
„Ich bin überrascht von Eurem Verhalten.” Benjus von Valvivant, nach wie vor im Nachtgewand, nippte an einem Becher Wein. Verta war vehement dagegen gewesen, dem teirand so rasch nach seiner wundersamen Genesung etwas Berauschendes zu geben. Aber an die Vernunft des Monarchen war im Augenblick nicht heranzukommen. Kaum, dass er wieder in seinem Gemach war, hatte er die alte Frau, die sein Leben gerettet hatte, unwillig fortgescheucht. Nun war er allein mit Tjiergroen und Lebréoka, die Althopian in Schach hielten. „Man berichtete mir, Ihr hättet Euch freiwillig zu einem yarlpénar bereit erklärt, einem Schiedsspruch von Euersgleichen. Großspurig habt Ihr gar Eure Fürsprecher benannt. Und nur einen halben Tag später plant Ihr überstürzt Eure Flucht? Habt Ihr Angst bekommen oder ein schweres Gewissen?”
„Ich hatte dem yarlpénar zugestimmt, bevor ich erfuhr, dass die yarlaraé von Iváal im Aufbruch waren. Meine Beweggründe entnehmt Ihr dem Brief.”
„Wirklich rührend”, sagte der teirand. „Ihr seid also liebestoll, Althopian. Ich kann es Euch nicht verdenken. Die Dame ist in der Tat über die Maßen liebreizend. Aber für wen haltet Ihr Euch? Für den Smaragdritter auf den Spuren der Rosendame?”
Waýreth Althopian seufzte beschämt. Gundald Lebréoka und Léur Tjiergroen bemühten sich, sich ihre Neugierde nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Grobe Zusammenhänge konnten beide Ritter sich zusammenreimen, schließlich war Althopians Schwärmerei für die yarlara bei aller Diskretion niemandem verborgen geblieben. Aber es mangelten die Details, die der Geschichte möglicherweise zum Skandal fehlten.
„Euch ist klar, was einen Ritter erwartet, der sich einem teirand gegenüber vergeht?”
„Ihr wisst, das ich nichts mit dem zu tun habe, was Euch zugestoßen ist, Herr. Die Mächte haben Euch wieder auf diese Seite der Träume geleitet, um es selbst zu bezeugen. Was also soll ich noch hier, wenn mich die Zeit drängt?”
„Woher wollt Ihr wissen, für wie schuldig ich Euch an alldem halte, was in den letzten Tagen hier geschehen ist?”, fragte der teirand scharf. „Ihr wart es, der den Schwarzmantel und seine Dirne herbrachte.”
„Die fánjula brachte ich her. Der camat’ay kam von alleine, ohne mein Zutun!”
„Ein Schattensänger, von dessen Anwesenheit Ihr nichts wissen wolltet, als wir danach fragten”, ergänzte der mynstir ernst. „Wenn ich Euch darauf hinweisen darf.”
„Das”, sagte Althopian, „waren nicht meine Worte. Ich habe mich lediglich gegen Unterstellungen gewehrt, dass ich, der camat’ay oder diese mysteriöse fánjula irgendetwas mit dem Zustand des teirand zu tun haben könnte!” Er war in seiner Erregung halb vom Boden aufgestanden, aber Lebréoka drückte ihn rasch wieder hinab auf die Knie. Ärgerlich wischte Althopian die Hand des Freundes von seiner Schulter. „Übrigens: Nun, da Ihr wieder bei Sinnen seid und in Gegenwart Eurer engsten Getreuen, wäre es vielleicht der Moment, uns alle aufzuklären, was wirklich geschehen ist.”
Benjus von Valvivant lehnte sich zurück und schaute nachdenklich über den Rand seines Trinkpokals hinweg.
„Das, was mit mir geschehen ist und mich um ein Haar hinter die Träume gebracht hat, habe ich dem Schattensänger zu verdanken”, sagte er dann bedacht und vage.
Die Ritter warteten verunsichert. Waýreth Althopian verstand. Aber er sagte nichts dazu.
„Viele Sommer lang war Valvivant von den Schwarzmänteln verschont geblieben”, fuhr der teirand fort. „Niemals wieder sollte ein camat’ay seinen Fuß in die Nähe dieser Burg setzen. Es gab eine Zeit, yarl Althopian, da waren einige der verderbten Magier in dieser Gegend unterwegs. Sie kamen über die Berge und waren auf dem Weg nach Norden. Ihr wisst, was im Norden ist?”
