Wie man Zeit empfindet, ist eine Frage dessen, womit sie gefüllt ist. Das lernte ich schon in den ersten Stunden, die ich in meiner neuen Bleibe verbrachte. Stunden voller Freude verfliegen wie im Augenblick. Wenn man hingegen auf etwas wartet, werden sie zäh und aufreibend. Wenn man Angst hat, nehmen sie kein Ende.

In Wijdlant schien die Zeit stillzustehen, wahrscheinlich, weil ich nicht wusste, worauf ich wartete. Am schlimmsten aber war, dass ich von Yalomiro auf eine Weise getrennt war, die sich komplett meinem Verstand entzog. Es wäre erträglicher gewesen, wenn er im Kerker unter dem Turm in Ketten gelegen hätte. Eine vergitterte Tür, ein versteckter Schlüssel, sogar grimmige Gefängniswärter wären etwas gewesen, auf das ich mich hätte konzentrieren können. Es wären echte, greifbare Hindernisse gewesen.

Doch Yalomiro war fort, nicht nur aus meiner Reichweite, sondern außerhalb der Welt, an einem Ort, von wo ich ihn nicht erneut befreien konnte, weder indem ich einen Halsreifen öffnete, noch mit einem stumpfen Essmesser auf Stricke losging. Dass ich den Ring gelöst hatte, war mehr oder weniger Zufall gewesen. Dass ich auf dem Montazíel mit dem Messerchen gegen alle Vernunft und Logik zumindest versucht hatte, Yalomiro zu befreien, das war bewusst geschehen.

Ich dachte darüber nach. Ob Gor Lucegath damals schlicht hatte sehen wollen, wie ernst es mir mit Yalomiro war? Als ich erkannte, dass er es wohl selbst gewesen war, der mir in der Nacht auf dem Berg meinen jämmerlichen Rettungsversuch so lächerlich einfach gemacht hatte, schauderte ich. Das, was nun geschah, war eine perfide Umkehr davon. Selbst mit einem raffinierten Plan und einem Arsenal an nützlichen Werkzeugen war Yalomiro unerreichbar.

Ich redete mir ein, dass Yalomiro nichts zustoßen würde, solange Gor Lucegath ihn unbehelligt ließ, denn schließlich würde er ihn nicht töten. Andererseits – selbst wenn der goala’ay Yalomiro vorerst seinem Schicksal überließ, bedeutete das nichts Gutes, ganz im Gegenteil. Yalomiro war genauso jenseits der Wirklichkeit gefangen wie ich, und sobald er den Halt in der widerlichen Konstruktion aus magiefesselndem Gold und Steinen verlor, würde er sich unweigerlich verletzen. Wie lange würde das dauern? War es vielleicht schon geschehen? Und … wie lange würde Gor Lucegath sich dieses Schauspiel nicht anschauen?

Was konnte ich tun, um Yalomiro aus diesem Albtraum herauszuholen?

Die unangenehme Erkenntnis aus meiner Grübelei war, dass ich auf die Aufmerksamkeit des Rotgewandeten angewiesen war. Sicher würde er bald auftauchen. Mir allerdings war nicht klar, was ich tun konnte, sobald ich ihn das nächste Mal zu Gesicht bekam. Ich bezweifelte, dass er sich erweichen lassen würde, wenn ich ihn anflehen würde, Yalomiro freizugeben.

Wie vertraut es mir war, dieses dumpfe Gefühl von Ohnmacht und Frustration. Es hatte mich eingeholt, hier, in einer fremden Welt, die sich immer mehr anfühlte wie ein Alptraum.

Obwohl die Stube, die man mir zugewiesen hatte, auf dem gleichen Geschoss lag wie die Räume der teiranda, blickte ich vom Fenster aus in einen Abgrund. Die Leute unten im Hof waren klein wie Ameisen. Der bewegungslose, wolkenverhangene Himmel über der Burg war so verstörend massiv und nahe über mir, dass ich unwillkürlich an eine Käseglocke denken musste, die über der Burg lag. Ein hölzerner Laden ließ sich von innen vor das Fenster schieben, aber wenn ich das tat, hatte ich gar kein Licht mehr. Ich beschloss daher, nicht allzu oft nach unten zu schauen.

