
Er ist da.
Gor Lucegath schreckte auf.
Er war müde. Kaum, dass Daap Grootplen seine Mission erfüllt hatte, hatte der Magier dessen Burg an der Grenze nach Tjiergroen verlassen, auf seine Weise, selbstverständlich. Auf die Rückkehr und den Bericht des mynstir zu warten, war nicht nötig. Der Rotgewandete hatte jedes Wort mitgehört, das Grootplens Ohren erreicht hatte. Aber den Ritter brauchte er in den kommenden Stunden nicht. Mochte der Mann seinen Hausstand zusammenrufen, auf dass alle zusammen die Mächte priesen, die Nacht überlebt zu haben. Mochte Grootplen einige wertvolle Augenblicke mit den Menschen verbringen, an denen sein Herz hing. Solange der Ritter zügig zu seiner Herrin zurückkehrte, schadeten solche Narreteien nicht.
Dennoch: Der goala’ay war ermattet. In den vergangenen Tagen hatte auch er kaum die Gelegenheit gefunden, einen Moment zu ruhen. Außerdem ging ihm das bizarre Geständnis von yarl Altabete nicht aus dem Sinn.
Die teiranda saß mit ihren beiden Kammerfrauen und ihm im Garten der Burg von Wijdlant und plauderte über eitle, inhaltslose Frauendinge. Dass die Rosensträucher nur mickrige, verkrüppelte Blüten trugen und die Blätter graue Flecken hatten, bemerkten sie alle nicht. Gut so.
Er hatte sich etwas abseits von ihnen auf einer anderen Bank niedergelassen, erlaubte seinem Geist einen Moment lang, zu driften, und horchte ins Leere. Die beklommenen Blicke der zwei Dienerinnen, die ihn immer wieder verstohlen anschauten, ignorierte er. Sie hatten nichts vor ihm zu befürchten. Doch das brauchten sie auch nicht zu wissen.
Er ist da!
Der Rotgewandete zuckte nicht einmal mehr zusammen. Selbstverständlich war er da. Und offenbar glaubte er, dass ihm das alberne Versteckspiel etwas nützte, dass es möglich wäre, sich an ihm vorbei zu schleichen. War das nun Naivität oder Selbstüberschätzung?
Eines der Schoßhündchen, ein pechschwarzes Tierchen mit zierlichen Beinen, spitzer Schnauze und langem, duftigen Fell, kam schwanzwedelnd heran getrippelt, schnüffelte in den Blumenbeeten, folgte wohl einer schalen Duftspur. So vertieft war es in seinen Hundeangelegenheiten, dass es dem Magier gefährlich nahe kam. Der Rotgewandete erhob sich wortlos und griff das Tier, das schmerzhaft aufjaulte. Die Damen wandten sich ihm zu, die Zofen erschrocken, die teiranda mit mildem Interesse im Blick.
Er studierte den kleinen, wimmernden Hund, der sich in seinen Händen wand, erst versteifte und dann erschlaffte.
Nein. Nur eine unschuldige kleine Kreatur ohne einen Funken Magie.
„Ist alles in Ordnung, Meister?”, fragte die teiranda.
„Es scheint so.” Er legte den Hund behutsam wieder auf die Erde. Einen Moment lag das kleine Tier erstarrt. Dann begannen seine Pfötchen zu zucken. Das flauschige Tierchen rappelte sich auf und taumelte orientierungslos einige Schritte voran, bis er wieder ganz zur Besinnung kam und sich winselnd zu den Frauen flüchtete. Die jüngere Zofe nahm das verängstigte Geschöpf rasch auf ihren Schoß und flüsterte beruhigend darauf ein.
Er ist da!
Ja, dachte der Rotgewandete. Ich weiß.
„Entschuldigt mich”, sagte er, verneigte sich vor den Damen und ging fort, noch bevor die teiranda ihn entlassen hatte.
