Der Weg durch den Schatten nahm kein Ende. Doch erstaunlicherweise war das Laufen nicht ermüdend, ganz anders als damals, als wir durch den zerfallenen Wald gegangen waren.. Ich fragte mich, wie viel Zeit wohl an einem Ort vergehen mochte, an dem es keine Zeit gab. Würden wir im selben Moment, aber an einem anderen Ort wieder hervorkommen? Es war mühsam, diese verwirrenden Gedanken beiseite zu drängen.

Yalomiro ließ sich nicht von der Idee abbringen, dass sich ein anderer Schattensänger in Pianmurít aufhalten könnte und gegen Meister Gor arbeitete. Ich hielt es meinerseits für unwahrscheinlich, dass der Rotgewandete das über viele Jahre hinweg nicht hätte merken sollen. Doch Yalomiro meinte dazu nur, dass es durchaus im Rahmen des Möglichen läge. Und zwar, sofern man bereit sei, unter seltenen und günstigen Umständen ein großes Opfer zu bringen.

Als ich anmerkte, dass es dafür aber wohl magischer Kräfte bedürfte, die weit über dem Niveau eines Meistermagiers lägen, war ich mir sicher, dass er in der Finsternis neben mir müde lächelte. Nein. Es ist sogar ziemlich einfach, wenn man es einmal gelernt hat.

Ich dachte eine Weile darüber nach, ob ich danach fragen sollte. Vermutlich hatte er es schon längst in meinen Gedanken gehört. Welchen Sinn hatte es, um das Unausgesprochene herumzureden.

Du hoffst, dass es Arámaú ist, nicht wahr?

Das Pulsieren auf meiner Haut blieb konstant. Wenn er Emotionen verspürte, ließ er sie sich nicht anmerken.

Sie war neben meinem Meister der Mensch, der mir am nächsten war. Ich bin im Zweifel, ob es nicht gnädiger wäre, wenn sie es nicht ist.

Wenn sie nicht deine hýardora war … war sie eine Verwandte von dir? Eine Schwester?

Ich habe keine Verwandten. Keiner von meinesgleichen hat eine leibliche Familie.

Aber du musst doch Eltern haben!

Irgendjemand hat mich gezeugt und geboren, natürlich.

Sind sie tot?

Vermutlich. Es ist viel Zeit vergangen.

Aber … vermisst du sie niemals?

Nein. Ich erinnere mich nicht einmal an sie. Keiner von uns erinnert sich an seine Herkunft.

Wieso denn das nicht?

Weil es Noktámas Wille ist. Es ist besser so.

Er schien nicht weiter darüber reden zu wollen. Zugleich hatte er es wieder einmal geschafft, meinen Fragen nach Arámaú auszuweichen. Ich wusste nicht, wie ich das Gespräch dorthin zurückbringen könnte.

Aber ich wusste nun, dass da noch etwas war, was er mit mir gemein hatte. Zwar waren meine Eltern noch da, beide für sich und an verschiedenen Orten. Aber das machte effektiv keinen Unterschied. Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr gesucht. Vielleicht hätte mich das bedrücken oder mir Schuldgefühle machen sollen, aber merkwürdigerweise war dem nicht so. Im Gegenteil. Seit ich den Schritt getan und Abstand gewonnen hatte, ging es mir besser. Möglicherweise wollte ich mir nur nicht eingestehen, was damals alles schiefgelaufen war und die Dinge dorthin geführt hatten, wo sie schließlich zum Stillstand kamen. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, dass man mich in irgendeiner Weise vermisste. Ein kurzes, desinteressiertes Telefonat mit meiner Mutter zu ihrem Geburtstag vor ein paar Wochen war der letzte Kontakt gewesen. Sie hatte nicht einmal gefragt, wie es mir ging. Aber hätte ich ihr geantwortet, wenn sie gefragt hätte? Hätte es sie gekümmert, dass ich gute Noten hatte und es mir emotional dreckig ging?

Vielleicht haben sie sich noch eine Weile an ihren Sohn erinnert, sagte er plötzlich. Aber sehr wahrscheinlich waren sie froh, mich loszuwerden.

Hatte ich etwa so laut gedacht?

