Yalomiros Tortur begann am vierten Tag. Zumindest nahm der Schattensänger an, dass vier Tage vergangen waren, seit Gor Lucegath ihn in Pianmurít zurückgelassen hatte. In der Leere fing sein Zeitgefühl an, zu verwischen.

Bis dahin hatte er sich seine Disziplin bewahren können. Das war weit länger, als ein Unkundiger unter diesen Umständen hätte Widerstand leisten können, doch auch die Selbstkontrolle von Magiern gelangt an Grenzen.

Kaum dass der Rotgewandete verschwunden war, hatte Yalomiro probiert, ob er die Fesseln hinter seinem Rücken lösen konnte, indem er sie an den goldenen Dornen entlang führte. Das peinvolle Glutgefühl auf seiner Haut hätte er dafür in Kauf genommen. Aber es war misslungen, denn die scharfen Spitzen befanden sich außerhalb seiner Reichweite. Wie sehr er auch versuchte, sich mit den fest geschnürten Armen zu verrenken, er langte nicht heran.

Zunächst hatte Yalomiro es als Erleichterung empfunden, dass er keine körperlichen Bedürfnisse verspürte wie Durst, Hunger oder die Notwendigkeit, sich zu erleichtern. Solche Dinge wären einem Unkundigen rasch unbehaglich geworden. Doch je mehr er darüber nachdachte, zögerte dieser Umstand das Unausweichliche nur hinaus; sicherlich gerade so lange, wie Gor Lucegath brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Yalomiro hatte keine Vorstellung davon, wie lange camat’ay ohne Mond- und Sternenlicht überleben konnten. Doch bei den Mächten, bei Noktáma selbst – ohne Zweifel hatte der Rotgewandete die Gelegenheit genutzt, es an einem seiner Opfer herauszufinden. In Pianmurít, was immer dieser Ort war, gab es jedenfalls weder Licht noch Dunkelheit. Inmitten dieser diffusen Zwischenwelt würde seine Kraft ihn langsam verlassen, austropfen wie Wasser aus einem Eimer mit einem winzigen Loch. Wenn er zu lange an diesem Ort blieb, das war Yalomiro klar, würde er darin verwelken.

Was geschah mit der ujora? Wie erging es ihr in der Welt, in der Kíaná von Wijdlant mit ihrem Gefolge weilte?

Er hatte über die Dinge nachgedacht, die Gor Lucegath ihm offenbart hatte und die er immer noch nicht so recht verstand. Liebe? Sollte es ihm tatsächlich, gänzlich unbemerkt widerfahren sein, dass das unvorstellbare Gefühl in ihm erwacht war? Waren diese Emotionen, diese Regungen, dieses Verlangen und dieses Glück, die er in sich spürte und für die er überhaupt keine Worte kannte, tatsächlich das, was unvorstellbar für Schattensänger war?

Wie kam es, dass der Rotgewandete offenbar alles darüber wusste? War all das nur ein weiteres Mittel, um ihn zu verwirren? Etwas, womit der Rotgewandete ihn lediglich verspotten wollte?

Bei Noktáma, bei allen Mächten, die Unkundige war bei ihm. Und wer konnte ahnen, was dem Lichtwächter einfiel, angesichts des Wahnsinns, der sich in sein Herz verbissen haben mochte?

Es beruhigte den Schattensänger ein klein wenig, dass Gor Lucegath aus Wijdlant etwas gemacht hatte, wo Menschen zumindest existieren konnten. Die teiranda selbst war harmlos, fast anrührend angesichts dessen, was er unter Gor Lucegaths unheilvollem Zauber noch von ihr erkennen konnte. Was hatte Gor Lucegath damit gemeint, als er sagte, die Unkundige würde werden wie die teiranda, wenn zu viel Zeit verstrich?

Yalomiros Gedanken kreisten, hetzten, gerieten ins Stocken und taumelten sinnlos voran. Dort, wo er nun war, konnte er nichts unternehmen. Alles, was ihm hier übrig blieb, war, zu warten.

