Die teiranda zögerte. Dann näherte sie sich dem Rotgewandeten und neigte sich über ihn.

„Meister?”, fragte sie, aufrichtig besorgt.

Yalomiro erhob sich. Die Ritter ließen ihn gewähren, ohne ihre Waffen von ihm zu nehmen. Er atmete schwer und schaute verwirrt auf seinen leblosen Feind herab.

„Ist er tot?”, flüsterte ich und sah zu Yalomiro hinüber. Ein winziger Anflug von Hoffnung überkam mich und entsetzte mich im selben Moment zutiefst.

Auch Yalomiro schien verstört über den regungslosen Körper. Er wollte näher an ihn herantreten, aber die yarlay hielten ihn in Schach. Mir war, als wären sie ebenfalls verunsichert.

„Hast du ihn getötet?”, wisperte ich Yalomiro zu.

„Nein”, bekam ich zur Antwort. „Zumindest nicht willentlich.”

„Meister!” Die teiranda kniete neben ihm nieder und rüttelte zaghaft an der Schulter des Rotgewandeten. Für einen Moment flog Entsetzen über ihr makelloses Gesicht. „Meister! Meister Gor! Kommt zu Euch!” Sie schüttelte ihn fester. „Lasst … lasst mich nicht allein!”

Sie schien nahe daran, in Tränen ausbrechen. Doch dann kam wieder Bewegung in den goala’ay. Gor Lucegath atmete keuchend ein, als sei er kurz vorm Ersticken. Sein Gesicht war verzerrt, einen Moment lang sah es aus, als habe er furchtbare Schmerzen. Die Augen unter der Maske glänzten und flackerten blicklos vor sich hin.

„Meister, was ist Euch geschehen?”, fragte die teiranda besorgt, aber offensichtlich erleichtert darüber, dass der Magier noch lebte. Die beiden Ritter schienen eher enttäuscht, soweit ich ihre Haltung deuten konnte.

„Es ist gut”, brachte der Rotgewandete hervor. Er atmete schwer und setzte sich mühsam auf. „Gebt mir einen Moment.” Einen Augenblick lang hielt er sich den Kopf und blieb still sitzen. Sein Schweigen war kaum auszuhalten.

Dann schaute er zu uns hinüber und lächelte müde.

„Willkommen in Pianmurít”, sagte er.

„Was ist das hier, Meister Gor?”

„Das hier? Nun … es ist … nichts. Schlicht gar nichts.”

„Ich bin beeindruckt”, antwortete Yalomiro. „Aber es wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Wie können die Unkundigen hier sein? Wie können wir alle an einem Ort sein, den es nicht gibt?”

„Es ist nebensächlich, wie du hergekommen bist. Du siehst, nicht einmal im Schatten kannst du dich verstecken.”

„Ich sehe, dass Euch das Kunststück, das Ihr aus meinesgleichen herausgepresst habt, immerhin sehr viel Kraft gekostet hat.”

„Nun, das war die Sache wohl wert.” Der Rotgewandete versuchte, aufzustehen, aber es gelang ihm nicht auf Anhieb. Ein, zweimal sackte er wieder zurück. Die Ritter machten keine Anstalten, ihm zu helfen, Es war die teiranda, die ihm schließlich aufhalf. Schließlich stand er, schwankend, gebeugt.

Die beiden Magier schauten sich einen Moment lang schweigend an. Yalomiro schien auf eine sehr sonderbare Weise zutiefst fasziniert und zugleich besorgt zu sein.

„Bei den Mächten, Gor Lucegath! Mit welcher Zauberkunst habt Ihr das vollbracht? Welchen Preis zahlt Ihr dafür?”

Der goala’ay atmete schwer. Es war befremdlich, wie geschwächt er wirkte.

„Es sieht aus, als habe es fast Eure gesamte maghiscal mit einem Ruck von Euch gerissen”, redete Yalomiro weiter. „Geht es Euch gut damit?”

„Ich wusste, dass das geschehen würde”, entgegnete Gor Lucegath. „Aus diesem Grund sind die Menschen hier. Für das, was nun zu tun bleibt, benötige ich kaum noch Magie. Dies ist meine Domäne. Du kannst hier nicht zaubern und nicht kämpfen. Und für den Fall, dass du es doch versuchst … die Herren sind nicht nur hier, weil sie leidlich geschickt mit ihren Waffen sind.”