Was war hier los? Befand ich mich tatsächlich noch in einem von Menschen errichteten Gebäude? Was war das für eine seltsame Magie, die hier ganz offensichtlich zu einer Verzerrung von Raum und Zeit führte, die niemand außer mir zu bemerken schien?

Innerhalb des Zimmers wenigstens waren die Perspektiven – sollte ich sagen: stabil? Allerdings gab es nicht viel, was sich hier unternehmen ließ.

Ich ging hinüber zur Tür und zögerte. Die teiranda hatte mich eindringlich gewarnt, den Raum zu verlassen. Aber man hatte mir nicht untersagt, hinauszuschauen. Ich wagte es, zog die Tür auf, blickte vorsichtig auf den Flur und zuckte erschrocken zurück. Geistesgegenwärtig schloss ich die Tür wieder und schaute spürte mein Herz bis zum Hals klopfen. Wo kam der graue Rauch her? Brannte es im Flur?

Wenn dem so war, saß ich in der Falle. Das Zimmer lag zu weit oben im Gebäude, um aus dem Fenster zu klettern oder zu springen, und einen Fluchtweg gab es nicht.

Allerdings gab es auch keine Hitze. Kein Flammenknistern. Keine panisch rufenden Menschen in den Gängen.

Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und linste misstrauisch hindurch. Dann öffnete ich sie ganz.

Es war kein Qualm oder Rauch. Es war eine Art grauer, schleierartiger Nebel, der links und rechts im Flur zu hängen schien, dicht dichter als Zigarettendunst. Schemenartig konnte ich erkennen, dass der Flur sich in beide Richtungen weit hinzustrecken schien. Gerade eben kam eine Frau, dem Gewand nach eine Magd, aus dem Trüben heraus. Sie trug einen Stapel Tücher bei sich, drehte ihr verschwommenes Gesicht in meine Richtung und schien kurz zu stutzen.

Ich nickte ihr instinktiv zu. Sie zögerte, grüßte mich ebenfalls und ging wortlos weiter. Wenige Schritte später war sie im Nebel verschwunden.

Ob Gor Lucegath auch bisweilen hier entlang kam?

Was den Komfort betraf, hatte die teiranda nicht zu viel versprochen. Man hatte mich offenkundig tatsächlich erwartet und alles für meinen Aufenthalt vorbereitet. Das Bett hatte eine angenehm feste Matratze, weiche Kissen und warme Decken in Farben, denen ein Hauch von Asche beigemengt schien. Aber es war eine dumpfe Qual, darin zu schlafen, denn meine Träume kreisten um Yalomiro, der in der Leere um Hilfe schrie; ich sah ihn deutlich vor mir und konnte ihn nicht erreichen, denn es war Glas um ihn herum, auf das ich sinnlos mit Steinen, Hämmern und sogar einem modernen Diamantschneider eindrang und das ich doch nicht zum Splittern bringen konnte.

In der Stube gab es einen massiven Sessel und einen kleinen Tisch mit zwei einfachen Stühlen. Hinter einem Vorhang befanden sich in einer Nische ein Waschtisch und einige Frisierartikel, Kamm, Bürste, Seife (völlig geruchsneutral) und trockene Tücher sowie ein bemerkenswert akzeptabel aussehenden Abtritt. Außerdem gab es eine Truhe, in die ich mein Zeug hätte hinein verstauen können, wenn ich welches gehabt hätte. Es lagen einige Wäschestücke und einfache Gewänder zum Wechseln bereit. Abends konnte ich Licht mit zwei Laternen machen, eine auf dem Tisch, eine kleinere an der Wand beim Bett. Alles im Zimmer lag unter diesem beunruhigenden Grauschleier, sogar die Seife.

Ich nahm einen der Stühle und setzte mich damit in die Tür wie in einen Logenplatz. Ich wollte unter gar keinen Umständen versäumen, wenn Gor Lucegath oder die teiranda diesen Weg nahmen. Aber beide ließen sich nicht blicken.

