Diesmal war Yalomiro nicht einfach losgaloppiert. Das wäre im dichten Wald auch schwerlich möglich gewesen. Stattdessen schlängelte er sich in seiner Pferdegestalt zwischen den Bäumen hindurch. Wo es möglich war, trabte er ein Stück und wagte ab und zu einen Sprung, wenn ein Bach oder eine Mulde vor uns auftauchten. Dadurch kamen wir zügiger voran als zu Fuß. Als der Morgen graute und Nebelschwaden sich vom Waldboden hoben, hatten wir bereits eine weite Strecke zwischen uns und die Burg gebracht. Vielleicht kamen wir dabei sogar schneller voran, als es auf normale Art und Weise möglich gewesen wäre. Es hätte mich nicht gewundert.

An und zu trug der Schall ferne Geräusche an uns heran. Natürlich hatten Menschen im Wald zu tun. Einmal waren sogar die Axthiebe von Holzfällern zu hören. Aber wir begegneten niemandem. Yalomiro schien mit traumwandlerischer Gewissheit zu wissen, wie er Wanderern und Berittenen auswich.

Sonderlich bequem war diese Art zu reisen für mich nach wie vor noch nicht. Das glatte Pferdefell war rutschig und die einzige Möglichkeit, mich festzuhalten, bot der Griff in seine Mähne und an den Tragegurt der Tasche, die er wieder um seinen Hals trug. Auch meine neue Kleidung mit dem vielen Stoff war nun weit weniger praktisch als meine gute alte, und mittlerweile sicherlich von Verta entsorgte, Jeans. Mit der Zeit bekam ich zwar den Dreh mit der Balance heraus, aber alles in allem war es doch bequemer gewesen, als yarl Althopian mich bei sich auf einem Sattel transportiert hatte.

„Wie machst du das eigentlich”, fragte ich einmal. „Wie kannst du deinen Körper in … na ja … in eine andere Form bringen?”

Erwartest du ernsthaft, dass du es verstehen würdest, wenn ich es dir erkläre? Ich habe viele Sommer gebraucht, bis ich diese Kunst beherrschte.

„Kann Meister Gor das auch?”

Nein. Zumindest hätte ich noch nicht davon gehört, dass seinesgleichen Verkleidungen anlegt. Bevor du fragst: Die arcaval’ay tun es schon gar nicht.

„Die arcaval’ay sind diese Leute mit den bunten Einhorn-Tieren?”

Die Regenbogenritter, ja.

„Was hat es mit denen auf sich?”

Er schnaubte, als behage ihm das Thema nicht. Tatsächlich wich er aus. Nun, ich glaube nicht, dass wir einem von ihnen begegnen werden. Ihre Weihestätte liegt auf der anderen Seite des Montazíel, am Rand von Soldesér, der unendlichen Wüste am Rande des Chaos. Unser Weg führt mit jedem Schritt weiter von ihnen weg. Meinesgleichen ist ihnen nur von Zeit zu Zeit, und nicht immer im Guten begegnet.

„Hat das auch etwas mit dieser schrecklichen Schlacht zu tun, von der ich das Bild gesehen habe?”

Unter anderem.

Er schwieg und hielt das Thema wohl für beendet. Aber meine Neugierde war nicht befriedigt.

„Sind die arcaval’ay … gute Magier?”

Du glaubst immer noch, man könne Magie in Gut und Böse einteilen?

„Dann erklär mir das so, dass ich es verstehe!”

Schattensänger und Regenbogenritter stehen einander direkt gegenüber. Immer.

„Sind sie eure Feinde?”

Unser Gegensatz.

„Warum bist du so ungehalten?”

Er setzte über einen Wasserlauf hinweg, der vor uns einen tiefen Graben in den weichen Waldboden gegraben hatte. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig festhalten.