Diese subtile Drohung begriff sogar ich. Mir war elend. In dieser flirrenden, substanzlosen Leere zu stehen, fühlte sich entsetzlich an. Yalomiro schien besser damit zurechtzukommen. Vielleicht stellte die Umgebung sich seinem Verstand anders dar als dem meinen. Kíaná und ihre Ritter schienen den seltsamen Ort einfach so hinzunehmen. Das war bizarr.

„Was immer Ihr vorhabt, Meister Gor”, äußerte Yalomiro eindringlich, „lasst davon ab! Das ist selbst für Euch zu gefährlich!”

„Du musst dir keine Gedanken um das machen, was ich mir zumute. Und nun händige der teiranda deine Tasche aus, Schattensänger.”

„Nichts, was sich darin befindet, ist Euch von Nutzen.”

„Ich weiß bereits, was an nutzlosem Kram darin ist. Ich werde dich nicht bestehlen.”

Er hob das Bündel von seiner Schulter. Kíaná von Wijdlant nahm es an sich. Ich war bestürzt.

„Ich spüre deine Besorgnis, Ujora”, fuhr der Rotgewandete beiläufig fort. „Würde es dich wohl ruhiger stimmen, wenn ich dir verspreche, ihn vorerst nicht anzutasten? Weder mit Magie noch mit Gewalt, noch nicht einmal mit meinen bloßen Händen? So lange bis er sich endlich bequemt und aus freien Stücken auf den Weg macht, um das ay’cha’ree herbeizuschaffen?”

Ich zuckte zusammen. Ich war von der ganzen absurden, surrealen Situation so verwirrt und benommen, dass ich gar nicht damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden.

„Wie könnte ich Euch vertrauen, nach alldem, was geschehen ist?”, fragte ich und wunderte mich über den Trotz, der urplötzlich in mir erwachte.

„Mein Wort muss dir genügen. Aber wenn du es nicht willst, sei es so. Also?”

Yalomiro wollte aufbegehren, aber der Rotgewandte hob mahnend die Hand. „Lass sie entscheiden, was mit dir geschehen soll, Yalomiro Lagoscyre. Ich halte mich heraus.”

Da gab es für mich nichts zu überlegen. Zu klar klangen Yalomiros Schreie in der Nacht auf dem Montazíel noch in meiner Erinnerung. „Bitte … tut ihm nicht wieder weh.”

„Nun gut. Aber was mache ich stattdessen mit ihm? Nun, ich glaube, ich weiß etwas, das durchaus interessant werden könnte.”

Gor Lucegath streckte die Arme aus und griff beiläufig in die Leere. Aus dem Nichts hielt er plötzlich zwei faustgroße Steine und eine Handvoll zusammengeknüllten Lederriemen im Griff. Letztere drückte er dem grüngelb gewandeten Ritter in die Hand. „Altabete, Moréaval … seid so gut und legt meinen Gast in Fesseln. Die Hände fest über den Rücken.”

„Aber …”

„Du hast deinen Willen, Ujora. Gib nun Ruhe.”

Die Ritter zögerten und wandten sich hilfesuchend der teiranda zu. Aber Kíaná reagierte nicht auf sie, selbst als einer der beiden etwas, mir nicht Verständliches, sagte.

„Wie?”, fragte Yalomiro in Richtung der teiranda. „Euren yarlay kann er befehlen wie fügsamen Dienstknechten? Das ist lächerlich!”

„Bitte, Schattensänger”, entgegnete sie sanft. „Du solltest dich fügen, so wie die anderen auch.”

„Die anderen?”

„Die, die vor dir hier standen.” Sie lächelte, ohne Arg und Häme. Ich schauderte.

„Zurück!” Yalomiro hob die Hände. Die Ritter erstarrten.

„Nur zu”, sagte der Rotgewandete. Er warf spielerisch einen der Steine hoch und fing ihn wieder auf. Offenbar stabilisierten sich zumindest seine körperlichen Kräfte. „Probier es aus. Möglicherweise tut dein Blick sogar hier seinen Zweck. Übrigens, Ujora: Mit einem Blick zu töten ist eine der merkwürdigen Fähigkeiten, über die seinesgleichen tatsächlich verfügt. Nur für den Fall, dass du immer noch daran zweifeln solltest.”