Das Gesinde, das mich versorgte, schien sich zu wundern, war mir aber offensichtlich wohlgesonnen. Unter der schrecklichen magischen Maskerade, die mich daran hinderte, ihre Stimmen zu hören und ihre Gesichter zu sehen, schien es sich um normale Leute zu handeln, die möglicherweise überhaupt nicht bemerkten, was an diesem Ort nicht stimmte. Angenommen, Wijdlant lag schon einige Jahrzehnte unter Gor Lucegaths Bann – erinnerten sich alte Leute an früher? Waren Menschen, die seither geboren waren und es nicht anders kannten, beunruhigt?

Was mochte die teiranda, was jeder ihrer Gefolgsleute sehen und spüren? Vielleicht war die Wirklichkeit erträglicher, die sie aus ihrem Blickwinkel wahrnahmen, als das, an das ich mich wohl vorerst gewöhnen musste.

Allerdings gelang es mir nicht, mich mit den Leuten zu verständigen, die den Tag über an meiner Tür vorbei gingen. Auch mit denen, die mich mit Essen, Wasser und Wäsche versorgten, kam ich nicht ins Gespräch, natürlich nicht. Möglicherweise waren sie ebenso wenig dazu in der Lage mich zu verstehen wie ich sie.

Zwei- oder dreimal versuchte ich dennoch, entgegen dem Gebot der teiranda das Gemach zu verlassen und wagte mich einen Schritt in den Nebel hinein. Aber ich kam nicht weit. Immer, wenn ich mich dem Dunst näherte, schien er vor mir zurückzuweichen; er gab dabei aber nicht etwa weitere Bereiche des Ganges frei, etwa Türen, Treppen oder Fenster. Es war vielmehr, als verlängere sich der Korridor mit jedem Schritt um ein Stück, das exakt identisch mit dem war, das ich gerade zurückgelegt hatte. Ich begriff rasch, dass ich mit jedem Versuch, den Nebel zu durchqueren, lediglich einen endlosen Tunnel schaffen würde, der nirgendwo hin führte. Ich wagte mich nicht außer Sichtweite meiner Tür und gab diese Versuche schnell wieder auf.

Wie lange konnte ein Mensch aus eigener Kraft stehen? Wie lange ein Magier? Was, wenn Yalomiro stürzte und ein Spieß ihn durchbohrte? Was, wenn das Gold ihm ins Gesicht fuhr und die Augen ausstach … seine freundlichen braun-silbernen Augen …

Ich versuchte, dennoch mit den Leuten zu reden. Ihre Besuche zweimal am Tag waren die einzigen Orientierungspunkte, an denen ich bemerkte, wie Zeit verstrich. Daran und an der Dunkelheit nachts. Tageslicht gab es nicht wirklich unter der bleigrauen Kuppelwolke. Wijdlant lag unter einem ewigen grauen Dämmergrau. Nachts war es stockdunkel, bis auf die Lichter, die ich tief unten im Hof sah wie verlöschende Glühwürmchen. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde ich panischer. Jeder Traum wurde verzweifelter, trostloser und blutiger. Ich hämmerte mit bloßen Fäusten auf das Glas und schrie und flehte wie eine Wahnsinnige. Gor Lucegath musste mich doch hören!

Am Tag hatte ich mich unter Kontrolle. Darin war ich immer gut gewesen. Tagsüber durfte niemand wissen, wie dreckig es mir ging. Das machte angreifbar und provozierte andere zum Nachtreten. Das ohnmächtige Herumsitzen in der Tür, das Lauern auf die teiranda oder den Rotgewandeten, die einzigen Personen, mit denen ich kommunizieren konnte, machte sich körperlich bemerkbar. Ich bemerkte selbst, wie ich zitterte, wie unruhig meine Finger wurden, wie die Traurigkeit nach mir griff und die Verzweiflung zu ersticken begann. Die Menschen auf dem Gang, die in all dem Wahnsinn ihrem Alltagsleben nachgingen, waren anwesend, aber ich fand keinen Zugang zu ihnen. Dennoch schwatzte ich sinnlos auf sie ein. Dem Mädchen, das mir am mein Nachtmahl brachte, erzählte ich, dass ich gerne irgendetwas Sinnvolles zu tun hätte. Dass es mir unangenehm sei, dass sie mich bedienen mussten und ich nichts weiter tat, als herumzusitzen.

