
Yalomiro redete nicht mit mir und schaute mich auch nicht an, während wir die Burg hinter uns ließen. Er ging zügigen Schrittes, aber er rannte nicht. Auf der Flucht war er also offenbar keineswegs. Ich folgte ihm, so schnell ich konnte und wagte meinerseits nicht, ihn anzusprechen. Wer weiß? Vielleicht war er zu Recht wütend auf mich. Immerhin hatte ich seine Anweisungen missachtet und mit den Leuten in der Burg gesprochen, mich sogar mit ihnen angefreundet. Sicher hatte ich alles verdorben. Ich machte immer alles falsch, egal, was ich anpackte.
Womöglich kam ihm das vor wie ein Verrat.
Dazu kam die schreckliche Gewissheit, dass die Menschen, die er gekannt hatte – und das Mädchen, das ihm offensichtlich so viel bedeutet hatte – tot waren. Was mochte nun in ihm vorgehen? Hatte ihn diese Neuigkeit überhaupt noch ernsthaft überrascht? Oder hatte er schon damals, als wir die Überreste des Boscargén verließen, gewusst, dass er sie verloren hatte?
Ich konnte es nicht einschätzen; ebenso wenig, wie ich mir ausmalen konnte, wie viel Zeit wohl vergangen war, während der Magier versteinert in dieser okkulten Weihestätte der Nacht ausgeharrt hatte. All der Staub und die Spinnweben – das konnte sich nicht innerhalb weniger Jahre angesammelt haben.
Wenn Benjus von Valvivant als Kind Zeuge dieser Ereignisse gewesen war, dann konnte ohne Weiteres ein halbes Jahrhundert verstrichen sein! Verta, die offensichtlich von den Besuchen eines Rotgewandeten wusste, hatte selbst gemutmaßt, dass Yalomiro diesem entkommen sein musste. Das bedeutete, dass auch die alte doayra innerhalb ihrer Lebenszeit andere Schattensänger gesehen oder zumindest von ihnen gehört haben musste. Was für ein Zeitfenster bedeutete das? Sechzig Jahre? Siebzig?
Aber wie konnte das mit der teiranda zusammenpassen, die schon damals mit Meister Gor unterwegs gewesen war und immer noch eine junge Frau zu sein schien?
Wie alt wurden Menschen in dieser Welt eigentlich unter normalen Umständen?
Diese Grübelei beschäftigte mich eine Weile. Sie konnte mich allerdings nicht von der beunruhigenden Tatsache ablenken, dass Yalomiro nach wie vor nicht mit mir redete.
Vielleicht wäre es mir in diesem Moment besser gegangen, wenn er sich aufgeregt und mit mir geschimpft hätte. Oder wenn er sich zumindest erkundigt hätte, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen war. Irgendetwas. Nur nicht dieses schreckliche Schweigen.
Ich fühlte mich miserabel, wagte aber nicht, ihn anzusprechen. Nicht jetzt.
Wir erreichten den Rand des angrenzenden, parkähnlichen Gehölzes, in das die schnurgerade Straße hineinführte. Der Schattensänger wurde zu einem Schemen, im finsteren Wald kaum noch auszumachen. Ich hatte schon wenige Augenblicke später Mühe, ihn zwischen den Bäumen zu erkennen und vor allem auch zu sehen, wohin ich trat, denn er hatte den Weg verlassen. Folglich kam ich nicht weit. Mein Fuß blieb an irgendeinem Gewächs hängen und ich schlug in voller Länge hin, mitten hinein in ein paar üppige Farnbüschel am Wegesrand.
Ein silbrig schimmerndes Leuchten flammte auf. Über Yalomiros Fingern schwebte ein filigranes, glitzerndes Gebilde, wie eine rotierende Pyramide aus Spinnweben.
„Entschuldige”, sagte er zerstreut und reichte mir seine andere Hand. „Ich vergaß, dass deine Augen nachts nicht gut sehen. Ich bin unaufmerksam.”
Ich ließ mir aufhelfen. Das kleine magische Licht warf bizarre Muster auf sein Gesicht, als er sich abwandte und wortlos weiter schritt.
„Es ging einfach nicht anders”, sprudelte ich los. „Ich … ich hab es verpatzt. Und dann war es letztlich auch egal. Sie waren freundlich, und ich habe nichts verraten. Aber ich konnte nicht die ganze Zeit schweigen.”
„Es war offenkundig eine ganz unselige Idee von mir, dich herzubringen.”
„Meister Gor hat sich auch gewundert.”
Er blieb stehen. „Wie bitte?“
„Im Gebirge, während du bewusstlos warst … er sagte, dass du in Valvivant direkt in die nächste Falle gelaufen wärest.”