Hör zu, fuhr er fort, es ist schlichtweg unmöglich, dass den arcaval’ay entgangen ist, was in Boscargén passiert ist. Es ist ebenso unmöglich, dass sie nicht wissen, was für ein Spiel Gor Lucegath in Pianmurít treibt. Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, dass wenigstens einige von meinesgleichen versucht haben, sie um … was auch immer zu bitten. Um Asyl, Unterstützung oder wenigstens einen weisen Rat. Ganz offensichtlich ohne Erfolg. Wahrscheinlich dachten sie, wenn sie nur lange genug stillhalten, würden sich alle Probleme von allein lösen. Oder wir würden sie selbst lösen. Sie hatten keinen Anlass, meinesgleichen beizustehen. Es gab zu viele Missverständnisse, vor langer, langer Zeit. Es ist trostlos, darüber nachzudenken, was hätte sein können, ohne diese Irrtümer. Es ist vorbei.

Der Wald wurde zunehmend lichter. Das Dickicht weitete sich, und Yalomiro musste seltener springen oder Steigungen und Gefälle überwinden. Innerhalb der letzten Stunden war das Gelände deutlich ebener geworden.

Der Gedanke an die Regenbogenritter ließ mich nicht los. Mit Regenbögen assoziierte ich – jenseits von dem optischen Wetterphänomen – bonbonbunte Leichtigkeit, wie man sie in Kinderzimmern erwartete, oder auch eine Symbolik, die als dekoratives Element bis hin zur Belanglosigkeit, zum Kitsch hin abgenutzt und verzerrt worden war. Die Abbilder der Krieger im Thronsaal waren mir vorgekommen wie eine Illustration aus einem Märchenbuch. Einem grimmigen Märchen, denn die expliziten, blutigen Details passten nicht dazu. Regenbögen – das war, Friede, Frohsinn, Zuckerguss. Kein Gemetzel, bei dem Leute Gliedmaßen und Leben verloren..

„Haben die … Unkundigen … dort, wo sie leben, Angst vor den Rittern? So wie die Leute in dem Bergarbeiterdorf vor euch?”

Nein. Die arcaval’ay sind die Wächter der größten Stadt an der Wüste. Aurópéa . Wenn die Zeit daran nichts geändert hat, preisen und verehren die ujoray von Soldesér sie immer noch und fort bis zum Ende des Weltenspiels.

Klang da eine Bitternis in seinen Worten? Ich wusste es nicht zu sagen. Also fragte ich nicht weiter nach. Allerdings kam mir der Gedanke, dass diese von mächtigen Magier-Rittern beschützte Stadt Aurópéa möglicherweise ebenfalls ein Ort war, der Sicherheit vor Gor Lucegath versprach.

Andererseits – wenn Aurópéa sich buchstäblich am anderen Ende dieser Welt befand, dann war es obsolet, darüber nachzudenken, wie wir dorthin kommen sollten. Wahrscheinlich hatte es ohnehin seine Gründe, warum Yalomiro diese Option nicht einmal in Erwägung gezogen hatte – denn dann hätte er schon am Tag unserer Begegnung in den Überresten des Boscargén die entgegengesetzte Richtung einschlagen müssen.

Nun bist du an der Reihe. Erzähl du mir, was du derweil in Valvivant erfahren und erfragt hast. Erzähl mir von den Leuten dort. Und sag mir, was es mit der Haarnadel dieser eldyarlara auf sich hat, die yarl Althopian so sorgsam hütet, dass er unentwegt darüber nachgedacht hat.

„Hat er das?”

Er war verwirrt und aufgeregt, als ich die Halle betrat. So als stünde er vor einem wirklich heiklen Abenteuer. Als erwarte er, einem furchterregenden Monster gegenüberzutreten.

Das belustigte mich. Möglicherweise wäre die eld-yarlara tatsächlich eine schwierige Schwiegermutter. Ich begann meinen Bericht und erzählte ihm alles, woran ich mich erinnerte, von meinem Ritt mit dem yarl und seinen Andeutungen über Andriér Altabete. Ich erzählte ihm von der alten doayra Verta und der pfiffigen Isan, die so gern dem yarl dienen wollte. Von der kurzen Begegnung, die ich mit dem teirand und seinem mynstir hatte. Und ich berichtete ihm von Isans Plan, den Ritter mit der yarlara von Ivaál zusammenzubringen,

Ich hoffe, es wird auf der Burg für die Bewohner weiterhin friedlich bleiben. Und mögen die Mächte geben, dass Althopian sein Glück mit dieser yarlara findet und euer Plan glückt. Er ist ein rechtschaffener und tugendhafter Mann.

