
Einem unbelebten Objekt eine magische Funktion zu verleihen war eine Kunst, die Schattensänger exzellent beherrschten, aber nur selten anwendeten. Nachdem der Weltenschlüssel die Unkundige aus ihrer Welt entführt hatte, hatte Yalomiro Meister Gíonars Vorbehalte gegen solche Zauber verstanden. Arámaús Mentor war stets der Ansicht gewesen, dass es ein gravierendes Problem mit Artefakten gab: Sie konnten in die falschen Hände fallen. Man musste sie somit ständig im Blick behalten.
Yalomiro hatte solche Angelegenheiten stets unbekümmerter bewertet. Immerhin waren magische Gegenstände wie der Weltenschlüssel in ihrem Nutzen eingeschränkt. In der Regel taugten sie nur für einen einzigen, präzise definierten Zauber, bei manchen erschöpfte dieser sich, sobald er gewirkt wurde.
Eine ganz andere Sache war es, seine eigene innere Magie einem Ding anzuvertrauen. Wenn es richtig ausgeführt wurde, ergaben sich daraus … Möglichkeiten. Ein persönliches Artefakt konnte, wenn die Umstände es erforderten, einen gewirkten Zauber bündeln und verstärken, wie ein Brennglas. Es konnte Magie bewahren, für Momente, in denen es keine andere Wahl gab.
Ein solches Werkzeug ruhte im Etaímalon. Bevor er die Weihestätte verlassen hatte, hatte Yalomiro sich davon überzeugt, dass der Stab des Großmeisters mit dem Sternfragment unberührt und gut verborgen an seinem Platz lag. Gor Lucegath hatte also nicht versucht, das mächtige Schattensänger-Artefakt an sich zu nehmen. Dass er nicht davon wusste, war unwahrscheinlich. Dass es ihn nicht interessierte, war beunruhigend. Aber es half nichts, über die Motive nachzudenken, die den Rotgewandeten davon abgehalten haben mochten. Viel mehr beschäftigten den camat’ay die Beweggründe des Lichtwächters.
Zweimal hatte Gor Lucegath ihn in seiner Gewalt gehabt. Beim ersten Mal war es sein, Yalomiros, eigener Hochmut, und die schiere Überraschung gewesen, die dem Rotgewandeten den Vorteil verschafft hatten, einen viel zu simplen Sieg. Doch beim zweiten Mal… was bei den Mächten, was bei der Dunkelheit, bei Noktáma selbst, war da mit ihm passiert?
Du hast dich mit etwas eingelassen, das dich verwundbar macht.
– Wie kann es sein, dass ich in mir das Fehlen von etwas spüre, was kein Teil von mir ist?
Weil du dich längst damit verbunden hast.
– In welchem Moment der Schwäche habe ich diesen Fehler begangen?
Was macht dich glauben, dass es ein Fehler war?
Yalomiro horchte in sich hinein, so wie er es einst gelernt hatte. Damals, als er ein Kind war, der Boscargén lebendig und die Schatten der Bäume weich und warm. Einst, als die Magie in ihm noch war wie ein kleines Pflänzchen, das seine Blätter der mächtigen Dunkelheit und Wärme entgegenstreckte, um die Kraft in sich aufzunehmen. Meister Askýn hatte ihn gelehrt, auf seine innere Stimme zu hören.
– Ich selbst. Ich spüre Schwäche, die nichts mit meiner Magie zu tun hat. Ich begreife nicht, was das ist.
Ist es denn erheblich, dass du stets alles verstehst?
– Ich habe mir immer alles eingeprägt, was mein Meister mich lehrte und was die Nacht und die Schatten mir anvertrauten.
Es gibt Dinge außerhalb der Nacht zu lernen. Das Weltenspiel ist hell und dunkel.
Yalomiro ging voran. Die Stimme, die zu ihm sprach, folgte ihm. Es war sein eigener Verstand, verquickt mit der Dunkelheit, der sich mit ihm unterhielt, seit der Magier in den Schattenwurf des Baumes und damit aus der Wirklichkeit, in der die Unkundigen lebten, abgetaucht war. Diese Schattenwelt, die Domäne, die nur camat’ay betreten konnten, war der einzige Ort, an dem dies möglich war: seinen eigenen Schatten mit der Stimme dessen reden zu lassen, was sich dem wachen Verstand verbarg.
Was Yalomiro tat, war nicht ungefährlich. Es hatte sich mehr als einmal zugetragen, dass Schattensänger dieses Ritual ausführten, ohne ausreichend darauf vorbereitet zu sein. Es hieß, dass sie ruhelos in Ewigkeit immer noch durch die Finsternis wanderten und mit ihren Schatten diskutierten, ohne zu wissen, dass ihre menschlichen Körper bereits vergangen waren. Denn natürlich blieb die Zeit in der Dunkelheit nicht stehen.