„Warum hast du mich nicht gewarnt?”
„Wann denn? Es ging doch alles so schnell!”
Er seufzte und setzte seinen Weg fort. Doch nun konnte ich seinem Licht folgen.
„Weißt du, Ujora, wenn du nur mit den freundlichen Menschen gesprochen hättest, wäre es gleich gewesen. Ich konnte nicht ahnen, dass wir dem teirand nicht trauen können. Mein Meister hatte das teirandon Valvivant hoch geschätzt. Vermutlich sprach er vom Urgroßvater dieses teirand.”
„Mit dem teirand habe ich nur ganz kurz gesprochen.”
„Und?”
„Kann er von yarl Althopian gewusst haben, wie du mich nennst?”
„Nein.”
„Aber er hat mich mit ‚Ujora’ angesprochen.”
„Das ist ungewöhnlich, muss aber nichts bedeuten.”
„Nein?”
„Nein. Aber es ist nicht gut, dass der teirand weiß, dass wir zusammengehören. Er kann sicher in irgendeiner Weise eine Verbindung zu ihm herstellen und wird es wahrscheinlich tun, um den Ärger des Rotgewandeten von sich abzuwenden. Er kann schließlich nicht wissen, dass Gor Lucegath bereits hinter mir herjagt. Wahrscheinlich treffen sie sich auf halber Strecke.”
„Du glaubst, Meister Gor weiß, dass wir hier sind?”
„Sicher. Aber er wird nicht damit gerechnet haben, dass ich mich nicht provozieren lasse.”
„Provozieren?”
Yalomiro schwieg eine Weile. Ich dachte schon, er habe das Gespräch beendet. Doch dann redete er weiter.
„Du hast dieses geschmacklose Bild im Saal gesehen. Dieser spezielle camat’ay, Ovidáol Etaímalar hieß er, hat in der Vergangenheit der Unkundigen eine unrühmliche Rolle gespielt. Er hat ihnen unsagbares Leid zugefügt und unseren Ruf ein für alle Mal ruiniert. Wäre er an meiner Stelle gewesen und hätte seinem Zorn und seinen Launen freien Lauf gelassen, dann wäre von der Burg und ihren Bewohnern nun nichts mehr übrig. Wahrscheinlich wollte Meister Gor beobachten, ob ich den teirand für den Verrat an meinesgleichen … nun … bestraft hätte.”
„Dann stimmt es, dass die Schattensänger …”
„Nein. Aber es gibt Unkundige, die das seit jenen lange zurückliegenden Tagen von uns erwarten. Die Verbrechen, die damals begangen wurden, lasten seither auf uns und haften uns an wie eine Seuche.”
„Was ist am Ende geschehen? Mit diesem … mit dem Mann auf dem Gemälde? Wurde er besiegt?”
Yalomiro lachte bitter auf. „Verschwunden ist er, vom einen Moment auf den nächsten. Niemand weiß, was ihm letztlich Einhalt geboten hat. Oder … wer es war.”
„Und du glaubst, Meister Gor hätte dir zugetraut, dass du den teirand verletzt?”
„Er hat es zumindest in Kauf genommen. Gor Lucegath hat immerhin keine Hemmungen, Menschen in Gefahr zu bringen.”
Ich blieb stehen. Er bemerkte das erst nach einigen Schritten und drehte sich zu mir um.
„Das hättest du nie getan”, sagte ich. „Das könntest du nicht.”
„Was könnte ich nicht?”
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du … jemandem weh tun würdest.”
„Ach?” Er hob überrascht die Brauen. „Wirklich? Hast du denn nicht zugehört, als die teiranda und der Rotgewandete und mutmaßlich eine Menge Leute auf der Burg über unsere abscheulichen Taten redeten? Eine Menge Unfug vermutlich, aber sicher auch Dinge, die du möglicherweise lieber nicht wüsstest?”
„Das ist nicht dasselbe. Sicher, du hast wahrscheinlich Fähigkeiten, von denen ich gar nicht wissen möchte, was du damit vollbringen könntest. Und ich kann auch gar nicht ahnen, was die anderen camat’ay getan haben. Aber du … “
Er wartete. Sein fragender Blick im Schein seines Lichtzaubers brachte mich aus der Bahn.
„Du bist doch ein guter Mensch”, meinte ich schließlich verunsichert und kam mir dabei unglaublich geistlos vor.
„Du wirfst mit großen Worten um dich. Was ist gut, Ujora? Was ist schlecht? Was bedeuten diese Worte für dich, für mich, für den teirand oder gar den Rotgewandeten?”
Er ging weiter. Ich schloss wieder zu ihm auf.
