
Waýreth Althopian hatte für seine Reise einen anderen Weg gewählt als der Schattensänger und seine Begleiterin, natürlich ohne es zu ahnen. Um das teirandon Valvivant zu verlassen, hielt er nicht geradewegs und querfeldein auf die Burg von Wijdlant zu, sondern wählte die offiziellen, befestigten Straßen. Isan ahnte, was er damit bezweckte: Sollte Benjus von Valvivant ihnen jemanden nachschicken, der sich vergewisserte, ob der Ritter tatsächlich nach Norden unterwegs war, ließ sich seine Spur ausreichend lange verfolgen, ohne dass Verdacht erwachte.
Unterwegs ließ der Ritter keine Gelegenheit verstreichen, die Menschen, die ihnen begegneten nach dem camat’ay und der fánjula zu fragen. Aber niemand wollte sie gesehen oder etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Vielen schien allein der Gedanke, ein Schwarzmantel könne durch die Welt streifen, absurd. Isan entging nicht, wie so mancher hinter dessen Rücken den Kopf über den Ritter schüttelte.
Das Mädchen dachte darüber nach, ob der yarl sich möglicherweise irrte. Vielleicht war der Schattensänger überhaupt nicht nordwärts gegangen, sondern befand sich schon längst jenseits des Montazíel, möglicherweise auf dem Weg nach Auropéa, um dort das zu beenden, woran vor ihm ein anderer gescheitert war. Das schauderhafte Gemälde in der Halle von Valvivant hatte Isan in den vier Sommern, die sie dort verbracht hatte, täglich vor Augen gehabt. Ohne Zweifel: Wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen, würden die Schattensänger die Regenbogenritter vernichten wollen. Dann würden Pataghíu und Noktáma sich über dem Weltenspiel zerstreiten. Und wer würde dann die Chaosgeister in ihren Schranken halten?
Waýreth Althopian würde schon wissen, was er tat. Abgesehen davon war es ganz bestimmt ohnehin das Beste, wenn sie beide am Ende glücklich in seinem yarlmálon anlangten, ohne gefährlichen Widersachern zu begegnen.
Und doch regte sich ein Fünkchen Neugier in dem jungen Mädchen, wann immer es sich ausmalte, was wohl geschehen würde, angenommen, dass der Schattensänger plötzlich vor ihnen auftauchen würde. Ohne Zweifel würde der yarl – auf welchem Wege auch immer – den Sieg davontragen und den Unhold überwinden. Andererseits … einem Schwarzmantel zu begegnen, barg eine gewisse Faszination. Althopian würde eine Dame beschützen, selbst wenn es sich nur um ein doayra-Lehrmädchen vor seinem fünfzehnten Sommer handelte.
Weder Isan noch ihre Kameradinnen, nicht in Valvivant und nicht in Isans Heimatdorf hätten es jemals zugegeben. Doch wenn sie Legenden über Schattensänger gehört oder untereinander weitererzählt hatten, waren sie alle auf eine wohlige Weise erregt gewesen.
Früher, daheim, bevor Isan nach Valvivant gegangen war, um zu lernen, hatten die Alten im Dorf an langen Winterabenden schaurige Geschichten von den Schwarzmänteln erzählt. Wie sie einst aus heiterem Himmel auf den Schlachtfeldern auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden, scheinbar ohne ein Ziel zu verfolgen. Von den unheimlichen Begebenheiten, die geschahen, sobald einer von ihnen unter den Menschen auftauchte. Vom Unheil, das über jene gekommen waren, die mit den Schattensängern einen Pakt eingegangen waren. Und immer wieder davon, dass selbst das keuscheste Mädchen, der untadeligste junge Mann angesichts ihrer schieren Gegenwart von überwältigendem Verlangen ergriffen wurde. Wer sich von Schwarzgewandeten verführen und sich hinreißen ließ, sich ihnen hinzugeben, würde dies mit einem Augenblick höchster Beglückung und seinem Leben bezahlen. Genaueres hatten die Erwachsenen nicht erklärt. Und gerade dieses Unausgesprochene hatte die Phantasie über die Maßen beflügelt.