Die Unkundigen, die ihm begegneten, beeilten sich, ihm aus dem Weg zu huschen. Ihre Furcht saß tief, seine bloße Anwesenheit genügte, um ihnen tiefes Unbehagen zu bereiten. Yarl Altabete sah ihn nahen und versuchte erfolglos, um eine Ecke zu huschen, um ihm zu entkommen.
„Herr Andriér?”
Der Ritter erstarrte. Dann drehte er sich ergeben um. „Meister?”
„Ich benötige Eure Hilfe. Eure und die von Herrn Jóndere.”
„Wobei, Meister?”
„Ist es nicht Eure Euch von den Mächten auferlegte Pflicht, Eure Herrin vor allen Gefahren zu schützen?”
Yarl Altabete runzelte die Stirn. „Ist denn eine Gefahr gegeben?”
„Noch nicht. Aber es mag sein, dass es in Kürze zu einer Begegnung mit einem Mann kommt, dessen Angriffslust sich zurzeit nur schwer einschätzen lässt.”
„Einer, dem Ihr nicht selbst beikommen könntet?” Ein solcher Gegner schien die Vorstellungskraft des Ritters zu übersteigen.
„Es wäre mir recht, Euch und yarl Moréaval dann in meiner Nähe zu wissen.”
Der Ritter war sichtlich verwirrt. Doch Gor Lucegath gab ihm keine Erklärung.
„Haltet Euch bereit. Ich werde nach Euch rufen”, sagte er und ging weiter.
***
In seiner Kammer hoch oben im Turm angelangt, verschloss der Rotgewandete die Tür sorgfältig hinter sich und zog sogar die hölzernen Fensterläden zu. Dann holte seinen magischen Stein aus der Truhe hervor, stellte ihn in die Mitte des großen Tisches und setzte sich selbst in den Sessel. Der rote Kristall leuchtete aus sich selbst heraus, sodass der Magier kein weiteres Licht benötigte.
Du bist so berechenbar, Yalomiro Lagoscyre.
Gor Lucegath fand im Stein bestätigt, was er erwartet hatte. Das primitive magische Werkzeug konnte ihm nämlich kein Bild präsentieren. Wie auch – in den Schatten war der camat’ay unsichtbar und auf diesem Weg nicht aufzuspüren.
Der goala’ay lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und konzentrierte sich. Es musste einen Weg geben, den Schattensänger aus der Finsternis zu locken, an einen Ort, wo er sich packen ließ. So saß er einen Moment und sann nach.
Warum packst du ihn nicht dort, wo er ist?
„Dazu müsste ich an Noktáma vorbei”, murmelte der Rotgewandete gedankenverloren.
Du weißt, wie du dorthin kommst.
„Ich weiß es, aber ich kann es nicht vollbringen.”
Hat der mächtige Gor Lucegath etwa Angst vor der Dunkelheit?
„Ich habe nicht genug Kraft … ich …”
Er zögerte. Einige Augenblicke stritt er mit sich selbst. Dann legte er die Hände auf den Stein. Das rote Leuchten trübte sich, wurde schal wie in Milch vergossenes Blut und alsdann grau wie Asche.
Einen Moment lang ertrug er die Kraft, die durch seinen Körper schoss, schweigend. Dann begann er, darunter zu beben, ganz ähnlich wie zuvor der kleine Hund. Schließlich sank der Magier in sich zusammen und begann, berauscht zu lachen.
***
Isan hatte ihr Glück nicht fassen können, zumal es so unerwartet gekommen war, dass sie kaum Zeit gefunden hatte, darüber nachzudenken. Gerade noch hatte sie nach Verta suchen und sich unter Tränen – eine aufregende Mischung aus Freude und Abschiedsschmerz – von ihr verabschieden können. Die alte Heilerin war weniger überrascht über die Neuigkeiten gewesen als das Mädchen selbst.
„Mögen die Mächte geben, dass du dort, wo du hingehst, ein unbeschwertes Leben findest”, hatte Verta gesagt und das Mädchen lange in den Arm genommen.