Die Leere war zermürbend. Es gab nichts ringsum, womit Yalomiros Sinne sich beschäftigen konnten. Anfangs hatte er versucht, zu singen, sich an seiner eigenen Stimme festzuhalten. Aber es funktionierte nicht. Sein Gesang wurde von Pianmurít vertilgt wie von einem gefräßigen Tier, und so verstummte er nach einer Weile.

Dann hatte er begonnen, auf seinen eigenen Herzschlag, das Pochen des Blutes in seinen Adern zu lauschen. Auch diese Geräusche verhallten ungehört. Er war, als sei alles ausgelöscht, was von ihm selbst nach außen drang.

Es gab nichts, an dem sein Blick Halt fand, keinen Punkt, auf den er sich konzentrieren konnte, bis auf die Spitzen jener goldenen Dornen, die von allen Seiten auf ihn gerichtet waren wie riesige Nadeln, wir die Krallen eines lauernden Tieres. Um ihn herum war lediglich dumpfes graues Garnichts. Nichts, worauf er sich besinnen könnte, um nicht wahnsinnig zu werden.

Was war Pianmurít nur für ein Ort? Wo befand er sich? Hatte Gor Lucegath allen Ernstes Leere erschaffen?

Und dann drangen die Schmerzen zu ihm durch. Die Willenskraft, die ihn bislang aufrecht und wach gehalten hatte, wurde spärlicher, durchlässiger. Der Schattensänger konnte seinen Leib nicht mehr länger ignorieren.

Die Marter begann also, ohne dass Gor Lucegath ihn anrührte. Die unebenen Steine unter Yalomiros Füßen, die Fesseln, die ihn schnürten, die Unmöglichkeit, tief atmen zu können, all das wurde unerträglich. Sein eigener Körper begann, gegen ihn zu arbeiten.

Der Schattensänger hätte alles dafür gegeben, sich bewegen, setzen oder niederlegen zu können. Er war erschöpft. Zugleich bahnten sich ziehende, brennende Schmerzen sich ihren Weg durch seine Muskeln. Eine Zeitlang half das dem Magier, sich zu konzentrieren, bis die Pein immer diffuser und allumfassender wurde. Sein Körper tränkte sich langsam damit wie ein Tuch, das mit einem Zipfel in Wasser geraten war.

Yalomiro schreckte auf und wimmerte vor Wut. Er durfte es nicht zulassen, dass die Agonie das Bewusstsein aus seinem Körper verdrängte, hinein in etwas, in dem er sich möglicherweise auflösen würde. Und so begann er, gegen sich selbst zu kämpfen.

Das ging eine Zeitlang gut. Dann ergriff ihn Unruhe, ein jähes Gefühl in seinem Kopf, als begänne sein Gehirn schmerzhaft zu kribbeln. Er ertrug es kaum, verspürte den unbändigen Wunsch, seinen Schädel aufzubrechen und sich zu kratzen. Er riss an seinen Fesseln, ohne sich damit auch nur fingerbreit Beweglichkeit zu verschaffen. Seine Beine fühlten sich an, als krabbelten Ameisen über rohes Fleisch und verspritzten ihre Säure dabei. Bis in seinen Rücken strahlten die Krämpfe aus.

Yalomiro lachte lautlos in bitterer Hilflosigkeit auf. Seine qualvolle Haltung verlangte ihm mehr Kraft ab, als ihm angesichts seiner rasenden Gedanken blieb. Gedanken… in ihm tobten gehetzte Bilder, die um die Unkundige und den Rotgewandeten kreisten, und zugleich waren da andere, viel schlichtere Emotionen.

Die Unkundige … bei den Mächten, bei Noktáma, wenn der Rotgewandete sie nur unbehelligt lassen würde! Wenn sie nur die Gelegenheit genutzt und ihn allein gelassen hätte …

Wenn sie nur bei ihm wäre, er sie sehen und ihre Gegenwart spüren könnte!

Schlafen… nur einen winzigen Moment lang schlafen und in die Sicherheit eines Traumes fliehen…

Er nahm all seine Willenskraft zusammen. Er musste dem Schmerz etwas entgegensetzen. Vielleicht half es, sich meditativ in seinen eigenen Geist zurückzuziehen? An einen Ort zu fliehen, an dem es sicher und geborgen war?