„Alles Mögliche ist im Norden”, sagte Althopian. „Zwischen Valvivant und Virhavét liegen mehrere teirandon.”
„Nun, wir teiranday von Valvivant, mein Großvater, mein Vater und ich selbst, wir haben, bei den Mächten und der Unversehrtheit unserer Schutzbefohlenen, ein Gelöbnis geleistet. Wir mussten zusichern dass, sollte ein camat’ay meinen Boden betreten, wir ein Weiterkommen in die nördlichen teirandon verhindern. Um jeden Preis.”
„So, wie ihr es mir nun sagt, ergibt es etwas mehr Sinn als die konfuse Rede, die Ihr an den Schattensänger gerichtet habt. Aber wie sollte man sich einem camat’ay in den Weg stellen? Und wer hat Euren Ahnherren so ein Gelübde abverlangt? Der Name, den der Magier nannte, war mir unbekannt.”
„Das, yarl Althopian, geht Euch nichts an. Euch auch nicht, meine Herren”, fügte er an Lebréoka und Tjiergroen gewandt hinzu, die verwirrt dreinschauten. „Eure Väter haben achtbar Stillschweigen bewahrt, wie ich an Euren unbedarften Gesichtern erkenne. Glaubt mir, es ist zu Eurem Besten, wenn ihr nicht zu viel erfahrt. Alles, was hier gesprochen wird, verlässt diesen Raum nicht, wenn Euch Euer Leben lieb ist.”
„Aber…”, begehrte Lebrékoa verdutzt auf, aber der mynstir bremste ihn rasch mit einem mahnenden Blick. Eine solche unmissverständliche Drohung war äußerst unüblich für den teirand.
Benjus von Valvivant seufzte. Allzu wohl fühlte der Monarch sich nicht. „Versteht mich recht. Es gibt Dinge, die müssen andere nicht erfahren. Oder wollt Ihr verantwortlich sein, wenn Bangnis unter den braven Schutzbefohlenen ausbricht, wegen einer Angelegenheit, die yarl Althopian mit Freuden unter Kontrolle bringen wird?”
„Ich?”
„Ja, Ihr. Ihr seid der Schattensängerfreund in diesem Raum. Ihr seid derjenige, dessen Haus und deren Kreis miteinander im Bunde stehen. Und somit seid Ihr auch derjenige, der dafür sorgen wird, dass der camat’ay nicht zu Ende bringt, was immer er im Norden vorhat.” Der teirand neigte sich vor, den Weinkelch fest mit beiden Händen umschlossen. „Ich bitte Euch: Setzt Euch auf seine Spur. Findet heraus, was er plant. Und verhindert es. Wenn Euch das zu meiner Zufriedenheit gelingt, werde ich davon absehen, Euch wegen Verrates bei Asgaý Spagor anzuklagen, auf eine Weise, sodass auch die gnädige Vorsprache Eurer Freunde Euch nicht rettet.”
„Und wenn ich meine Gründe habe, das nicht zu tun?”
„Dann ergeht es Euch wie allen yarlay, die zu früheren Zeiten einem teirand gegenüber Hochverrat begangen haben. Dann wird Euer eigenes Rüstzeug im Feuer glühend gemacht und Euch Stück um Stück angelegt. An Eurer Stelle würde ich mir gut überlegen, ob Euer seltsamer Pakt mit dem Schwarzmantel ein so schmachvolles Ende wert ist.”
„Ihr habt nichts gegen mich in der Hand, Majestät.”
„Ich bin sicher, dass meine yarlay das in meinem Sinne anders sehen werden. Ebenso sicher bin ich, dass die Herren aus Wijdlant andere Sorgen haben werden, als Eure Haut zu retten. Und die Fürsprache von yarl Emberbey allein wäre wohl zu dürftig, als dass sie Euch noch helfen könnte. Ich kann mich auf die Loyalität meiner Gefolgsleute verlassen. Nicht wahr, Herr Léur? Herr Gundald?”
Lebréoka und der mynstir regten sich unbehaglich. Dieses gnadenlose Gesicht ihres sonst so umgänglichen Herrn kannten sie nicht. Waýreth Althopian verbiss sich Widerworte. Eine derartige Drohung sprach selbst ein teirand nicht unbedacht aus. Benjus von Valvivant meinte es ernst.