– Sie hat sich selbst in Gefahr gebracht, um mir zu helfen, als ich wehrlos war.
Vielleicht hat sie es aus demselben Grund getan, den du an dir selbst rügst.
– Bin ich der Erste unter meinesgleichen, dem dies widerfährt?
Der Schatten schwieg, so als müsse er die Antwort von einer anderen Stelle herbeischaffen und fände sie nicht.
Vielleicht.
Yalomiro tastete über den Korpus seiner Geige, strich mit den Fingerspitzen über die Saiten und zögerte einen letzten Moment.
– Werde ich mit dem, was mir vorschwebt, eine unsagbare Dummheit begehen?
Tust du es denn für sie? Oder tust du es, um stärker zu werden, als du bist?
– Ich tue es, um Magie dorthin zu bringen, wo die Kraft wirken soll. Ich wage es als Diener der Dunkelheit, einer, der allzu viel gutzumachen hat. Ich tue es, weil sie mir … wichtig ist.
Dann tu es und flehe die Mächte an, es weise zu benutzen oder daran zugrunde zu gehen.
Der Schattensänger atmete tief ein. Er nahm die Geige und den Bogen und umfing beides mit seinen Armen, barg es an seiner Brust, als hielte er ein Kind an seinem Herzen. Während er sang, wurde er eines mit dem Klang, mit dem Holz, mit den Saiten, mit der Musik. Seine maghiscal strahlte in der Finsternis auf wie Mondlicht auf nächtlichem Wasser.
Der Tag begann früh in Valvivant. Kaum hatte irgendwo auf dem Burggelände ein Hahn gekräht, tauchten auch schon die ersten Leute im Garten auf. Ein kleiner Trupp von jungen Leuten schwärmte schwatzend aus und machte sich an den Beeten zu schaffen. Vermutlich benötigten sie etwas für die Küche. Ich schaute ihnen eine Weile zu, aber sie waren viel zu konzentriert bei der Arbeit, als dass sie mich oben am Fenster beachtet hätten.
Kurz darauf erschien Verta, mit Isan im Schlepptau. Das Mädchen hatte einen Krug mit duftendem Seifenwasser bei sich und einen Korb. Zuoberst darin lag ein Stapel aus cremefarbenem Stoff.
„Geht es dir gut, Liebes?”, fragte die alte Frau freundlich. „Bist du wieder bei Kräften?”
Ich zögerte. Verta lächelte über ihr gütiges Omagesicht. „Isan hat mir gesagt, dass du die Sprache wiedergefunden hast.”
„Ich fühle mich gut”, antwortete ich und ärgerte mich über Isans Indiskretion. „Allerdings weiß ich immer noch nicht, wer ich bin. Oder was geschehen ist, bevor yarl Althopian mich gefunden und hergebracht hat.”
„Das ist kein Wunder”, sagte Verta. Dabei umkreiste sie mich mit kritischem Blick, legte mir die Hand auf die Stirn blickte und mir schließlich durchdringend in die Augen, vermutlich, um Anzeichen auf ein Krankheitssymptom zu finden. „Du wärest nicht die erste fánjula, der ein Schwarzmantel, die Mächte mögen sie ein für alle Mal ausmerzen, den Verstand verwüstet hat. Der teirand wird Boten den Auftrag geben, in den umliegenden yarlmálon herauszufinden, ob man dich irgendwo vermisst.”
„Wahrscheinlich”, fügte Isan hinzu und breitete das Gewand auf der Liegestätte aus, „warst du mit irgendeinem Anliegen unterwegs hierher und bist dann zur Unzeit in den Bannkreis des Schwarzmantels geraten.”
„Meint ihr?”, fragte ich so vage, wie es möglich war.
„Wer weiß schon, was der Unhold vorhatte, als ihn entweder seine eigene Schandtat oder das Kommen des hochedlen yarl daran gehindert hat, es zu vollenden.” Verta war zufrieden mit ihrer Visite. „Ich denke, du bist wieder so weit hergestellt, dass du vor den teirand treten kannst. Wasch dich und zieh dich um.”
„Schau, das hab ich für dich aus der Schneiderei ausgesucht. Es müsste dir genau passen. Es ist die neueste Mode! Die Schuhe bringe ich dir gleich.”
„Danke. Das ist sehr freundlich von euch. Aber… was soll ich dem teirand sagen?”
Verta lächelte gütig. „Keine Sorge, Liebes, du musst nicht verlegen sein. Der teirand weiß von deinem Zustand. Er wird dir keine schwierigen Fragen stellen.”