„Du findest sicher schnell ein neues Lehrmädchen, das verständiger und artiger ist als ich.”
„Es ist gut, dass dein Weg weiter führt, Isan. Diese Burg … sie wäre auf Dauer nicht mehr das Richtige gewesen für dich. Dinge … ändern sich.”
„Was meinst du?”
Die alte Frau hatte ihr sanft über die Wangen gestreichelt. „Du bist jung, Liebes. Jung und klug. Geh fort, Isan. Geh und mach die Dinge besser.”
Was sie damit meinte, hatte Verta nicht erklärt. Dem Mädchen fehlte die Zeit, nachzuforschen. Der yarl war bereits so gut wie im Sattel. So gestaltete sich Isans Abschied von Valvivant zwar überstürzt, aber nicht wie eine Flucht.
Ihre Sachen zu packen hatte nicht lange gedauert. Isan hatte ihre Besitztümer stets vorsorglich griffbereit, und die paar Kleider und Schuhe ließen sich schnell in einen Beutel stopfen. Als sie schließlich aufbrachen und durch das Tor der Burg Valvivant ritten, hatten ihr viele Menschen nachgeschaut. Ihre Freundinnen neidvoll, so mancher junger Bursche bedauernd. Léur Tjiergroen hatte regelrecht erleichtert dreingesehen. Isan sann über seine Miene nach. Hatte sie den mynstir tatsächlich so oft geplagt?
Der teirand war nicht erschienen.
Nun ritt sie schon eine Weile hinter Waýreth Althopian her, durch die lieblichen Parks von Valvivant, und träumte von dem wunderbaren neuen Leben, das sie erwarten mochte. Ihr Maultier hielt wacker Schritt mit dem Streitross des Ritters. Von ihren überschwänglichen Gefühlen überwältigt, war Isan so lange still gewesen wie selten in ihrem Leben.
„Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll”, wagte sie schließlich, das Wort an den yarl zu richten. Der war wortkarg und mit seinen Gedanken offenbar ganz woanders. Er hatte seinerseits bislang nur das Nötigste mit ihr gesprochen.
„Freu dich nicht zu früh, Mädchen. Wir sind nicht auf einem Ausritt. Es könnte sehr gefährlich werden.”
„Ach, das macht mir nichts aus”, behauptete Isan entspannt, stutzte dann und fügte hinzu: „Gefährlich?”
„Sofern wir in Bedrängnis geraten, verlange ich, dass du dich im Hintergrund hältst und im Zweifel ohne mich weiter ziehst. Ich gebe dir ein Empfehlungsschreiben mit, sodass meine Leute daheim wissen, dass du mit meiner Zustimmung kommst.”
„Herr … sind wir denn etwa nicht unterwegs, um den Tross der yarlara von Ivaál einzuholen?”
Waýreth Althopian lachte auf. „Bei den Mächten, Mädchen! Hattest du denn nicht an der Tür gelauscht?”
„Offenbar nicht lange genug”, sagte Isan kleinlaut. „Wohin geht es also dann?”
„Nach Pianmurít“, antwortete der Ritter schlicht.
„Bitte, Herr, ich verstehe nicht…”
„Ich weiß auch nicht, wo das ist. Ich weiß nur, dass der Schattensänger und die fánjula dorthin unterwegs sind. Und dass es jenseits des teirandon Valvivant liegen muss.”
„Den Schattensänger? Aber … aber…”
„Kind, noch hast du die Gelegenheit, umzukehren. Aber ich habe das Gefühl, dass es dir besser täte, aus dem Umfeld des teirand und seiner Leute fort zu sein. Es scheint, dass in Valvivant viel Unschönes verhehlt und unter den Teppich gekehrt wurde.”