„Überlegt es Euch gut, yarl Althopian. Wenn Ihr Euch beeilt, habt Ihr vielleicht noch genug Zeit, um den Damen von Ivaál hinterher zu eilen, um auch die Zukunft Eures Hauses zu sichern. Wie viel Eindruck mag es bei der Mutter der Dame machen, wenn Ihr Euren glanzvollen Turnierfolgen eine echte Heldentat hinzufügen könntet?” Der teirand lächelte verdrießlich. „Denkt Ihr, ich wüsste nicht, wie sehr es Euch umtreibt, der letzte einer Reihe von ruhmreichen Helden zu sein?”
Der yarl neigte den Kopf. Dann erhob er sich. Diesmal hielt ihn niemand auf.
„Gebt ihm sein Schwert zurück, Lebréoka. Und sorgt dafür, dass sich jemand um sein Pferd kümmert.”
„Majestät … Ihr lockt mich mit Versprechungen und sehr erstrebenswerten Belohnungen. Aber Ihr wisst auch, dass es kein höheres Gut für meine Familie gibt als Ehre und Redlichkeit. Sollte ich in eine Lage geraten, in der ich mich entscheiden muss …”
Der teirand musterte den Ritter eine Weile prüfend. Waýreth Althopian gürtete sein Schwert um und erwiderte den Blick.
„In diesem Moment werdet Ihr Euch für das Richtige entscheiden”, sagte er. „Und Ihr sollt auch wissen, wie stolz ich mich dereinst schätzen würde, Euch unter meinen yarlay zu wissen. Nur für den Fall, dass Asgaý Spagor eines Tages tatsächlich die Freude an seinem teirandon verlieren sollte.”
Althopian verneigte sich, wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging. Der mynstir öffnete ihm die Tür, wobei er betreten dessen Blick auswich.
Isan zuckte zusammen. Das Mädchen stand, einen tropfenden Lappen und eine Schale in der Hand da, und zwar wohl schon eine ganze Weile.
„Du schon wieder!”, rief Gundald Lebréoka aus.
Isan hob ihr Waschtuch an. „Ich … Herr, ich hörte, man habe Euch niedergeschlagen. In so einem Fall ist es wichtig, sofort den Kiefer zu kühlen, und … und…” Sie schaute zu Waýreth Althopian auf, dem sie offensichtlich im Weg stand. „Oh …”
„Majestät”, fragte der Ritter, ohne sich umzudrehen. „Wäre es zu viel verlangt, wenn ich darum bitte, dass diese junge fánjula mich auf meinem Weg begleitet?”
***
Ich war ein wenig enttäuscht darüber, dass Yalomiro mich nicht geweckt hatte, als er den Ritter bemerkte. Tatsächlich erzählte er mir erst davon, als wir den Hügel hinabgestiegen waren und bereits eine ganze Weile die Grenzlinie entlang wanderten. Die üppig bewaldeten Anhöhen auf der einen und die trostlos-grauen Felder mit den struppigen Gräsern, die sich in weite Ferne erstreckten, zu unserer anderen Seite gaben mir tatsächlich das Gefühl, mich entlang einer Wand zu bewegen.
Das Erwachen war seltsam gewesen. Obwohl ich mich auf der blanken Erde wiedergefunden hatte, fühlte ich mich so erfrischt und behaglich, als hätte ich in einem weichen Bett genächtigt. Mit dem Wasser aus dem bergauf strömenden Bächlein konnte ich mich waschen und es auch bedenkenlos trinken, so klar und köstlich war es.
Ich ahnte, dass das angenehme, veränderte Körpergefühl etwas mit dem zu tun hatte, was ich in der Nacht erlebt hatte. Aber das war nebensächlich gegenüber dem, was ich empfunden und gefühlt hatte, während Yalomiro sein magisches Lied gespielt hatte. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Doch ich war mir sicher, dass sich zwischen uns etwas ereignet hatte, was so nicht beabsichtigt gewesen war und nichts mit Magie zu tun hatte. Zumindest nicht mit der, die er kontrollieren konnte. Es war allerdings nicht nötig, es auszusprechen. Ich spürte, dass Yalomiro ganz Ähnliches erlebt und empfunden hatte wie ich.
Also redeten wir über andere Dinge.