Wenn Isan und ihre Freundinnen unter sich waren, hatten sie verschämt errötend gekichert, versucht, die Angst hinweg zu lachen, wenn das Gespräch darauf gekommen war. Sie hatten ihre Vermutungen.
Aber was mochte wirklich daran sein, wenn die rätselhafte Fremde sich dem Schwarzmantel unbehelligt nähern konnte? Waýreth Althopian hatte Isan bestätigt, die beiden Seite an Seite gesehen zu haben. Wie das seiner Meinung nach wohl zugehen mochte, warum die fánjula nicht augenblicklich vor Verlangen umkam, hatte Isan den Ritter nicht zu fragen gewagt. Das wäre ihr schamlos erschienen.
Ob die fánjula das mysteriöse Entzücken gespürt und auf wundersame Weise überlebt hatte?
In Vertas Schauergeschichten war der fleischliche Fluch der camat’ay nie vorgekommen. Isan hatte den Eindruck gehabt, dass die alte Frau bewusst nicht darüber sprach, sicherlich aus einem prüden, altmodischen Schamgefühl heraus. Ein einziges Mal, ganz zu Beginn ihrer Zeit in Valvivant, hatte Isan gefragt, warum sterben musste, wer sich mit Schwarzgewandeten einließ.
Verta hatte sie bedenklich angeschaut. Weil die Mächte es nicht zuließen, dass jemals ein Schwarzmantel Nachkommen zeugte oder gebar, hatte sie dann erklärt. Denn das wäre mit Sicherheit das Ende des Weltenspiels.
Und damit war das Thema beendet gewesen. Verta hatte nichts mehr gesagt und Isan hatte sich weiter ihre Gedanken gemacht, immer wenn sie an dem Wandgemälde vorbeigegangen war.
Sie ritten an nun den Außengrenzen zwischen Wijdlant und Valvivant entlang, allerdings auf den Wegen, die die äußeren Verbindungen zwischen den yarlmálon bildeten, nicht unmittelbar durch das Grenzgebiet. So kam es, dass Isan nur hin und wieder einen Blick auf Wijdlant erhaschte, als sie zuerst das Gebiet von Tjiergroen und dann das von Valeísé durchquerten. Dieses yarlmálon erstreckte sich über einige Höhenzüge, von denen einer in das Tal abfiel, wo sich der Fluss in Richtung der Berge schlängelte. Dort verschwand er in einem geheimnisvollen Höhlensystem und trat erst auf der Südseite des Montazíel wieder hervor, um einen Tagesritt gegenüber seiner ursprünglichen Richtung zur Seite versetzt.
Isan hatte das alles nicht gewusst, aber Waýreth Althopian hatte es ihr unaufgefordert erklärt. Offenbar war dem yarl das lange Schweigen auf dem Ritt ebenso unangenehm wie ihr. Doch worüber hätten sie sich unterhalten sollen? Isan war zufrieden damit, in Begleitung des edlen Herrn zu reisen und einsichtig genug um zu ahnen, dass Mädchengeplapper ihm vermutlich bald auf die Nerven gegangen wäre. Sie bedauerte, dass sie den Herrn nicht mit für ihn sicherlich interessanten Dingen unterhalten konnte.