Yalomiro schloss die Augen und beschwor eine kostbare Erinnerung hinauf. Die Nacht und den See und die Stille.

Einen Augenblick lang gelang ihm das. Er sah das Wasser vor sich, einen tiefschwarzen Spiegel inmitten wispernder Bäume und flirrendem Mondlicht auf den Wellen. Nächtelang hatte er einst still am Ufer gesessen und sich an der ewigen Herrlichkeit der Nacht erfreut. Die Sterne, das Wasser und der Wald, sie hatten ihn behütet, und es war so schön gewesen.

Ujora“, wisperte er in die Leere. Ja, sie sollte bei ihm sein. Dann erst wäre es vollkommen. Sie sollte auch die Nacht anschauen, spüren und mit ihm teilen. Er wollte sie neben sich fühlen, ihre Wärme und Innigkeit empfinden, und …

Sein linker Fuß rutschte ab. Er stolperte ruckartig in die Tiefe, denn die Steine waren sein einziger fester Halt in der Inexistenz von Pianmurít. Für einen Atemzug nur war er eingeschlafen.

Die goldenen Dornen fingen ihn auf. Stoff und Fleisch wurde aufgeritzt, heißer Schmerz durchfuhr ihn und riss ihn endgültig wieder zurück ins Bewusstsein. Yalomiro keuchte vor Überraschung.

Die Golddornen bewegten sich. Als sei er ein Stück Fleisch auf einer Gabel, richtete das Metall seinen Leib wieder auf. Seine Füße mussten zurück auf die Steine treten, damit er sich davon lösen konnte. Yalomiro wimmerte, als er es tat. Er spürte die unebene Oberfläche selbst durch seine Schuhsohlen hindurch wie die Spitzen dicker Nägel.

Die magischen Goldspieße glitten zurück. Hauchdünne Kratzer pulsierten auf seiner Brust und Schulter. Der äußere Schmerz prallte auf den inneren, und beide sorgten dafür, dass der Schattensänger für einen Moment wieder hellwach war.

Nein. Schlafen war unmöglich. Von Geborgenheit auch nur zu träumen, würde bestraft. Wie lange konnte er das durchhalten?

Einige Weile gelang es ihm, standhaft zu bleiben. Dann ertrug er die Krämpfe und die Müdigkeit erneut nicht mehr. Seine Beine knickten ihm weg, das Gold zerkratzte ihm wieder den Leib, der Schmerz jagte ihn erneut zum Stehen. Das würde noch oft geschehen. Wieder und wieder und wieder. Der Schattensänger litt, ohne dass der Rotgewandete auch nur einen Finger rühren oder ein Fünkchen Magie opfern musste.

Yalomiro atmete so flach, wie es ging.

Auf welche Weise die anderen Schattensänger wohl hinter die Träume gefunden hatten? Was hatte Gor Lucegath ihnen zugefügt? Was hatte Meister Gíonar, der Mächtige, Strenge und Weitsichtige erdulden müssen, bis er dem Lichtwächter sogar den Weg in den Schatten verraten hatte?

Was hatte der Rotgewandete wohl Arámaú angetan? War es wenigstens für sie schnell vorbei gewesen?

Nein! Er durfte nicht an Arámaú denken, nicht an diese winzige, diese irrsinnige Hoffnung, die er im Herzen trug, seit er ihre längst vergangene Anwesenheit in den Schatten gespürt hatte und die so gut zu der absurden Geschichte passte, die Daap Grootplen erzählt hatte. Arámaú musste aus seinem Geist verschwinden, bevor ihm diese Zuversicht entwische und Gor Lucegaths Interesse erregen konnte.

Der Gedanke, dass nun auch die Unkundige dem goala’ay ausgeliefert war, während er hier stand und herausfand, wie viel Qual sein Körper bewältigen konnte, machte den Schattensänger rasend. Aber die Wut, die sich in ihm aufstaute, ging ins Leere, zertrümmerte ärgerlich einige zarte Hoffnungen und versuchte, wieder in sein Herz zurückzukehren.