„Gut und böse”, fuhr er fort, „das Richtige und das Falsche, Freude und Leid, Güte und Hass… all das existiert nur, solange eine Seele da ist, die es bewertet. Für sich selbst genommen haben all diese Begriffe keinerlei Bedeutung. Stell es dir vor wie den Schattenwurf um einen einzelnen Baum, während den Tag über um herum zieht. Ob du im Schatten bist oder im Licht – das liegt nur daran, von welcher Seite aus du dir ihn anschaust. An welcher Stelle du stehst, wenn der Schatten über dich hinweggeht. Dem Schatten selbst ist das alles gleich. Es gibt die Blickrichtung. Und die Zeit.”
Er hob seine Hand in die Senkrechte und das zarte Lichtgebilde umkreiste sie wie ein winziger Planet, erhellte mal seinen Handrücken, mal die Handfläche.
„Und das wirklich Interessante ist”, schloss er und fing das Leuchten wieder ein, „niemand hindert dich daran, um den Baum herumzugehen, wie es dir beliebt. Aus wie vielen Richtungen kannst du ein Ding im Zentrum betrachten, wenn du es dir von allen Seiten anschaust?”
„Was willst du mir damit sagen? Dass letztlich alles egal ist? Dass es keine Moral bei alledem gibt?”
„Nein. Ich möchte nur, dass du selbst darüber nachdenkst.” Er ging weiter und fügte hinzu: „Wobei es hilfreich ist, sich einmal zu entscheiden, von welcher Seite aus man dauerhaft zuschaut. Die Alternative wäre ein unstetes Umherirren, immer im Kreis herum. Man würde schwindelig dabei.”
„Aber du hättest dem teirand trotzdem nichts angetan, oder?”
Yalomiro balancierte sein Licht auf der Hand.
„Nein. Der arme Kerl ist ein Opfer seiner Angst. Sein Großvater hatte keine Wahl, damals. Manchmal tun Menschen nicht aus eigener Überzeugung heraus Dinge, sondern aus Angst. Angst ist stärker als Überzeugungen, Ujora. Allzu oft, jedenfalls. Hoffen wir, dass daraus nichts … Übles erwächst.”
Ich dachte darüber nach. Der Wald wurde immer dichter und finsterer. Yalomiro wanderte zwischenzeitlich quer zwischen den Bäumen hindurch. Trotz der magischen Beleuchtung wurde es beschwerlicher, ihm durch das unebene Gelände zu folgen.
„Wohin gehen wir eigentlich?”, fragte ich.
„Zunächst einmal weg aus Valvivant. Der teirand wird uns verfolgen lassen, sobald er wieder klar bei Verstand ist. Aber seine Leute werden das teirandon nicht verlassen.”
„Wir gehen also zu einer Grenze?”
„Nach alldem, was geschehen ist, würde ich dich zu gern ins yarlmálon Althopian, in das Haus deines neuen Freundes bringen. Dort wärst du unter Menschen, denen ich wirklich vertrauen kann. Waýreth Althopian ist kein Lehnsmann von Benjus von Valvivant.”
„Ja, ich weiß. Er hat erwähnt, dass er und seine Freunde … yarl Altabete und noch jemand … sich treffen wollten, um sonderbaren Dingen nachzugehen, die in diesem anderen Land … “
„Wijdlant?”
„Ja, genau. Die Dinge, die dort vorgehen. Offenbar ist er auf eigene Faust losgezogen, weil der teirand, dem er dient, nichts dagegen unternimmt. Darüber war er ziemlich verbittert, schien mir.”
„Das ist interessant”, murmelte Yalomiro. „Nannte er zufällig den Namen seines Herrn?”
Ich versuchte, mich an die kurze Begegnung zu erinnern, während der der Ritter den Namen erwähnt hatte, aber ich erinnerte mich nur bruchstückhaft. Ich entsann mich lediglich, wie ich mit meiner Geschichte vom Reich der schönen teiranda bei ihm abgeblitzt war.
„Vóudir von Spagor?”
„Spagor, ja! Das war es. Aber der Rufname stimmt nicht.”
„Herr Vóudir war der teirand, der auf dem Thron war, als … noch alles beim Alten war. Dann ist ihm nun also einer seiner Nachkommen gefolgt, und das Haus Althopian hält ihm immer noch die Treue. Ich beginne, zu begreifen, wie viel Zeit verstrichen sein muss, seit der Rotgewandete den Etaímalon betrat. “
„Es ist also ein gutes Zeichen, dass dieser … Spagor da ist?”
„Ja, selbst wenn seine yarlay nicht glücklich mit seiner Autorität sind. Es bedeutet, dass Gor Lucegath das Reich der teiranda von Wijdlant zwischenzeitlich nicht gen Norden ausweiten konnte. Oder es aus irgendeinem Grund nicht wollte.”