Die beiden Ritter blieben flehentlich ihrer Herrin zugewandt. Ich konnte spüren, wie sie sich fürchteten, vor beiden Magiern. Die teiranda machte jedoch keine Anstalten, ihnen irgendwie beizustehen. Sie stand mit mildem Interesse dabei und wirkte gehörig fehl am Platz. Ihre Emotionen passten ganz und gar nicht zu der angespannten Situation.

Yalomiro seufzte und wandte sich den Rittern zu. „Ihr habt nichts vor mir zu befürchten, edle Herren. Es dauert mich, zu sehen wie er Euch zu seinen Schergen degradieren kann. Aber ich erkenne Eure Not. Tut, was er von Euch verlangt, wenn er selbst zu feige – oder zu schwach – ist, mir in seiner eigenen Domäne und nach den guten Sitten von unseresgleichen gegenüber zu treten.”

„Yalomiro!” Ich war entsetzt. Die beiden Ritter schienen sich ganz und gar nicht wohl zu fühlen in ihrer Haut.

Ohne den Blick von Meister Gor abzuwenden, breitete Yalomiro wortlos die Arme aus. „Nur zu. Ich weiß, dass Euch keine andere Wahl bleibt. Bringt es hinter Euch. Ich schließe sogar die Augen für Euch.”

Er gestattete ihnen, Schlingen um seine Handgelenke zu legen. Die beiden yarlay zurrten seine Hände hinter dem Rücken am jeweils anderen Ellenbogen fest und seine Unterarme zusammen. Das sah schmerzhaft aus. Am Ende stand Yalomiro leicht gebeugt da.

„Erkennst du diese Steine, camat’ay?” Meister Gor warf die Kiesel vor Yalomiros Füße. Mit etwas Abstand zueinander kamen sie zum Liegen.

„Sollte ich das?”

„Sie gehören dir. Sie stammen aus dem Boscargén. Du selbst hast sie hierher befördert.”

Die Steine, mit denen Yalomiro mir damals die Effekte der Mauer aus Nichts demonstriert hatte! Sie waren nicht verschwunden. Sie waren hier gelandet!

„Steig hinauf”, forderte der Rotgewandete.

„Habe ich eine Wahl?”

„Nein. Du wirst zu schätzen wissen, hier in Pianmurít festen Boden zu spüren. Genaugenommen hast du damit sogar ein Stück deiner Heimat unter den Füßen.”

Yalomiro gehorchte wortlos.

„Siehst du, Ujora? Ich habe ihn nicht berührt und keine Magie an ihn verschwendet. Aber ich denke, er steht immer noch zu bequem vor mir.”

„Was soll das werden?”, fragte ich eingeschüchtert.

Der Rotgewandete griff in seine Gürteltasche und holte einen kleinen Beutel hervor, dem er eine Münze entnahm. Eine Goldmünze, um genau zu sein. Sicherlich hatte er eine Gemeinheit damit vor.

„Weißt du, was das ist, camat’ay?”

„Geld”, antwortete Yalomiro trocken.

„Es sind zwölf Münzen, Yalomiro Lagoscyre. Zu verschiedenen Zeiten haben Unkundige mich für meine Dienste damit entlohnt.”

„Oh”, machte Yalomiro bestürzt. „Solche Münzen. Ich hörte davon.”

Gor Lucegath ließ das Goldstück fallen. Es landete auf dem Rand und drehte sich einen Moment im Nichts, bevor er mit dem Fuß sein Kreiseln stoppte. Dann holte er ein weiteres hervor und warf es ein Stück neben dem ersten herunter.

Ich schaute mich zaghaft um. Kíanás Ritter folgten dem Tun des Rotgewandeten mit sichtlichem Unbehagen. Die teiranda selbst beobachtete den Magier mit diesem verzückten, abwesenden Blick, die schwarze Tasche in der Hand.

Ein eisiger Schreck durchzuckte mich. Die Geige!

Yalomiro balancierte, so aufrecht es ihm mit den verschnürten Armen möglich war, schweigend auf den Steinen, während Meister Gor einen Kreis aus Goldmünzen um ihn legte.