Sie antwortete nicht und ließ sich nicht anmerken, ob sie mich verstanden hatte.

Ob Gor Lucegath dazu bereit wäre, mich gegen Yalomiro auszutauschen? Wenn ich wenigstens für eine Weile Yalomiros Platz einnehmen konnte, damit der sich ein wenig ausruhen konnte … was konnte ich dem Rotgewandeten anbieten? Hatte ich irgendetwas, das ihn interessieren würde? Etwas, dem er nicht widerstehen konnte?

Als am späten Abend Andriér Altabete mit ein paar Pergamentrollen unter dem Arm an meinem Gemach vorbei kam, schnappte etwas bei mir außer Kontrolle. Erstmals wurde ich eines Ritters gewahr. Näher an die teiranda heran kam ich nicht. Ich schoss auf ihn zu, bekam ihn irgendwo an seinem Eisenzeug zu packen und versuchte, ihn festzuhalten. Er war so überrascht, dass die Dokumente ihm entglitten.

„Bitte”, flehte ich ihn an. „Meister Gor … ich muss mit ihnen reden! Bitte!”

Der Ritter schaute sich hastig um und schob mich zurück ins Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und löste dann meine Finger, die sich in seinen Mantel gekrallt hatten, mit erstaunlicher Vorsicht.

Ich ließ ihn los, begriff, was ich gerade getan hatte und kauerte mich schluchzend vor meiner Truhe zusammen. Er sprach zu mir, dieses entsetzliche, verzerrte Zischeln und Murmeln. Ich wusste nicht zu sagen, ob er schimpfte. Ich verstand ihn nicht und wagte auch nicht, zu ihm aufzublicken. Dass er wieder gegangen war, bemerkte ich erst, als er die Tür hinter sich schloss. Als ich schließlich wagte, aufzustehen und nachzuschauen, war sie fest verschlossen. Nicht abgeschlossen, denn es gab keinen Riegel.

Sie ließ sich schlicht nicht mehr öffnen. Ich hatte es wohl zu weit getrieben.

Wenn jemand von außen mein Zimmer betreten wollte, war das offenbar ohne Weiteres möglich, denn die Mägde, die mich versorgten, gingen ein und aus wie gewohnt. Auf meinem Frühstückstablett fand ich am Morgen neben dem Brotkorb ein kleineres Körbchen, das ein Stickzeug samt Nadel und ausgebleichtem Garn enthielt. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, ein paar Stiche als Muster anzufertigen, möglicherweise im berechtigten Zweifel darüber, ob ich mit einer solchen Handarbeit vertraut war. Hatte die Dienstmagd begriffen, dass die Untätigkeit mich langsam durchdrehen ließ?

Ich habe mich nie im Leben mehr über ein Geschenk gefreut, das so gar nicht zu mir passte. Mehr noch: Es war ein Beweis dafür, dass die Menschen offenbar zumindest verstanden, was ich zu ihnen sagte. Ob Andriér Altabete ebenfalls begriffen hatte, worum ich ihn angefleht hatte?

Ich verbrachte den schleichenden Tag damit, am Fenster zu sitzen, mir die Finger zu zerstechen und am Ende ein wackliges Blümchen zu beenden. Die Magd, die abends zu mir kam, sah es und mir war, als schüttele sie milde den Kopf.

Nachts zeigte ich Yalomiro mein Werk. Ich wollte das Tuch benutzen, um ihm all das Blut abzuwischen, das ihm im Gesicht klebte. Aber ich konnte ihn nicht berühren. Ich setzte mich ernüchtert nieder und betrachtete meine Stickerei, ohne darüber nachzudenken.

Da strafften sich die ungelenken Stiche. Die Farbe des Garnes veränderte sich, aus dem stumpfen Grau wurde glitzerndes Silber. Aus der Stickerei formte sich ein winziges glitzerndes Blümchen, wuchs daraus empor und öffnete seine Blütenblätter. Ein noch viel winzigeres Etwas krabbelte daraus hervor und begann, darüber hinweg zu flattern. Ein Schmetterling aus Licht.