„Ich habe gehört, die camat’ay und die Familie Althopian haben ein Bündnis geschlossen.”

Nein, das stimmt so nicht. So erklären es sich die Unkundigen, um es zu verstehen. Es ist verwickelter, und es reicht zu weit in die Vergangenheit. Für den Moment sollte, es dir genügen zu wissen, dass das Haus Althopian selbst in den finstersten Tagen der Chaoskriege seine Unschuld, Tapferkeit und Ehre erhalten hat. Das war in jenen Tagen weder für yarlay noch für teiranday selbstverständlich.

Weitere Stunden vergingen, und mein Zeitgefühl verwischte. Der Wald schien kein Ende zu nehmen, aber er veränderte sich zusehends. Was anfangs noch eine halbwilde Parklandschaft mit Gärten, Wasserspielen und Lauben auf den Lichtungen gewesen war, wandelte sich immer mehr zu einem naturnahen Forst. Auch der Baumbestand wechselte, vom Laub- zum Misch- und schließlich zu weiten Strecken kühl-düsterem Nadelwald. Ab und zu hämmerte ein Specht oder ich sah im Augenwinkel ein Reh vorbeispringen. Einmal lief uns eine Rotte Tiere über den Weg, die wie Wildschweine mit fuchsrotem Fell und vom Format eines kleinen Ponys aussahen. Sie trugen gefährliche Hauer zur Schau. Yalomiro blieb gelassen stehen und ließ sie passieren. Unbeeindruckt wühlten die Tiere sich an uns vorbei und pflügten den Boden nach Wurzeln und Pilzen auf. Einige Jungtiere mit flauschig weichem Fell waren dabei. Eines schnüffelte an Yalomiros Hufen und hoppelte quiekend davon.

„Was sind das für Geschöpfe?”, wollte ich wissen.

Waldschweine, sagte er und ging weiter.

Dass es irgendwann Abend wurde, bemerkte ich unter den Bäumen nur anhand der Lichtverhältnisse. Das flirrende, helle Mittagslicht färbte sich von Stunde zu Stunde goldener und schwerer, während es sich von den Wipfeln her bis auf den immer steiniger werdenden Waldboden ergoss. Hier wurde das Gelände brüchig; Felsvorsprünge und kleine Schluchten taten sich auf, aus denen grünliches Gestein hervortrat. Die Bäume waren überraschend hoch und mächtige Laubkronen überspannten das Unterholz. Yalomiro musste nun regelrecht klettern, denn er wollte immer weiter hinab. Über einige meterbreite Kluften sprang er einfach hinweg, Ich bot ihm an, abzusteigen, aber das wollte er nicht. Auf seinem Rücken, so behauptete er mit freundlichem Spott, könne ich mir immerhin nicht wieder Glieder brechen.

Schließlich war die Kletterpartie vorbei. Der Abstieg endete auf sacht abfallendem Boden. Wahrscheinlich waren dies die letzten Ausläufer des Montazíel. Ich versuchte, mir die Topographie dieses Geländes auszumalen, aber kam nicht weit damit. Dazu fehlte mir die geographische Phantasie.

Yalomiro schritt auf in Grüppchen kirchturmhoher Birken an einem Hang zu und blieb vor einem großen moosüberwachsenen Findling stehen.

Hier warten wir, beschloss er dann und stellte sich so neben den Stein, dass ich ihn zum Absteigen benutzen konnte. Ich kletterte hinab und erkannte dabei, dass es sich bei dem Stein um eine Wegmarke handelte. Ein Wappen war darauf eingemeißelt, aber zu weiten Teilen verwittert und unter dem Moospolster verschwunden. Mit etwas Phantasie ließ sich so etwas wie eine Getreideähre erkennen.

Ich war froh, wieder auf meinen Füßen zu stehen. Ein paar Meter entfernt murmelte ein Bächlein. Ich ging hinüber und kniete am Ufer nieder, um Wasser in die hohle Hand zu schöpfen und einen Schluck zu trinken, aber noch bevor ich dazu kam, stutzte ich.