Schließlich war die letzte Münze gefallen. Der Lichtwächter schob sie mit der Stiefelspitze zurecht und betrachtete sein Werk. Dann schaute er auf. Seine Miene war plötzlich sehr ernst.

„Ich bin schwach, Yalomiro Lagoscyre, das hast du richtig erkannt. Aber diese Kraftlosigkeit wird nicht von Dauer sein. Ich brauche etwas Zeit, um mich zu erholen. Bis dahin weiß ich dich hier gut verwahrt. Und wer könnte es sagen – vielleicht reden wir das nächste Mal etwas ergiebiger miteinander?”

„Darauf könnt Ihr ewig warten”, meinte Yalomiro trotzig.

„Nein. Nicht ewig. Nur gerade so lange, bis du um eine Unterredung mit mir bettelst. “

Er warf einen Hauch von Magie über die Münzen. Jede verformte und vergrößerte sich, wuchs zu einem fast mannshohen, dornenförmigen Gebilde. Keines davon berührte Yalomiro, aber mehr als eine Unterarmlänge Abstand gab es zu keiner Seite. Der Schattensänger regte sich unbehaglich. Zweifellos spürte er das Gold.

„Du fragst dich, was das werden soll, Ujora?”, fuhr der Rotgewandete beiläufig fort. „Es sieht nicht allzu schlimm aus, nicht wahr? Aber warten wir ab, bis Schmerz, Schwäche oder der Schlaf ihn zum Wanken bringen. Oder bis sein Verstand unter der Last von Pianmurít mürbe wird, was immer zuerst geschieht.”

„Ihr solltet ihm nicht weh tun!”, begehrte ich erschrocken auf.

„Ich werde dabei nicht einmal anwesend sein.”

„Wie lange”, zischte Yalomiro, „habt Ihr wach gelegen, um Euch das auszudenken?”

„Wie lange”, fragte Gor Lucegath, „wird deine Kraft ausreichen, Yalomiro Lagoscyre? Wie lange dein Wille, dein Verstand? Und, wobei mich das am Meisten interessiert: Wie lange dein Stolz?” Er wandte sich zu mir um. „Und nun zu dir, Ujora. Ich muss zugeben, dass ich immer noch nicht recht verstehe, was du in diesem Weltenspiel zu schaffen hast. Aber du müsstest dir dieses unwürdige Schauspiel nicht ansehen. Du weißt, dass sich der Weltenschlüssel in meinen Händen befindet. Ich biete dir an, ein einziges Mal und ohne irgendwelche Hintergedanken, in deinem Dienste zu zaubern. Ich könnte die Magie umkehren und dich in deine eigene Welt schicken. Wenn du es willst, werde ich es tun.”

Ich zögerte. Meister Gor hatte das ganz sachlich gesagt, und ich glaubte ihm, dass er es ernst meinte. Ich zweifelte auch nicht daran, dass er die Macht besaß, den Schlüssel so zu modifizieren, dass er in die Gegenrichtung funktionieren würde.

„Ich glaube”, fügte der Rotgewandete sanft hinzu, und es lag etwas in seiner Stimme, das etwas in mir anrührte, ohne dass ich hätte sagen können warum, „dass du in deiner eigenen Welt besser aufgehoben bist als hier. Also? Wie entscheidest du dich?”

Ich schaute hilfesuchend zu Yalomiro hinüber. Er nickte. „Nimm es an. Er meint das gerade ehrenhaft und ehrlich.”

„Ich wäre dumm”, fügte der Rotgewandete beiläufig hinzu, „es dir anzubieten, um dir zu schaden und ihn damit zu verärgern. Immerhin bin ich auf seine, nennen wir es: Kooperation angewiesen. Ihm würde sicher ein Stein vom Herzen fallen, wüsste er dich in Sicherheit. Nicht wahr, Schattensänger?”

Yalomiro senkte den Blick. „Bring dich in Sicherheit, Ujora. Es ist besser so.”

Nein. Das wollte ich nicht. Nicht so.

„Bemüht Euch nicht, Meister Gor”, sagte ich. „Ich werde nicht weglaufen.” Und, setzte ich in Gedanken hinzu, ich würde mich von ihm auch nicht wegschicken lassen wie ein unmündiges Kind, das Erwachsene aus dem Weg haben wollte, weil es ihnen lästig war. Das hier ging mich ebenso viel an wie ihn.