Zu mehr reichte Yalomiros Kraft nicht mehr. Das Gebilde verblasste und wurde wieder zu grauem Faden.

Ich schlug die Augen auf und starrte in die Finsternis. War das ein Wunschtraum gewesen oder ein Lebenszeichen? Ich wusste es nicht. Aber was immer es gewesen war, es hatte keine Bedeutung. Nicht, solange ich in einer anderen Wirklichkeit war als er.

Am nächsten Morgen drückte das Mädchen mir ein dünnes Buch in die Hand. Es war abgegriffen, mit einem billigen Einband aus speckiger Pappe versehen und kam sicher nicht aus Kíaná von Wijdlants Bibliothek, sondern aus dem Privatbesitz von irgendjemandem. Ich warf einen Blick auf die sonderbare geometrische Schrift und hielt inne. Bewusst entziffern konnte ich die einzelnen Buchstaben immer noch nicht. Aber ich verstand, was da geschrieben stand.

Ich hatte es mir bei dem Pflanzenbuch in der Bibliothek also nicht eingebildet. Vermutlich war das derselbe Effekt, der bewirkte, dass ich in dem Moment, in dem ich diese Welt betreten hatte, offenbar auch deren Sprache beherrschte. Vielleicht war mein neu erkannter Zugang zu Geschriebenem eine Steigerung davon. Ich mutmaßte, dass es ein Nebeneffekt meines Tanzes mit Yalomiro war. Als Magier war er zweifellos gebildet und konnte lesen und schreiben. Irgendwie hatte ich Teil an seinem Wissen, nein, mehr noch: Es war beinahe, als wäre er bei mir, um mir vorzulesen.

Der unglaublich kitschige Liebesroman handelte von einem tugendhaften Fräulein, das einen Ritter liebte. Der musste jedoch in eine Schlacht ziehen, während ein anderer Herr, der nicht kämpfen, aber offenbar sehr gut intrigieren konnte, alles daran setzte, dem Fräulein einzureden, dass ihr Ritter treulos und längst tot war. Das Fräulein aber glaubte das nicht und zog heimlich aus, um den Liebsten zu suchen, was wiederum zu einer Verfolgungsjagd mit dem schurkischen Edelmann führte und… und so weiter. Am Ende triumphierten beide über den Schurken, lagen sich in den Armen und alles war gut.

Und so lernte ich aus einem Schundroman erstaunlich viel über die Welt, in die es mich verschlagen hatte, wenn auch offensichtlich über eine Vergangenheit, die schon einige Generationen zurücklag. Das Buch war reich illustriert und hatte Eselsohren an Seiten mit besonders spannenden und romantischen Passagen.

Ich zögerte. Ob ich jemanden gezielt auf Literatur über die Magier ansprechen sollte? Ob es Bücher über die Lichtwächter gab, die Hinweise auf Pianmurít enthielten?

Ich entschied mich dagegen. Wahrscheinlich würde ich mit einer solchen Frage Leute in Gefahr bringen. Denn irgendwann musste Meister Gor schließlich wieder auftauchen. Vermutlich würde er Recherchen nicht gut heißen.

In all der Zeit hatte ich ich Kíaná von Wijdlant nicht zu Gesicht bekommen. Das war seltsam, nachdem sie sich doch zuvor so sehr über meine Gesellschaft gefreut hatte. Ob sie mich vergessen hatte?

Irgendwann würde etwas geschehen. Früher oder später würde die Geschichte weitergehen, in die es mich verschlagen hatte und von der ich nie angenommen hätte, dass sie sich noch bizarrer weiterspinnen würde als die Absurdität hinter meiner Kellertür. Am Morgen des fünften Tages bekam ich kein Mitbringsel zum Frühstück. Dafür erhielt ich zur Mittagszeit Besuch von jemandem, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Es war Jóndere Moréaval, der einen Korb mit einem Holzdeckel im Arm hielt. Er schloss die Tür mit dem Fuß hinter sich und stellte seine Last auf dem Tisch ab. Im Korb knurrte und bewegte sich etwas.