„Was Gor Lucegath vollbracht hat, ist faszinierend und unaussprechlich”, erklärte Yalomiro. „Offenbar hat er das Reich der teiranda mit einem Zauber belegt, sodass keiner der Bewohner es ohne seine Zustimmung verlassen kann. Vermutlich verdreht er sogar das Gedächtnis und den Willen der Menschen, die in Kíaná von Wijdlants teirandon leben. Ich bin überzeugt, dass keiner von ihnen sich außerhalb der Grenzen daran erinnern kann, was innerhalb davon passiert. Offenbar hat selbst Waýreth Althopian keinen Verdacht geschöpft, als er Freundschaft mit Andriér Altabete schloss.”
„Das ist so schwer zu verstehen.”
„Ich stelle mir vor, dass yarl Altabete, sobald er Wijdlant verlassen darf, er selbst ist, abgesehen von seinen Erinnerungen. In denen führt er vermutlich ein ganz normales Leben, von dem er berichten darf.”
„Und Leute, die einfach nur auf der Durchreise sind?”
„Wahrscheinlich kommt denen all das hier lediglich etwas trist und unheimlich vor.”
Ich ging an Yalomiros Seite und hatte keine Ahnung, wohin er eigentlich wollte. Scheinbar suchte er eine günstige Stelle, um die Grenze zu überschreiten, ohne dass Meister Gor sofort auf ihn aufmerksam wurde. Ich fragte mich, ob das überhaupt möglich war, wenn doch das ganze Gebiet unter einem Bann stand. Es war doch davon auszugehen, dass es eine Art Alarm auslösen würde, falls jemand wie Yalomiro dort eindringen würde. So stellte ich mir das zumindest vor.
„Und wozu das alles?”
„Weil nicht einmal Meister Gor es bewerkstelligen könnte, ein weitläufiges teirandon unter seine Gewalt zu bringen, ohne dass es einem Außenstehenden auf Dauer verdächtig vorkäme. Von Benjus von Valvivant wissen wir, dass er erpresst wird, der bedauernswerte Mann. Andere teiranday wären vielleicht etwas schwieriger zahm zu halten.”
„Der teirand Asgaý von Spagor zum Beispiel?”
„Ich sehe, du hast den Menschen in Valvivant gut zugehört.”
„Ich hatte eine hervorragende Führerin.” Ich fragte mich, wie es Isan und Verta wohl zwischenzeitlich ergangen war.
„Möglicherweise will Meister Gor nichts riskieren, bevor er nicht das ay’cha’ree in Händen hält. Wenn er weiß, wie man es … einsetzt, würde ihn das wahrscheinlich allgewaltig machen.”
„Wovor könnte er Angst haben?”
„Er hat keine Angst. Er hat viel Geduld. Und offenbar alle Zeit der Welt.”
„Gut. Also: Wer könnte ihn daran hindern, zu tun, was er tut?”
„Nun, sie sind zwar weit weg. Aber vergessen wir nicht, dass es wohl immer noch die arcaval’ay in Aurópéa gibt. Vielleicht hat er vor denen, zumindest vor der großen fajía [Fee] noch ein klein wenig Respekt. Aber solange bei den Regenbogenrittern niemand um Hilfe bittet, werden sie den weiten Weg nicht auf sich nehmen, um hier jenseits des Montazíel nach dem Rechten zu sehen.”
„Wer ist die fajía?”
„Die Anführerin der arcaval’ay.” Er blieb stehen und spähte über die Felder mit dem kraftlosen Getreide.
„Hier versuchen wir es”, sagte er dann plötzlich.
„Was versuchen wir?”, fragte ich. Eigentlich hätte ich gerade gerne mehr über die arcaval’ay und die fajía erfahren.
„Ich möchte mit dir etwas ausprobieren. Und ich will, dass du es bewusst erlebst.”
„Wovon redest du?”
Er deutete auf den Boden. „Siehst du den Schatten?”
Ich hätte nicht darauf geachtet, wenn er mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Der Schattenwurf, den er meinte, wurde durch den schlanken Wipfel eines Nadelbaumes oben auf dem Hügel verursacht, der die Bäume ringsum ein Stück überragte. Die Morgensonne stand nun gerade so hinter dem Wald, dass der einzelne große Baumschatten wie ein Finger bis ins Feld hinein ragte, bevor er sich im Nebel verlor.
„Und?”
Er trat neben mich, und ehe ich es mich versah, hatte er seinen Arm um meine Schulter gelegt und dabei seinen Mantel über mich ausgebreitet. Mit sanftem Druck schob er mich einen Schritt nach vorn, mein Fuß berührte den Schatten. Schlagartig wurde es finster und die Welt verschwand.