Wieso glaubst du das?, fragte ich vorsichtig.

Weil ich allein durch meine Existenz ihr Leben unnötig kompliziert gemacht hätte. Wäre ich bei ihnen geblieben, hatte es zwangsläufig eine Menge Ärger gegeben. Wahrscheinlich hätte ich ihre Zukunft ruiniert.

Ich schauderte. Das war exakt das, was ich mein Leben lang zu hören bekommen hatte, nur dass es bei ihm ein Konjunktiv, eine Möglichkeit geblieben war.

Vielleicht waren sie sehr traurig, dass du sie verlassen hast, wandte ich ein.

Unwahrscheinlich. Ungebändigte Magie ist dort schädlich, wo sie nicht sein darf. Ihnen wird ein Stein vom Herzen gefallen sein, als Meister Askýn mich … mit sich nahm.

Nun war ich verwirrt. Soll das heißen, deine Eltern waren keine Magier?

Nein. Natürlich nicht.

Aber … wo kommt die Magie sonst her?

Magie ist ein Geschenk der Mächte, Ujora, eine Kraft, die viel, viel älter ist als der Körper, der sie trägt. . Nichts, was Eltern an ihre Nachkommen weitergeben oder was sich mit Fleiß erlernen ließe. Geht ein Magier hinter die Träume, fließt sie in einen neuen Körper hinein. Noktáma allein weiß, nach welchen Regeln. Manche sagen, sie bestreite das Weltenspiel mit Würfeln. Wie es Pataghíu mit seinem Kreis hält, weiß ich nicht. Möglicherweise zieht er Karten. Jedenfalls ist sicher viel Zufall dabei. Keine Menschenseele weiß, nach welchen Kriterien sich freie Magie ihr nächstes Gefäß sucht.

Aber wenn das so ist – hätten dann nicht all die Zeit neue camat’ay geboren werden müssen?

Das ist etwas, worüber unsere ytraray schon seit vielen Generationen debattiert haben. Die meisten glaubten, dass die Magie in Ungleichgewicht geraten ist, als das ay’cha’ree geschaffen wurde und Magier sich untereinander bekämpften.

Was heißt das?

Ich weiß nicht, ob es wahr ist. Aber es gibt eine Mutmaßung, die besagt, dass Magie verschwindet, sobald ein Magier einen anderen tötet. Wenn dem so ist, dann hat es seinen Sinn, eine Regel der Mächte im Weltenspiel. Und es erklärt, warum sowohl die Magischen als auch die Chaoskriege so viel Magie vernichtet haben. Sie ist … verflogen.

Darüber dachte ich einen Moment lang nach.

Dann war der gewaltsame Tod jenes Magiers, der das ay’cha’ree geschaffen hat …

Ja. Das war der Moment, in dem die Magie selbst vergänglich wurde. Wohlgemerkt, falls die Annahme unserer Meister ihre Richtigkeit hat. Ich habe sehr viele und sehr langweilige Debatten darüber angehört, Ujora. Es ist ebenso müßig wie bedrückend, darüber nachzudenken.

Wäre es nicht klüger, das ay’cha’ree zu bergen, bevor du dich auf einen bloßen Verdacht hin in Gefahr begibst?

Nein. Im Gegenteil, es wäre töricht, wenn ich nicht die Chance nutzen würde, zuerst meinesgleichen zu finden so gering die Wahrscheinlichkeit ist. Schließlich war es letztlich ein Alleingang, durch den all dies zustande kam.

Ich bleibe bei dir.

Er schwieg. Zumindest widersprach er nicht sofort. Das war ein Fortschritt.

Alleingänge sind keine Lösung, sagte ich. Vielleicht finden wir zusammen den anderen Schattensänger.

Es ist nicht nötig, dass du dich deswegen in Gefahr begibst.

Aber ich habe Angst, wenn du nicht da bist.

Er blieb stehen. Nun wurden die Impulse schneller. Etwas ging in ihm vor. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.

Bitte. Lass mich nicht wieder allein.

Ujora…

Ich konnte nicht anders. Ich tastete nach ihm und fand seinen Arm, seine Schulter. Ich spürte, wie er sich zu mir hinab neigte, seine Wange nahe meinem Gesicht.