Sie schwieg verstört. Der Ritter brachte sein Pferd zum Stehen und wandte sich im Sattel zu ihr um. „Ich weiß nicht wieso und es geht mich auch nichts an. Aber die namenlose Begleiterin des camat’ay hat mir das Versprechen abgenommen, dich zu mir zu nehmen, wenn du mir ein paar Worte mit der yarlara verschaffst. Du hast weitaus mehr getan als das.”
„Herr”, sagte sie kleinlaut, „es war mir eben sehr wichtig.”
„Und der fánjula schien es wichtig zu sein, dir zu deinem Glück zu verhelfen. Denkst du nicht, das macht dich unter gegebenen Umständen ebenso verdächtig wie mich?”
„Verdächtig? Ich habe keine Idee, was von dieser seltsamen Begebenheit zu halten ist, Herr!”
„Die Mächte mögen wissen, wie sich all das zusammenfügt. Doch es ist besser, du kommst mit mir, als dass Benjus von Valvivant ein wenig länger darüber nachdenkt, wer alles an seinem Hofe möglicherweise … nicht vertrauenswürdig ist. Der teirand scheint allzu leicht reizbar geworden zu sein.”
Er ritt weiter. Isan spornte das Maultier an, um auf einer Höhe zu bleiben. „Und Ihr seid auf dem Weg, um den Schattensänger zu besiegen?”
„Unsinn. Wie stellst du dir das vor?”
„Na ja. Ihr seid ein Held.”
Waýreth Althopian lächelte geschmeichelt, wenn auch nur flüchtig. „Es ist keine Aufgabe für einen Helden, gegen Magier anzutreten. Dies ist kein Turnier und auch kein Abenteuer, Mädchen. Hier geht etwas ganz anderes vor sich.”
„Aber warum sucht Ihr dann nach dem Schwarzmantel? Ich meine … er hat unseren Herrn um ein Haar getötet, und …”
„Hüte dich! Hüte dich vor deinen Worten und Dingen, die du anderen nachplapperst.”
Isan errötete beschämt, ohne zu wissen warum.
„Du musst dich nicht sorgen”, sagte der Ritter nach einer Weile nachsichtig. „Solange du dich ihm nicht näherst, falls wir ihn finden, kann dir nichts passieren.”
„Aber die namenlose fánjula, die …”
„Ich glaube, man ist uns eine Erklärung schuldig. Ohne eine solche kann ich nicht entscheiden, was zu tun ist. Aber zunächst muss ich die Spur aufnehmen. Wir reiten ins yarlmálon Altabete. Vielleicht ist es mir vergönnt, Herrn Andriér dort auf eigenem Boden anzutreffen. Vielleicht kann er mir den Weg nach Pianmurít zeigen. Nach allen Andeutungen, die ich hörte, sollte er zumindest einmal dort gewesen sein.”
„Pianmurít … ich habe niemals jemanden von diesem Ort reden hören. In Valvivant sind immer Gäste aus fernen Gegenden zu Gast, aber noch nie einer von dort.”
„Möglicherweise”, antwortete der yarl, „hat einfach noch niemand den Weg dorthin willentlich gesucht.”
Sie ritten weiter. Die Frage drängte sich auf Isans Zunge. Das Mädchen stritt beachtlich lange mit sich, bevor sie sie aussprach.
„Und … was ist mit der yarlara von Ivaál? Zieht es Euch denn nicht nach Osten, gen Forétern?”
Der Ritter schwieg. Isan rechnete schon gar nicht mehr mit einer Antwort, als er schließlich sagte: „Mein Herz ist längst auf dem Weg dorthin. Meine Ehre indes zwingt mich nach Norden.”
„Mögen die Mächte geben, dass es Euch dabei nicht zerreißt”, sagte Isan mitfühlend und verfluchte sich gleich darauf für ihr loses Mundwerk.
Waýreth Althopian spornte sein Ross an und trabte ein Stück voraus. Isan hielt ihr Maultier zurück. Vielleicht war etwas Abstand sinnvoll, bevor ihr noch mehr kecke Kommentare über die Lippen kamen.
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