„Aber wenn yarl Altabete einer von Kíanás Rittern ist, und sie die teiranda von Wijdlant … ich verstehe das alles nicht. Wie kann es sein, dass niemand von Pianmurít gehört hat? Ich hatte angenommen, das sei einfach das Reich, aus dem Meister Gor kommt.”
„Es ist sicherlich eine Domäne, in der er sich regelmäßig aufhält.” Er schaute sich zu mir um und fügte hinzu: „Das ist nicht unbedingt ein anderer Platz.”
„Ich verstehe kein Wort.”
„Vielleicht ist alles ganz offensichtlich, so dass es unter allen Augen geschehen kann. Hat Althopian gesagt, was in Wijdlant so seltsam ist?”
„Nein.”
„Nun gut. Wir werden es bald wissen.”
„Wie meinst du das?”
„Ich sagte doch soeben, dass ich dich zum Haus von Waýreth Althopian führen möchte. Nun, der schnellste Weg dorthin führt durch Wijdlant hindurch.”
Das verschlug mir die Sprache.
„Wir könnten natürlich einen Umweg machen und den Straßen folgen, auf denen der yarl höchstwahrscheinlich nach Valvivant gekommen ist, in einem weiten Bogen durch die yarlmálon der Herren von Tjiergroen, Lebréoka und Valfrontír. Damit würden wir uns jedoch unnötig lange aufhalten. Ich halte es für klüger, es zu wagen und auf dem kürzesten Weg zu reisen.”
Während er sprach, entfaltete sich das Gebilde aus Lichtfäden und bildete vor meinen Augen so etwas wie eine abstrakte schematische Landkarte, bar jeder geographischen Präzision. Eigentlich waren es nur einige unregelmäßige Vielecke, die aneinandergrenzten wie chaotische Bienenwaben und wohl die ungefähre Lage der einzelnen yarlmálon verdeutlichten. Yalomiro deutete knapp auf einen Punkt im unteren Bereich und dann auf einen anderen rechts oberhalb davon. Noch bevor ich mir Genaueres einprägen konnte, war das Bild schon wieder verschwunden. Aber ich begriff, dass der Weg durch eine spitze Ecke des vermeintlichen Reiches Wijdlant wohl tatsächlich die kürzeste Strecke darstellte.
„Ist das weit weg?”
„Wahrscheinlich nicht mehr als drei Tagesritte. Mit einem gewöhnlichen Pferd”, setzte er hinzu.
„Wenn yarl Altabete und Kíaná in Wijdlant sind… ist Meister Gor denn dann nicht auch in der Nähe?”
„Natürlich. Aber er ist überall in der Nähe. Solange er keine Unkundigen hüten muss, spielen Entfernungen für ihn überhaupt keine Rolle. Es macht keinen Unterschied, ob er neben uns steht oder in Aurópéa oder Virhavét. Aber ich weiß einen Ort, an dem er nichts verloren hat. Diesen Weg nehmen wir. Später. Komm weiter. Mir ist wohler, wenn wir erst einmal Abstand zwischen uns und Benjus von Valvivant bringen.”
Ich folgte dem Licht, das er vor sich hertrug. Dabei versuchte ich, einen Blick in sein Gesicht zu erhaschen, seine Miene zu deuten. Er schaute gedankenvoll, in sich gekehrt.
„Yalomiro?”
„Ja?”
„Warum bist du eigentlich zurückgekommen? Warum bist du nicht direkt ohne mich weitergegangen, um das Artefakt zu suchen?”
Er antwortete mir nicht. Vielleicht war es eine falsch gestellte Frage, auf die er selbst keine Antwort hatte. Ich versuchte eine andere.
„Was war das für ein Lied, das du in der Halle gespielt hast? Was war das für ein Zauber?”
„Hat es dir gefallen?”
Nun ließ ich ihn einen Moment auf eine Antwort warten.
„Es war wunderschön. Aber es war etwas anderes als der Trick mit der Tonleiter.”
Ein Lächeln huschte über seine Lippen und verschwand in den seltsamen Schatten, die das Licht auf sein Gesicht warf. Dann pulste das Leuchten auf und strich über ihn hinweg, so hell, dass ich mich reflexartig abwandte, um meine Augen zu schützen.
Erneut verpasste ich dadurch die Gelegenheit anzuschauen, wie Yalomiro sich wieder in ein Pferd verwandelte, vielleicht, um das Gespräch zu unterbrechen, eventuell, weil er in Eile war. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt nun weit davon entfernt, mich über solche Kleinigkeiten noch zu wundern.
Ich war froh darüber, wieder bei ihm zu sein.
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