Andererseits hatte der yarl sicherlich ernste, schicksalhafte Gedanken im Kopf. Selbst als sie jeweils in den Abendstunden eine der Herbergen erreicht hatten, die in regelmäßigen Abständen die Straßen säumten, war der Ritter schweigsam gewesen. Das war besser so, entschied Isan. Was brächte es, wenn sich Unbeteiligte schräge Gedanken darüber machten, dass ein Ritter mit einem so jungen Mädchen umherreiste? Sie erwähnte beiläufig gegenüber demjenigen, der ihr in der jeweiligen Abendgesellschaft am geschwätzigsten schien, dass sie eine doayra-Schülerin auf dem Weg zu einer neuen Lehre sei. Es habe sich zufällig ergeben, dass der Ritter einen Teil derselben Wegstrecke hatte. Dann gab sie sich angeregtem Tratsch hin und notierte mit Genugtuung, dass man den schweigsam yarl bei seinem Bier und Brot unbehelligt ließ.
Waýreth Althopian zügelte sein Pferd und blickte gedankenversunken in das Tal, über den Fluss hinaus und hinüber zur Ebene, die sich dahinter erstreckte. Es war ein nebliger, kühler Tag. In der Weite ragten hier und da krüpplige Bäume aus dem Dunst.
„Von hier aus wären es zwei nun Tagesritte zur Burg der yarlay von Altabete. Wir könnten den Weg abkürzen, aber ich halte es für besser den Boden von Wijdlant zu vermeiden, solange es geht und im letzten Moment scharf abzubiegen.”
„Wie Ihr denkt, Herr.”
Er wandte sich ihr zu. Sie blickte auf und ließ die Hände sinken, mit denen sie ihrem Maultier Zöpfchen in die Mähne geflochten hatte, soweit ihre Arme reichten.
„Willst du mich tatsächlich weiter begleiten? Von hier aus würdest du ohne Schwierigkeiten deinen Weg finden. Du musst dem Fluss folgen, bei Gelegenheit übersetzen und dann immer weiter nach Osten, auf das Hochland zu. Die Straßen sind gut beschildert. Ich gebe dir meine Empfehlung und Geld für die Unterkünfte, in denen du einkehren musst.”
„Ich möchte Euch nicht in Euer eigenes Haus vorauseilen, Herr”, sagte Isan munter.
„Ich weiß nicht, ob ich selbst in mein Haus zurückkehre. Ich weiß nicht, was ich in Pianmurít finde.”
„Aber dann ist es doch umso wichtiger, dass jemand Euren Leuten berichtet, was Euch zugestoßen ist”, plapperte Isan und verfluchte sich im selben Moment für ihr loses Mundwerk.
„Du bist ein bedachtsames Mädchen.”
„Ihr macht mich verlegen, Herr.”
„Ich glaube nicht, dass das möglich wäre.” Er ritt weiter. Sie errötete und folgte ihm.
„Herr”, fragte sie, während sie einen Pfad hinab ins Tal suchten, „Ihr werdet doch der yarlara den Ring zurückbringen, oder?”
„Ich könnte dich nun fragen, wieso du von dem Ring weißt.”
Sie zuckte die Achseln. „Nun ja. Frauendinge.”
„Dann weißt du auch, dass ich mich selbst in Todesgefahr gebracht habe, um ihr nachzueilen wie ein betrunkener Narr. Und du kannst dir denken, wie belangreich es ist, dass ich nun meine Schuldigkeit rasch zu Ende bringe. Anschließend kann ich mich auf meine privaten Dinge konzentrieren.”
„Sagt, Herr… kanntet Ihr die yarlara schon, bevor es Euch nach Valvivant verschlug?”
„Nein. Nicht von Angesicht zu Angesicht. Aber natürlich war mir klar, wen ich vor mir hatte. Ich wusste, wer sie ist und war über all die ehrsamen Dinge informiert, die man zu ihrem Ruhm erzählt.”
„Was erzählt man denn von ihr?”
„Männerdinge.”
Isan warf ihm einen verstörten Blick zu, aber er lachte. „Mädchen, du wirst doch wissen, dass die báchorkoray nicht nur wundersame Geschichten von Burg zu Burg tragen, sondern auch den Lobpreis ihrer großzügigen Gastgeber. Das betrifft auch holde Damen.”