Und genau so schnell war es wieder vorbei. Das sanfte Morgenlicht, das vom Wald herüber fiel, blendete. Der Schatten befand sich nun hinter uns. Das ganze hatte keinen Lidschlag gedauert.
„Was … was war das?”
„Wir sind einen Schritt durch Noktámas Domäne gegangen. Wie ist es dir bekommen?”
„Nun ja … ich glaube, es geht mir gut.”
„Dann gleich noch einmal.”
Er drehte sich um, packte fest zu und zog mich erneut mit sich. Wieder wurde es in Sekundenbruchteilen stockdunkel und dann wieder taghell. Und noch einmal. Und noch einmal.
Das Unangenehmste daran war, dass meine Augen gegen das ständige Hin und Her von Hell und Dunkel aufbegehrten und ich blinzeln musste. Es war, als knipse jemand in einem fensterlosen Raum das Licht an und aus, wie ein Stroboskop.
„Geht es dir immer noch gut?”
„Ich glaube schon.”
„Hervorragend. Als Meister Askýn es mich damals lehrte, war mir tagelang übel und schwindelig. Dann lass es uns wagen.”
Gerade als ich ihn fragen wollte, was er da überhaupt tat, blieb er mit mir im Schatten stehen. Jetzt begriff ich, dass die Finsternis etwas anderes war als das Fehlen von Licht. Ich spürte keinen Grund mehr unter den Füßen und klammerte mich instinktiv an Yalomiro fest. Erschrocken aufgeschrien hatte ich wohl auch. Aber ich hörte meine Stimme nicht.
Etwas pulsierte über meinen Körper, achtsam und zärtlich. Yalomiro löste vorsichtig meine Finger, die sich fest in seinem Arm gegraben hatten.
Ruhig, hörte ich ihn. Nimm meine Hand.
Ich tastete danach. Sehen konnte ich nichts, rein gar nichts. Diese Dunkelheit war schwärzer als Schwarz.
Denk nicht darüber nach, riet er mir. Wie fühlst du dich nun?
Ich wollte ihm antworten, aber kein Laut kam über meine Lippen. Ich besann mich und dachte: Ich weiß nicht. Es tut nicht weh.
Nein, natürlich nicht. Hast du Angst?
Nein. Nicht, solange du mich festhältst.
Dies ist der sicherste aller Orte. Dies ist Noktámas Domäne. Wir sind im Innersten der Dunkelheit.
Ich wollte etwas entgegnen, aber er unterbrach mich. Nicht darüber nachdenken! Und vor allem: Lass mich nicht los. Du würdest mich hier nicht wiederfinden. In Noktámas Domäne sind Zeit und Raum anders, als du es gelernt hast.
Würdest du bitte aufhören, Dinge aufzuzählen, an die ich nicht denken soll?
Er setzte sich in Bewegung. Ich vermutete, dass er sich amüsierte. Komm!
Tatsächlich – gehen konnte man an diesem seltsamen Ort. Es war nicht, als ob ich schwebte oder richtungslos durch Leere taumelte. Sicher war das Yalomiros Verdienst. Solange ich mich von ihm führen ließ, brauchte ich mir keine Gedanken zu machen.
Du kannst die Augen schließen, instruierte er mich munter. Zu sehen ist hier ohnehin nichts. Aber wenn man es die ersten Male tut, fällt es leichter.
In regelmäßigen Abständen pulste dieses Streicheln über mich hinweg. Vermutlich war es Yalomiros maghiscal, die synchron zu seinem Herzschlag brandete. Zu hören war hier nichts, aber die Stille war sonderbar angenehm und die Dunkelheit warm. Da nichts meine Sinne ablenkte, nahm ich wieder den zarten Duft wahr, der von ihm ausging. Ich atmete tief durch, machte die Augen zu und zwang mich, ganz normal auszuschreiten. Nach einer Weile ging das ganz gut. Etwa alle zehn Schritte spürte ich die Energie. Das gab mir einen Rhythmus, an dem ich mich orientieren konnte.
Es gibt hier nichts, worüber du stolpern könntest und keine Abgründe, die sich auftun. Du kannst unbesorgt gehen. Nicht so zaghaft. Dies sind die Schatten. Hier bist du geborgen. Hab Vertrauen! Komm!