„Ujora”, wisperte er.

Ich erstarrte. Ich hatte seine Stimme gehört. Er keuchte überrascht auf.

Und im selben Moment flammte die maghiscal um uns herum auf, als werde sie von etwas angestrahlt. Sie war nicht silbern funkelnd, sondern irisierte einem abnormen Licht, einem Leuchten, das milchig, und schmutzig wirkte. Es war irgendwie … klebrig.

Yalomiro riss mich an sich und drückte mein Gesicht an seine Brust. „Yal!”, rief er, die Hand abwehrend vorgestreckt, und von ihm ploppte etwas weg wie eine träge Schlammblase. Es tat weh, wie ein schmerzhaftes Ziehen, und schnellte zurück.

„Sei nicht lächerlich, Yalomiro Lagoscyre. Du kannst im Schatten nicht kämpfen. Nicht an Noktámas Ort des Friedens.”

Ich wandte den Kopf, soweit es ging. Meister Gor stand ein Stück weit entfernt, umgeben von einem sacht aufdimmenden Leuchten. Das Licht schien von ihm selbst auszugehen wie eine Korona, und verwandelte die Dunkelheit um ihn herum in etwas, das Nebel oder feinem Rauch glich. Es erreichte uns und schuf dabei so etwas Ähnliches wie Raum um uns herum. Die Finsternis, der warme, schützende Schatten war ausgelöscht. Yalomiros maghiscal versank in diesem gräulichen Dunst.

„Da seid ihr beiden ja”, sagte der Lichtwächter mit beunruhigender Herzlichkeit und senkte die Hand, mit der er wohl seinen Bann gegen uns geworfen hatte; einen, der die Beschaffenheit von Yalomiros maghiscal von ätherischer Energie in einen zähen Film verändert hatte. „Wer hätte gedacht, dass wir einander so rasch wiedersehen?”

„Wie kommt Ihr hierher?”, brachte Yalomiro entgeistert hervor. „Was macht Ihr hier?”

Meister Gor kam näher. Was immer seine Gegenwart auf Yalomiros maghiscal bewirkte, mit jedem Atemzug wurde sie fester, lederner. Sie fesselte mich geradezu an ihn.

„Wie lange denkst du, Schattensänger, habe ich dazu gebraucht, einen von deinesgleichen dazu zu überreden, mir diesen kleinen Schleichweg zu verraten? Sie haben mich allerlei nützliche Geheimnisse gelehrt, solange sie noch dazu in der Lage waren.”

„Das mag ja sein”, entsetzte Yalomiro sich. „In der Theorie. Aber es ist unmöglich, dass Ihr die Schatten aus Eurer Kraft heraus leibhaftig betretet! Das … das ist gegen die Regeln!”

„Regeln?”

„Es ist wider alle Bestimmung, dass Ihr hier seid!”

„Bestimmung?” Der Rotgewandete wirkte erheitert, während die Energie immer massiver und härter wurde. „Was kommt als Nächstes? Dass es lästerlich von mir ist, hier zu sein?”

„Das auch!”

Gor Lucegath lachte. Er war nur noch eine Armlänge von uns entfernt. Das graue Leuchten umgab uns seinerseits wie eine Hülse und kapselte uns von Noktámas Domäne ab.

„Nun, wie könnte ich dieses Kunststück wohl vollbracht haben? Sollte es etwas geben im Weltenspiel, das Noktámas Allmacht wortwörtlich in den Schatten stellt?”

„Noktáma schätzt weder ungebetene Besucher noch Frevler”, sagte Yalomiro. Ich konnte das Herz in seiner Brust pochen spüren. „Was immer Euch … geholfen hat, es ist wider die Mächte!”

„Nun, ich glaube, diesen speziellen Zauber habe ich Gíonar Boscargén entlockt, gerade noch, bevor sein brillanter, wenn auch reichlich abständiger Verstand endgültig zuschanden ging. Aber keine Sorge. Ich werde Noktáma nicht unnötig lange mit meiner Anwesenheit behelligen. Ihr zwei werdet mich in meine eigene Domäne begleite.”

„Sprecht Ihr von Pianmurít?”