Der Rotgewandete hob die Brauen über den Rand seiner Maske. „Nanu? War es denn nicht all die Zeit dein tiefster Wunsch, aufzuwachen? Ich biete dir die einmalige Chance, unser Weltenspiel unbeschadet zu verlassen. In deiner Welt hast du vor mir nichts zu befürchten.”

„Nein. Ich will mich nicht auf so eine bequeme Weise aus der Affäre ziehen! Ich lasse ihn nicht allein!”

Yalomiro schaute mich mit einem Blick an, den ich beim besten Willen nicht deuten konnte. Es war ein Zwischending aus schierer Panik und Bestürzung.

„Ich lasse ihn nicht allein,” wiederholte ich, bevor ich es mir anders überlegen konnte. „Ich laufe nicht weg!

„Oh, aber du wirst ohnehin nicht bei ihm hier in Pianmurít bleiben”, sagte der Rotgewandete. „Unkundige dürfen sich nicht zu lange hier aufhalten. Schau dich um. Du siehst, was mit Menschen passiert, die zu viel Zeit hier verbracht haben.”

Ich schaute die teiranda und ihre beiden gesichtslosen Edelmänner an und mir wurde eiskalt. Trotzdem …

„Ich bleibe hier!”, wiederholte ich entschlossen. „Solange Ihr ihn gefangen haltet, werdet Ihr mich nicht los.”

„Ujora! Du weißt nicht, worauf du dich einlässt!”

„Nein”, antwortete ich leise. „Aber ich laufe nicht weg. Auch diesmal nicht.”

„Gut”, sagte der Rotgewandete. Er kam auf mich zu und nahm zugleich der teiranda die Tasche ab. „Noch eine unkundige Torheit, die es mir leichter macht. Aber so sei es. Dann bleib du bei uns, als das, was mir möglicherweise dazu fehlt, ihn unter meinen Willen zu bekommen. Vielleicht nicht gleich jetzt, und ich weiß noch nicht recht, auf welche Weise. Aber was bedeutet schon Zeit?”

Er legte mir die Hand auf die Schulter, neigte den Kopf und schaute mich an. Seine marmorgrauen Augen unter der merkwürdigen Maske blickten so forschend, dass ich erschauerte.

„Ich bin mir sicher, dass wir sehr interessante Gespräche miteinander führen werden, Ujora.”

War das eine finstere Drohung? Ich gab mir alle Mühe, mich nicht einschüchtern zu lassen. Und er … lächelte!

„Ujora!”, rief Yalomiro in hellem Aufruhr. „Tu das nicht! Geh in deine Welt zurück!”

Gor Lucegath zuckte die Achseln. „Bedauerlich”, sagte er und warf dann eine Geste in meine Richtung, die auch die teiranda und die Ritter umfasste. „Geht zurück!”, gebot er. „Erwacht!”

„Ujora, nein! Nein!”, hörte ich Yalomiro rufen, während es stockfinster wurde, wenn auch auf eine andere Art als in Noktámas Domäne, doch seine Stimme verhallte, so als entferne sie sich mit rasender Geschwindigkeit. Dann riss sie abrupt ab, mitten im Ton.

***

Diesmal war es ein ganz kurzer Blackout. Ich fand mich von einem Lidschlag zum nächsten in einer Halle wieder, die der des teirand von Valvivant ähnelte. Das überwältigende Schwindelgefühl, das mich zum Taumeln brachte, dauerte diesmal nur ganz kurz an. Trotzdem musste ich einen Brechreiz unterdrücken, etwas Bitteres stieg mir im Hals auf. Aber ich konnte mich beherrschen,.

Meister Gor war fort. Kíaná von Wijdlant strahlte mich an, als sei nichts geschehen.

Yarl Altabete half mir zuvorkommend auf. Ich war so desorientiert, dass ich mechanisch zugriff. Auch wenn er kein Gesicht hatte, seine Hand war etwas beruhigend Echtes, Fassbares. Die teiranda kicherte.

„Komm”, sagte sie fröhlich. „Ich zeige dir meine Burg! Das Haus der teiranday von Wijdlant.”