Yalomiro bemerkte es gerade noch rechtzeitig und verschloss sich davor. Wenn es etwas gab, das er nicht gebrauchen konnte, war es Hass. Hass war verderblich, roh. Eines Magiers nicht würdig.

Wieder setzte der Schattensänger dazu an, seine Lage ergründen zu wollen. Wo befand er sich? Was war Pianmurít für eine sonderbare Zwischenwelt? Wie hatte der goala’ay es vollbracht, einen Zugang dorthin zu schaffen, der es ihm erlaubte, Personen hinein- und hinauszuschleppen, wie es ihm beliebte?

War das hier ein Raum, ein Zustand, eine Leere, die allein in Gor Lucegaths Willen bestand?

Nein, das wäre lächerlich. Kein lebendiges Wesen wäre in der Lage, dies hier zu denken. Das war nicht der Traum oder die Phantasie eines Magiers, dessen Kräfte außer Kontrolle geraten waren. Dazu war es entschieden zu real. Aber was war es, worin der goala’ay offenbar weit tiefer verstrickt war, als es den Anschein hatte?

Egal, was es war: Er musste hier heraus! Er musste aus der Leere entfliehen! Er musste die Unkundige beschützen, bevor der Rotgewandete sie ebenso verdarb, wie er es mit der teiranda vollbracht hatte.

Yalomiro schaute an sich herab. Am Revers seines Mantels entdeckte er einen losen Faden, dort, wo das Gold den Stoff durchdrungen hatte. Das beunruhigte ihn. Hätte dieser kleine Schaden sich nicht längst selbst richten müssen?

Die drohenden Spitzen waren unüberwindbar. Sie warteten nur darauf, ihn zu packen, sobald er sich bewegte oder erneut die Kontrolle über seinen Körper verlor. Zu fein und dünn, um ihn zu töten, falls er stürzte. Aber spitz und scharf genug, damit er sich selbst daran verletzen würde, wieder und immer wieder.

Der Rotgewandete würde ihn nicht sterben lassen. Er hatte etwas anderes mit ihm im Sinn.

Yalomiro starrte das Gold an, und es starrte zurück und verhöhnte ihn. Wie lange, Schattensänger, widerstehst du? Wie lange kannst du kämpfen? Wann wird sie verbraucht sein, deine Kraft? Wann wird er zerbrechen, dein Wille?

Wirst du so tief sinken, ihn um Gnade anzuflehen, ihn, der sich nicht einmal dazu herablässt, persönlich beizuwohnen, wenn du um jeden Augenblick kämpfst?

Der Magier seufzte und schloss die Augen. Vielleicht war es fruchtbarer, den Verstand auf etwas anderes zu richten. Aber da war nichts außer dem Hass, der ihn verlockte und den Schmerzen in seinem eigenen Körper; die schnellen, scharfen Wunden, die das Gold ihm schlug. Die Fesseln, die seine Arme verrenkten, sodass er sich nirgends festhalten oder abstützen konnte. Die Steine, unter seinen Füßen, von denen aus sich Krämpfe aufbauten, die durch seine Beine und hinauf in seinen Körper krochen und schon zwischen seinen Schulterblättern züngelten. Das Fädchen am Rande seines Blickfeldes, das ihn in den Wahnsinn treiben würde, so übermächtig verspürte er den Drang, es zu entfernen.

Was, wenn tatsächlich der Moment kam, in dem er das alles nicht mehr ertrug?

Was, wenn ein Moment käme, in dem er bereit war, dem Rotgewandeten zu geben, was er verlangte?

Was, wenn er hier in der Leere zerbrach?

Noktáma, wisperte Yalomiro, Noktáma, wenn du weißt, dass ich hier bin, dann gib mir einen Rat!

Er gab sich einen Ruck und begann erneut, zu singen, einen kleinen Zauber nur, der ihm einen Augenblick der Erlösung bringen sollte.

Aber seine Stimme erlosch augenblicklich in der Leere. Das hier war ein Ort, an dem es sich weder lohnte zu schreien, noch zu singen oder um Gnade zu betteln.

So brach der fünfte Tag an, und seine maghiscal begann, sich aufzulösen wie Nebel unter der Sonne.