„Mach mir einfach alles nach”, empfahl Isan harmlos. „Ich begleite dich natürlich.”
„Isan”, mahnte Verta, „es ziemt sich nicht, dass du ohne Anlass in der Halle bist, wenn der teirand Gäste empfängt.”
„Ich habe doch einen Anlass. Oder soll sie ganz allein vor unseren Herrn treten?”
„Ich bin die doayra, Isan. Das ist meine Aufgabe.”
„Aber…” Isan warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. „Aber es ist wichtig!”
„Dann musst du mit dem mynstir eine eigene Audienz absprechen.”
„Als ich das letzte Mal bei yarl Tjiergroen war, hat er mich ausgelacht!”
„Dann wird er wohl seinen Grund gehabt haben.”
„Aber…”
„Schluss jetzt, Isan. Geh und besorgt die Schuhe. Sie kann sich beim teirand nicht barfuß sehen lassen.”
Isan seufzte dramatisch. Dann wandte sie sich wortlos um und stiefelte aus dem Zimmer. Am liebsten, so schien es, hätte sie dem Waschkrug dabei einen Tritt versetzt.
Ich wurde aus dem Gespräch nicht schlau, Verta hingegen schien diese Diskussion regelmäßig zu führen und ließ sich nicht aus der Ruhe zu bringen.
„Ich glaube, sie will gar nicht zum teirand“, sagte ich.
„Oh, das weiß ich. Seit der hochedle Waýreth Althopian hier ist, ist ihr der Kopf ganz verdreht. Sie lauert auf jede Gelegenheit, seiner ansichtig zu werden. Aber ich sage immer: Wenn das Weltenspiel etwas anderes mit dem Kind vorhat als seine Eltern, muss es den Weg schon selbst finden.”
„Ich verstehe zwar nicht, was sie vorhat, aber anscheinend arbeitet sie dann doch schon eine ganze Weile daran. Ist das nicht genug?”
Verta lächelte warmherzig.
„Es täte mir einfach leid, sie zu verlieren. Das Mädchen hat viel Talent. Und nun wasch dich und zieh dich an. Der teirand will noch am Vormittag mit den yarlay aufbrechen. Wir sollten das nicht zu lange verzögern. Er erwartet dich.”
Sie goss von dem Wasser in die Waschschüssel. Offenbar war dies eine Welt, in der höchster Wert auf Hygiene gelegt wurde. Das erstaunte mich angenehm.
Ich wusch mich und rätselte derweil über dem Gewand. Der Stoff war federleicht und weich, ohne größere Verzierungen oder Details. Aber wie um alles in der Welt zog man das an? War es ein Kittel, eine Art Mantel oder ein sehr langer Rock? Jedenfalls bestand es aus mehreren Teilstücken, die am Ende wohl durch einen Gürtel zusammengebracht wurden.
Verta bemerkte meine Verwirrung und beobachtete mich einen Moment schweigend.
Um mir keine Blöße zu geben, griff ich nach dem erstbesten Teil, an dem ich Ärmel vermutete und versuchte, hineinzuschlüpfen.
In diesem Moment kam Isan mit weichen Schlupfschuhen aus Leder zurück und stutzte ebenfalls. „Was machst du da?”
„Es scheint, dass die Ärmste vergessen hat, wie man sich der Ordnung nach kleidet. Kein Wunder, demnach, was sie zuvor am Körper zu tragen hatte.”
„Bei den Mächten, es ist doch ganz einfach.” Das Mädchen ließ die Schuhe fallen, zog mir den Stoff von den Schultern, warf ihn über einen Stuhl und hielt mir ein anderes Stück hin. „Das hier”, erklärte sie kichernd, „ist die Vorderseite.”
Ich folgte ihren Instruktionen und versuchte, mir alles genau einzuprägen. Tatsächlich fügte sich eines zum anderen, und nach wenigen Minuten trug ich mein erstes Gewand nach der Gepflogenheit dieser Welt. Ärmel und das Unterteil waren sehr weit geschnitten, sodass sich überraschend viel Stoff um meine Beine und Arme schmiegte. Ein breiter Gürtel gehörte dazu, an dem sogar ein Täschchen aus einem ähnlichen, samtigen Stoff befestigt war. Tatsächlich hatte nie zuvor etwas Bequemeres am Leib getragen.
„Ja”, sagte Verta und nickte zufrieden, „so kannst du vor dem teirand erscheinen.”
Isan schaute mich an. Ihr Blick flehte: Sag was!
„Und wenn ich dich darum bitte, Isan mit mir gehen zu lassen?”, fragte ich Verta.
Die alte Frau schaute mich verwundert an.