„Aber … wie…”

Einen winzigen Moment lang verschwand ihr hohles Lächeln hinter einer flehentlichen Miene. „Bitte, Ujora. Es ist alles gut, wie es ist. Es ist alles so, wie es sein soll. Es wird dir hier gefallen. Es ist wunderbar!”

Sie reichte mir die Hand. Ich griff zögernd zu. Ihre Finger waren sonderbar heiß.

Der grün-gelb gewandete yarl wollte sich anschließen, aber sie wies ihn zurück. „Nein, Herr Jóndere. Ich brauche keinen Geleitschutz. Sie ist doch eine Freundin. Meister Gor hatte mir eine Freundin versprochen, und hier ist sie!”

Was? Der Rotgewandete hatte ihr versprochen, dass ich … aber dann … was …

Hatte er damit gerechnet, dass ich das Angebot, in meine Welt zurückzukehren, ablehnen würde?

Ich verstand gar nichts mehr. Die teiranda zog mich stürmisch mit sich fort.

Darauf wusste ich nichts zu entgegnen und wollte den yarl entschuldigend zunicken. Aber ich stutzte. Für einen Augenblick, für ein oder zwei Wimpernschläge war mir, als hätte ich sein Gesicht hinter dem grauen Nebel sehen können. Zumindest hatte ich den flüchtigen Eindruck, einen besorgt dreinschauenden jungen Mann in seinen Zwanzigern, mit lockigen braunen Haaren vor mir zu haben. Doch das war so schnell vorbei, dass ich es mir wahrscheinlich eingebildet hatte. Mit blieb nichts übrig. Ich ließ mich von der teiranda führen.

Die Burg von Wijdlant war deutlich größer als die von Valvivant. Zumindest erschien es mir so, weil das Gelände ringsum so eben war. Kíaná hatte mich für den Rundgang zunächst auf den Wehrgang geführt, der entlang der Außenmauern des Burghofes führte und die über eine schmale Treppe zu erreichen war. Dort oben konnten wir einmal um die ganze Burg herum gehen, und das taten wir auch.

Obwohl die Ausmaße größer waren, wirkte Kíaná von Wijdlants Burg im Vergleich zu Valvivant jedoch … kümmerlich. Mir war nicht recht klar, woran das lag, denn das Gebäude selbst war imposant und ähnelte weit mehr einem trutzigen Festungsbau. Es gab ein zentrales, mehrgeschossiges Haus, das von einem wuchtigen Turm um etwa das doppelte überragt wurde. An der Innenseite der Mauern waren kleinere Anbauten, und zwei etwas größere – wahrscheinlich Stallungen, denn ich sah einige Tiere in Pferchen davor. Das war möglich, weil der Bereich innerhalb der Mauern viel weitläufiger war als in Valvivant.

Gesinde der teiranda ging täglichen Beschäftigungen nach. Frauen mit Körben und Eimern liefen von hier nach dort, am Stall versorgten Männer Pferde, irgendwo hämmerten Handwerker an irgendetwas herum. Aber das Treiben sah nicht nach munterer Geschäftigkeit aus. Alles, was hier vorging, wirkte träge, lustlos. Traurig. Deprimierend. Über allem schien Dunst und Staub zu liegen. Ich schaute nach oben. Der Himmel war grau und unbewegt, genau so, wie er über dem Boscargén erstarrt gewesen war. Es war wie an einem klammen, grauen Novembertag mit hoher geschlossener Wolkendecke, die kein Sonnenlicht durchließ.

„Das”, sagte die teiranda und deutete mit einer stolzen Geste ins Umland, das unmittelbar angrenzend aus nichts anderem als einer überdimensionierten, von mickrigem Gras bewachsenen Wiese und matschigem Acker zu bestehen schien, „ist mein Land.”

Pianmurít?”, fragte ich.

Sie schaute verwirrt zu mir hinüber. „Wie bitte?”

„Euer teirandon. Ist das Pianmurít?”

Sie runzelte verständnislos die Stirn. „Nein, das ist Wijdlant. Meine Familie lebt seit vielen, vielen Generationen hier im Zentrum der Ebene. Wo oder was soll bitte Pianmurít sein?” Sie lächelte heiter und gestikulierte über die Wiese hinweg. „Einen Tagesritt in dieser Richtung liegt das yarlmálon des Hauses Moréaval; dort hinten geht es zur Burg von yarl Altabete. Und das Haus von Grootplen ist dort drüben. Der gute yarl Grootplen … er ist mein braver mynstir. Ich frage mich, wo er stecken mag. Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht gesehen.”

