cha’ree verborgen halten, selbst wenn er dich dafür umbringt?

„Ich kann nicht … er darf der Unkundigen nichts zuleide tun …”

– Habt ihr das gehört? Nun stellt er das Wohl einer Unkundigen, die nichts weiter ist als eine Last in dieser Sache, über das, wofür unseresgleichen seit Ewigkeiten kämpft! Sein Herz hängt er an das Wesen, das ihn schwach und verwundbar macht!

– Erbärmlich!

– Verrat und Schande!

– Lasst ihn! Vielleicht gereicht uns sein Leichtsinn zum Besseren, vielleicht wagt er in seiner übergroßen Macht das Kunststück. Vielleicht nimmt das ay’cha’ree an sich, um den Rotgewandeten endlich zu vernichten!

– Ja, in der Tat! Wäre das nicht ein verlockender Gedanke, Yalomiro Lagoscyre? Vielleicht wärest du bei aller Überheblichkeit tatsächlich dazu in der Lage, das ay’cha’ree zu kontrollieren. Seine Macht zu benutzen. Vielleicht täuschen wir uns in dir?

– Ja, vielleicht tun wir das. Dass du das, was dir an Weisheit entbehrt, mit deiner Kunst aufwiegst, wissen wir.

„Das ay’cha’ree ist zu groß, um damit zu spielen…”

– Eine größere Macht, als je ein Magier besessen hat. Du könntest Gutes damit tun! Du könntest Gor Lucegath besiegen und alles in Ordnung bringen, was er im Weltenspiel verbrochen hat.

„Wer bin ich, dass ich mir anmaßen dürfte, das ay’cha’ree zu benutzen?”

– Du, Yalomiro, bist der, der es aus lauteren Motiven täte. Der, der das Weltenspiel verteidigen will.

– Du bist mächtig. Wenn jemand es benutzen und den Rotgewandeten zerschmettern kann, bist du es!

– Du bist es, der die Macht hat, Noktáma zum Ruhm zu siegen!

– Du, mein Schüler, bist der, der uns rächen wird!

– Noktáma will es!

Yalomiro ballte hinter dem Rücken seine gefesselten Hände zu Fäusten. Einen Moment ertrug er es. Dann brach es aus ihm heraus.

„SCHWEIGT!”

Die Stimmen verstummten, lösten sich auf, verwehten in der Leere. Der Schattensänger tauchte aus dem Meer der finsteren Gedanken und Vorwürfe auf, durchbrach sie wie die Oberfläche eines Gewässers und atmete heftig. Für den Moment war die Müdigkeit von ihm abgefallen.

Das alles war nicht echt. Es war nicht wirklich geschehen. Alles, was er gerade gehört hatte, war sein eigener Geist gewesen, den die Müdigkeit und die Leere zum Sprechen gebracht hatten.

Für den Augenblick waren die Stimmen fort. Aber, bei Noktáma und den Mächten, sie würden jede Gelegenheit nutzen, um sich wieder bemerkbar zu machen. Und vielleicht würde er dann so müde sein, dass er ihren Vorschlägen interessiert zuhörte. Vielleicht würde er darüber nachdenken.