„Wolltest du nicht ohnehin dorthin?” Der Rotgewandete trat vor und streckte die Hand nach uns aus. Die maghiscal schien ihn nicht zu kümmern. Ich spürte, wie sich seine Finger um mein Handgelenk legten. Sie waren eiskalt. „Wenn ihr auf diesem Weg bleibt, kommt ihr im Leben nicht dorthin. Ich geleite euch.”

„Wagt es nicht!”, sagte Yalomiro scharf.

Doch der Rotgewandte riss mich mit einem Ruck zu sich hinüber. Yalomiros maghiscal fetzte entzwei. Ich stolperte aus den Schatten hinaus und in etwas unfassbar Unangenehmes herein.

Es ist schwer zu beschreiben, wie sich das anfühlte. Es war, als sei ich aus eisigem Wasser aufgetaucht, zugleich schien es mir einen schrecklichen Moment lang, als sei mein ganzer Körper wund und brannte wie von Nesseln. Aber das dauerte nicht lang. Als ich mich umsah, kauerte ich auf etwas, das ich mangels treffenderer Worte als eine Art Fläche beschreiben muss, inmitten einer Umgebung unbestimmter Größe, denn ich konnte keine Begrenzungen sehen. Genaugenommen sah ich gar nichts. Ich befand mich an einem völlig leeren Ort. Einer Szenerie, die ich kannte.

Es war die Leere, die ich damals geträumt hatte, als ich den Schlüssel gefunden hatte. Der letzte Traum, den ich in meiner Welt gehabt hatte. Ein dreidimensionales weißes Rauschen.

Vor mir schwebte, diffus, schmutziggrau und bemerkenswert plastisch und doch unförmig in dieser verstörenden Leere, das graue Licht. Es anzuschauen, verursachte ein ekelhaftes Schwindelgefühl.

„Ujora”, rief die teiranda hinter mir aus und kam näher. Sie strahlte und breitete die Arme aus. Tatsächlich: Bevor ich es verhindern konnte, hatte Kíaná von Wijdlant mich umarmt wie eine alte Freundin. „Ich freue mich so sehr, dich zu sehen!”

Zwei Ritter waren an ihrer Seite. Ihre Gesichter – nein, ich konnte sie nicht anschauen. Einer der beiden war wahrscheinlich yarl Altabete, sein staubig grüner Waffenrock legte das nahe. Der andere war etwas größer und vermutlich deutlich jünger. Sein grün-gelbes Gewand wirkte ebenfalls wie mit Asche bedeckt.

„Wo bin ich hier?”, stammelte ich verstört. „Wo sind Yalomiro und Meister Gor?”

„Du bist in meinem Reich“, sagte sie verträumt. „Willkommen! Altabete? Moréaval? Wo sind Eure Manieren? Schaut und begrüßt meine liebe Freundin!”

Die Ritter verneigten sich und murmelten etwas mit ihren verrauschten, wispernden Stimmen. Im Gegensatz zu ihrer Herrin wirkte ihre Haltung, als sei ihnen unbehaglich.

„Yalomiro!” Ich wand mich aus ihrer Umarmung. „Wo ist Yalomiro?”

„Beruhige dich!”, beschwichtigte sie mich.

„Sind sie etwa … da drin?” Ich versuchte, das graue Irgendwas anzuschauen, aber es war unmöglich. Es leuchtete, flammte auf wie Schlieren in einer Pfütze und wirbelte in sich und um sich herum. Dabei schwoll es an und dehnte sich auf eine sonderbar massive Weise aus. Sogar der teiranda schien das nicht mehr geheuer zu sein. Sie fasste nach meiner Hand und zog mich ein Stück weg davon, so beiläufig, als führe sie ein Kind weg vom Fahrbahnrand.

Und dann verlosch das Etwas, wie ausgeknipst. Yalomiro und Gor Lucegath stürzten in die Wirklichkeit, sofern man diesen Ort so nennen konnte.

Augenblicklich zogen die beiden Ritter ihre Schwerter und erhoben sie gegen Yalomiro, der sich benommen aufrappelte und sich orientierungslos umschaute.

Der Rotgewandete hingegen lag reglos da und rührte sich nicht.