„Macht Euch keine Sorgen. Ich glaube, wenn wir denselben Mann meinen, ist er … für Meister Gor mit einem Auftrag unterwegs gewesen.”

„Oh, das ist gut. Dann ist ja alles in Ordnung.” Sie winkte mir, ihr zu folgen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass yarl Moréaval uns unten auf dem Hof hinterherlief. Seine teiranda ließ er nicht aus den Augen. Möglicherweise fungierte er als eine Art Bodyguard oder Leibwächter.

„Majestät”, sagte ich, „ich will nicht unhöflich erscheinen aber … wo ist Meister Gor überhaupt geblieben?”

„Er sah erschöpft aus, nicht wahr? Der Ärmste”, plapperte sie. „Ich denke, er wird sich von den Strapazen erholen, denen er sich ausgesetzt hat. Sicher ruht er sich in seinem Gemach aus. Wir sollten ihn dann eine Weile nicht stören.”

„Also wohnt er hier in der Burg? In einem eigenen Zimmer?”

„Natürlich. Wo sollte er denn sonst untergebracht sein?”

„Wo?”, fragte ich. In diesem Moment erschien es mir von äußerster Wichtigkeit zu sein, zu wissen, wo ich den Rotgewandeten finden würde. Vielleicht ergäbe sich eine Möglichkeit, Yalomiro zu befreien, solange er … Pause machte. „Wo ist sein Zimmer?”

„Im Turm”, verriet sie bereitwillig und deutete auf das hohe Gebäude. „Ganz oben, direkt unter dem Dach. Ich habe ihm mehr als einmal ein komfortables Gemach in den Quartieren meiner yarlay angeboten, aber er will lieber für sich bleiben. Er bewohnt einen der alten Räume, wo früher …” Sie unterbrach sich und starrte einen Moment leer vor sich hin. Dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf und fuhr mit ihrer Führung fort. „Dort hinten sind die Gärten für Kräuter und Gemüse, und daneben die Blumen. Meine Rosen werden dir gefallen. Sie ….”

„Und wo hält er Yalomiro gefangen?”

„Wovon redest du?”

Hielt sie mich für dämlich?

„Majestät”, bemühte ich mich um Fassung, „Ihr seid vor ein paar Augenblicken Zeuge geworden, wie Meister Gor Yalomiro Lagoscyre gefangen genommen hat. Wo ist er? Wohin hat Gor Lucegath den Schattensänger gebracht? War dieses graue … was weiß ich – ein magisches Verlies oder so etwas?”

„Ja”, sagte sie nachdenklich. „Da war etwas… seltsam. Ich entsinne mich. Aber ich habe keine Ahnung, was es war… manchmal bildet man sich sonderbare Dinge ein. Geht es dir nicht auch oft so? Träumst du nicht auch zuweilen und weißt am Ende nicht, was wirklich geschehen ist?”

Das machte mich fassungslos. Wie konnte man ein solches Erlebnis vergessen? Gor Lucegath hatte doch allem Anschein nach ganz bewusst sie und ihre Ritter dorthin versetzt, wahrscheinlich wohl wissend, dass Yalomiro niemals einen Unkundigen verletzen würde. Vielleicht auch, weil er vorausgesehen hatte, dass sein gewaltsames Eindringen in den Schatten ihn so viel Kraft kosten würde, dass es am Ende nur für ein vergleichsweise simples Kunststück mit Goldmünzen reichen würde.

„Bitte, Majestät”, drang ich in sie. „Verratet es mir.”

„Ich weiß nicht, wovon du redest”, sagte sie sanft. „Wahrscheinlich hast du geträumt. Auch ich träume manchmal, an wunderlichen Orten gewesen zu sein.”

„Majestät … und wie erklärt Ihr Euch, dass ich plötzlich hier bin? Wo bin ich Eurer Ansicht nach so plötzlich hergekommen?”

Sie schien nachzudenken. Dann erhellte sich ihr Gesicht und wurde wieder zu ihrer starren, verzückten Maske.

„Komm”, forderte sie mich auf. „Komm mit. Ich zeige dir meinen Rosengarten!”