„Was bringt Ihr mir denn da?”, fragte ich verwirrt. „Ein Tier?”

Er lüftete vorsichtig den Deckel und zog etwas Pelziges aus dem Korb hervor, das fauchte und ganz und gar unfreundlich klang. Soweit ich es erkennen konnte, war es eine zierliche scheckige Katze. Sie hieb mit ihren Krallen wild um sich und versuchte, ihn zu beißen. Aber er trug seine leicht gepanzerten Waffenhandschuhe, und so gelang es ihr nicht, ihn zu kratzen.

Obwohl die Mieze mir leid tat, war ich gerührt. Offenbar hatte es sich bis zu den yarlay herumgesprochen, dass ich mich nach Gesellschaft sehnte.

In diesem Moment glückte es der Katze, sich aus seinem Griff zu entwinden. Ehe ich es mich versah, war das Tier unter dem Bett verschwunden.

Das war dem jungen Ritter sichtlich unangenehm. Er kniete nieder und versuchte, unter die Matratze zu greifen. Unter der Schlafstatt ertönte ein Knurren und Zischen, das nichts Gutes verhieß. Etwas kratzte hörbar über Metall, und Moréaval wich rasch zurück.

Ich musste unwillkürlich schmunzeln, zum ersten Mal seit Tagen. Offenbar hatte die wehrhafte Katze ihm die Krallen über seine Armschiene gezogen.

„Lasst es gut sein, yarl Moréaval. Das Kätzchen hat Angst vor Euch. Ich werde mich darum kümmern … sobald es wieder hervorkommt. Vielleicht gelingt es mir, sie zu zähmen. Ich danke Euch sehr für Eure Aufmerksamkeit.”

Er erhob und verneigte sich. Mir kam eine Idee.

„Yarl Moréaval … sagt … kann ich Euch um etwas anderes bitten?”

Er wandte sich mir zu. Ich hatte seine Aufmerksamkeit.

„Ist es Euch wohl möglich, bei der teiranda um eine Audienz für mich anzufragen? Es wäre mir wichtig, mit Eurer Herrin reden zu können.”

Er antwortete mir, höflich, aber absolut unverständlich. Dann nahm er seinen Korb und ging wieder, schnell, aber ohne auffällige Eile. Gewiss war er unerlaubterweise zu mir gekommen. Oder Kíaná von Wijdlant hatte ihn geschickt, obwohl ich das eher nicht annahm.

Ich wartete einen Augenblick und ließ mich dann vor dem Bett auf alle viere nieder.

„Hallo, Kätzchen”, sagte ich. „Du musst vor mir keine Angst haben! Ich tu dir nichts!”

Im hintersten Winkel funkelten mich leuchtendgrüne Augen an. Es grollte bedrohlich.

„Der yarl hat es doch nur gut gemeint. Er wollte dir bestimmt nicht wehtun. Hier bist du in Sicherheit!”

Sie hörte auf, zu knurren. Stattdessen maunzte sie verächtlich und drehte mir dann den Rücken zu. Ich sah nur noch schattenhaft ein kompaktes Fellbündel.

Ich erhob mich wieder und kehrte zu meinem Sessel zurück. Ich hatte niemals eine Katze als Haustier gehabt, aber einmal gelesen, dass es seine Zeit braucht, um das Vertrauen solcher Tiere zu gewinnen. Sicherlich würde das eine ganze Weile dauern, nachdem der yarl die arme Samtpfote wahrscheinlich irgendwo zufällig aufgelesen und kurzerhand in den Korb gesteckt hatte.

Ich vertiefte mich wieder in den Kitschroman. Das Buch linderte tatsächlich ein wenig die zermürbende Grübelei.

Die Stille im Raum war betäubend. Geräusche vom Hof oder aus anderen Teilen der Burg waren gedämpft, eine träge, wattige Stille, die mich bald wieder schläfrig machte. Nach ein paar Stunden vergaß ich sogar, dass die Katze da war, denn unter der Matratze blieb alles ruhig. Vielleicht schlief sie.