Der Bach strömte den Hang hinauf.

Yalomiro war wieder seine menschliche Gestalt geschlüpft, beugte sich ebenfalls hinab. Er wusch seine erdverschmutzen Hände und sein Gesicht. Die unmögliche Fließrichtung des Wassers schien ihn nicht zu verwirren. Ich entschloss mich, mir eine dumme Frage zu sparen, und nahm es als gegeben hin. Das Wasser war herrlich, kalt und glasklar, auch wenn es sich der Physik wiedersetze.

„Wo sind wir hier?”

„An der nördlichen Grenze des yarlmálon der Herren von Tjiergroen. Hinter diesem Wäldchen, am Fuße des Hügels, beginnt das Land des Hauses Grootplen. Diese yarlay sind Lehnsmänner der teiranday von Wijdlant. Einen von ihnen, wohl ihren mynstir, hast du auf dem Montazíel gesehen.”

„Ich habe nicht wirklich etwa von den Leuten sehen können. Sie hatten keine Gesichter.”

„Du hast ihre Gesichter nicht sehen können?”

„Nein. Nur das der teiranda. Stimmen hatten sie auch nicht. Zumindest habe ich sie nicht verstehen können. Es war nur Gemurmel.”

Yalomiro schaute mich einen Augenblick lang nachdenklich an.

„Stimmt etwas nicht?”

„Es ist … aufschlussreich für mich, zu hören, wie Gor Lucegaths Zauber durch deine Augen aussieht.”

Wir kehrten zu dem Grenzstein zurück. Ich war meinerseits froh, mir wieder etwas die Beine vertreten zu können und begann, mich im Birkenwald umzuschauen. Ich bestaunte die riesigen Bäume, fragte mich dann, ob das wirklich Birken waren, lief ein paar Schritte fasziniert dem Bachlauf hinterher und fand an dessen Ufer schließlich eine Stelle, an der appetitlich duftende, beigefarbene Pilze wuchsen.

Schließlich ging ich neugierig einige Schritte weiter, aus dem Wald heraus und schaute, was es dahinter gab.

„Um Himmels willen”, war alles, was mir einfiel.

Der Hügel senkte sich noch ein Stück weiter ab und lief an seinem Fuß in eine Ebene aus. So weit das Auge reichte – und das war ziemlich weit, denn das Gelände war flach wie ein Teller – wuchsen Pflanzen. Ich hätte es für Getreidefelder gehalten, war mir aber nicht sicher. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Anblick, aber der Rand dieser vermeintlichen Felder war zu weit weg, um zu sagen, woran es lag. Wahrscheinlich war es schlicht die Farbe, ein unpassender Schimmer, der sicherlich ein Effekt des schwindenden Tageslichts war.

Da und dort erhoben sich einzelne Baumgruppen mit kahlem Geäst, in einiger Entfernung schnitt eine Mauer oder Hecke das Gelände – so genau ließ sich das nicht sagen. Ich erkannte ich ziemlich weit etwas, was ein größeres Gebäude sein mochte.

Alles war staubgrau und starr. Falls es Äcker oder Weideland waren, dann war hier etwas Ähnliches passiert wie in Boscargén. Nein, nicht ganz dasselbe. Das Land dort vor uns war noch nicht tot. Noch nicht ganz.

Und da war noch etwas. Zuerst dachte ich, der Qualm eines großen Feuers zöge träge über die Ebene. Dann bemerkte ich, dass es Nebel war, graue, feuchte Nebelschleier.

Hier, am Rand der Birken, im Wald, war ein milder Frühsommerabend, mit ihren Abendgesang schmetternden Vögeln. Am Fuß des Hügels, drüben wie mit einem Lineal gezogen, begann nasstrübe Novemberkälte.

„Was ist das?”, wisperte ich, als ich Yalomiros Schritte hinter mir hörte.

Er nahm den Anblick gelassen hin, so, als habe er nichts anderes erwartet.

„Das, was Unkundige sehen”, sagte er dann und ich spürte seine Hand auf meiner Schulter, „ist Wijdlant. Das was wir beide sehen, ist Pianmurít.”