Ehe ich es mich versah, setzte er sich ruckartig in Bewegung. Er lief los und zog mich mit sich. Ich packte seine Hand und eilte ihm hinterher.
Was tust du?
Komm! Lass uns rennen!
Warum?
Einfach so!
Er lachte und stob ein paar Schritte voran. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit ihm Schritt zu halten. Ich rannte blindlings ins Dunkle hinein, Hand in Hand mit dem Schattensänger, ohne zu sehen, ohne Boden unter den Füßen. Ich ließ mich von dem Übermut anstecken, der ihn unversehens ergriffen hatte.
Das machte Spaß!
Ich konnte nicht anders. Ich begann zu kichern. Er jagte mit mir umher. Hätte er mich nicht die ganze Zeit sicher an der Hand geführt, es wäre gewesen, als spielten wir miteinander Fangen. Ich genoss die völlig ungewohnte kindliche Freude, die mich überkam. Zugleich wurde mir wurde bewusst, dass ich ihn zuvor noch nie so gut gelaunt erlebt hatte.
Da blieb er unvermittelt stehen, und ich prallte mit ihm zusammen.
Sein betörender Pflanzenduft überwältigte mich. Ich stand so nahe bei ihm, dass ich seine maghiscal ganz intensiv spüren konnte.
Ich bin glücklich, dass wir zusammen an diesem Ort sind, dachte er, plötzlich so ernst, dass ich erschauerte. Ich bin so froh, dass ich dir die Dunkelheit zeigen kann. Komm. Wir gehen weiter.
Kann Meister Gor uns hierher folgen?, fragte ich.
Nein. Nur camat’ay wissen, wie man den Schatten betritt.
Und wieso bin ich dann hier?
Weil du seit gestern Nacht ein wenig Schattensängermagie in dir trägst und mit mir verbunden bist.
Aha …
Stell es dir vor, als sei meine maghiscal wie eine Seifenblase um dich und mich herum, die uns beschirmt.
Und damit können wir beliebig weit an jedes erdenkliche Ziel gehen?
Im Prinzip schon. Aber ich bin nicht mächtig genug, um uns beide auf eine lange Wanderschaft zu führen. Alles, was wir tun, ist, uns eine Weile zu verstecken, setzte er munter hinzu.
Und wohin gehen wir?
Zur Nordgrenze des yarlmálon Moréaval. Von dort aus soweit nach Norden wie möglich. Mit etwas Glück dauert eine Weile, bis Gor Lucegath unsere Spur aufnehmen kann. Er kann nicht ahnen, an welcher Seite wir unter seinem Reich wieder hervorkommen. Ich bin sicher, im Haus Althopian bist du gut aufgehoben.
Warst du schon einmal da?
Nein. Aber Meister Askýn war in seiner … Jugend dort. Eine herbe, grüne Landschaft mit riesigen Weiden für die Pferde. Jeder yarl, der etwas auf seine Ritterwürde hält, so heißt es, hat mindestens ein Ross aus der Zucht des Hauses Althopian im Stall. Davon hast du sicher in Valvivant bereits gehört
Und du gehst dann weiter, um das ay’cha’ree zu suchen?
Nein. Sobald ich dich in Sicherheit weiß, werde ich hierher zurückkehren.
Ich blieb stehen. Da er mich bei der Hand hielt, stoppte das auch ihn.
Wie bitte? Aber … wieso?
Kannst du dir das nicht denken? Hast du das kleine Tier vergessen, das auf seltsame Weise mit dem Brief des Ritters von heute früh zu schaffen hat?
Die Brieftaube?
Der Rhythmus des Energiepulses beschleunigte sich.
Nie im Leben war es eine Brieftaube. Es hat sich in Pianmurít, unbemerkt von Gor Lucegath, etwas an all seinen Zaubern vorbei zugetragen, so unbedeutend und mangelhaft es am Ende auch gewesen ist. Weißt du, was das bedeuten könnte?
Ich konnte mir Einiges vorstellen. Es konnte doch nicht so schwer sein, eine Botschaft aus der Burg herauszuschmuggeln. Eine altmodische Brieftaube wäre doch nur die naheliegende Möglichkeit.
Aber ich ahnte, dass Yalomiro etwas ganz anderes glaubte. Etwas, das so ungeheuerlich war, dass es sich letztlich nur um eine verzweifelte Hoffnung handeln konnte.
Ich glaube, dachte er, und sein Gedanke war ein zaghaftes Wispern, jemand hat … überlebt.
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