„Na ja. Schon. Aber fahrende báchorkoray übertreiben doch immer maßlos, und außerdem singen sie für Geld.”
„Manchmal bleiben sie bei den Tatsachen. Die yarlara ist genau so, wie man sie mir einst geschildert hat.”
„Báchorkoray haben Euch die yarlara geschildert?”
„In vorzüglichsten Worten, die ihr doch nicht annähernd gerecht werden.”
„Sie ist wirklich bildschön. Ich wünschte, ich hätte nur einen Hauch ihrer Anmut für mich selbst, wenn ich einmal älter bin.”
„Warum wünschst du dir nicht, einen Hauch der Weisheit und Milde zu haben, für die sie weit über Iváal hinaus gerühmt wird?”
Das überraschte Isan. Aber über die Klugheit der schönen Dame konnte sie nicht urteilen.
„Wie sich herausstellte”, fuhr Waýreth Althopian nach einer Weile fort, „hatte die yarlara auch schon von mir gehört, in ihrem so fernen yarlmálon. Und wenn ich jemals herausfinde, welcher báchorkor ihr solchen hanebüchenen Unfug über mich ins Ohr gesetzt hat, werde ich den eigenhändig… nun, ich hätte mir jedenfalls nicht träumen lassen, dass ausgerechnet mein Name ihr im Gedächtnis geblieben ist.”
„Ihr macht Euch zu klein, Herr. Alle Welt weiß, dass ihr ein tapferer Recke und unbesiegbarer Kämpfer seid, und wie artig und gebildet Ihr Euch betragt, und…”
„Schweig! Du bringst mich in Verlegenheit. Außerdem ist das lauter Unfug. Als Nächstes behauptest du noch, dass ich halbwegs wohlgefällig aussehe.”
„Natürlich tut Ihr das”, rutschte es Isan heraus, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte.
Er seufzte, rügte sie aber nicht für ihren Vorwitz.
„Ich weiß”, sagte er, während sie dem Pfad abwärts folgten, „dass die Mächte mich fernab meiner und ihrer Heimat mit der yarlara zusammengeführt haben. Ich vermute, du bist bestens darüber informiert, dass ich in jener fatalen Nacht … Zeit mit ihr verbracht habe?”
Isan nickte. Es erschien ihr aber unnötig zu erwähnen, dass auch sämtliche Büsche ringsum voller neugieriger Augen und Ohren gewesen waren, als das Paar sich im Rosengarten getroffen hatte. Die Entourage der eld-yarlara war bestens informiert.
„Sie ist die Dame, die die Mächte für mich bestimmt haben. Die geheime Botschaft, die du mir zugespielt hast, beweist mir, dass sie das ebenso empfindet. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde, als sie als meine hýardora in mein Haus zu führen.”
„Aber dann läuft Euch die Zeit davon! Sie sind auf dem Weg nach Forétern, wo ihre Mutter sie anderen Herren vorstellen will. Was, wenn einer von denen ihr hýardor werden will?”
„Wenn ich eigensüchtig bin, wird es womöglich keine Zukunft für uns geben. Ich muss Prioritäten setzen, um unser aller und mein persönliches Glück willen. Siehst du dort drüben, Mädchen? Siehst du das teirandon Wijdlant hinter dem Fluss?”
„Natürlich. Es ist ziemlich dunstig in den Auen.”
„Nein, Mädchen. Das ist nicht der Dunst. Es ist etwas unter dem Dunst, etwas, das aus dem teirandon herauszukriechen scheint. Was immer es ist: Ich will verhindern, dass es sich Bahn bricht. Doch dazu brauche ich die Hilfe von Andriér Altabete und den anderenyarlay.”
„Und was ist mit dem Schwarzmantel, wenn wir ihn finden?”
„Der, Mädchen, mag vielleicht nicht auf unserer Seite sein. Aber ich denke, er hat dasselbe Ziel.”
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