„Bitte”, fügte ich eilig hinzu. „Ich weiß, dass eigentlich du dafür zuständig bist und all das, und ich will dich auch gar nicht kränken, aber …”
Verta schwieg auffordernd.
„… ich … ich glaube, irgendetwas an Isan erinnert mich an etwas, das ich aus … aus meinem Leben erkenne. Ich bin ganz nahe daran, dass es mir wieder einfällt. Vielleicht entsinne ich mich, wenn sie den Tag über bei mir bleibt.”
Die alte Heilerin runzelte die Stirn, nicht erbost, eher misstrauisch. Dann warf sie einen scharfen Blick zu dem Mädchen hinüber.
„Keine Aufdringlichkeiten gegen den yarl“, beschied sie. „Du nimmst alles hin, was er dir sagt, sollte er überhaupt mit dir reden. Kein Wenn und Aber, kein Trotz. Und ich will keine Klagen von Herrn Léur oder, mögen die Mächte mich davor bewahren, vom teirand höchstselbst hören.”
Für den Bruchteil einer Sekunde grinste Isan triumphierend über das ganze Gesicht. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und senkte artig den Kopf.
„Ich kann nicht ganz bei Trost sein”, murmelte Verta und begann dann, in ihren Arzneischränken herum zu räumen. Uns ignorierte sie. Ich streifte mir die Schuhe so schnell wie möglich über, bevor Isan vor Entzücken die Fassung verlieren konnte.
Im Saal im Erdgeschoss des Burggebäudes war es angenehm kühl. Durch die hohen Fensterbögen an der Längsseite, die mit den Arkaden draußen verschmolzen, fielen gebündelte Sonnenstrahlen, Staubkörnchen tanzten in den Lichtkegeln. Der Fußboden, das bemerkte ich, als wir durch die Tür an der Stirnseite des Saales eintraten, war mit großen, sandfarbenen Steinplatten ausgelegt, die eine Marmorwölkung zeigten, aus der perlmuttfarbene Einsprengsel hervorblitzten. All das sah sehr vornehm und teuer aus. Ich gab mir alle Mühe, nicht zu dem riesigen Bild hinüber zu schauen.
Der korpulente Edelmann, von dem ich nun wusste, dass es sich um den teirand Benjus von Valvivant handelte, saß auf seinem Thronsessel aus aufwändig in Form geschnitztem Holz. Er trug ein Wams, das zu etwa gleichen Teilen aus Leder und einem schweren golddurchwirkten Stoff bestand und zweckmäßige Beinkleider, wahrscheinlich Reithosen. Ganz offensichtlich hatte er diese Kluft angelegt, um keine Zeit zu verlieren, um im Anschluss an die Audienz sofort ausreiten zu können.
Neben dem Thron stand ein Ritter, den ich noch nicht kannte. Er war etwa im selben Alter wie yarl Althopian und trug eine teilgepanzerte Gewandung, bei der farblich ein glänzender Kupferton dominierte. Sein ordentlich gestutzter brauner Vollbart war üppiger als sein sich an der Stirn bereits lichtendes Haupthaar. Eine schwere Schmuckkette mit einer Plakette auf seiner Brust wies ihn wahrscheinlich als einen wichtigen Würdenträger aus. Auf der Schulter trug er ein Wappen, das eine rankende Blume darstellte, die sich um einen Baum wand. Vielleicht war er das hiesige Pendant zu yarl Grootplen aus Kíanás Hofstaat. Als der Ritter Isan sah, hob er überrascht die Brauen. Meine Begleiterin beantwortete das mit einem kühlen Lächeln und verneigte sich vor ihrem Herrscher. Ich schaute es mir ab und verharrte dann ebenfalls mit gesenktem Blick.
Ich hatte erwartet, dass sich noch mehr Menschen zu dieser Morgenaudienz einfinden würden, aber außer dem teirand und seinem Gefolgsmann war niemand da. Auch yarl Althopian nicht. Falls Isan deshalb enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken.
„Willkommen”, sagte der teirand freundlich. „Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht und konntest dich von deinem Unglück erholen.”
„Ich danke Euch, Majestät”, antwortete ich unverbindlich. „Ich fühle mich schon wieder viel besser. Verta und Isan haben mir sehr geholfen.”
„Du weißt immer noch nicht, wer du bist und woher du kommst?”
Ich schüttelte den Kopf. Es schmerzte, dass ich all die netten Leute anlügen musste. Andererseits: Hätte ich erwarten können, dass mir irgendjemand die Geschichte meiner wahren Herkunft glauben würde?
„Du musst dir keine Sorgen machen. Mein mynstir, yarl Tjiergroen, kümmert sich darum, dass die Kuriere herumtragen, dass du hier bist. Ich selbst habe vorhin die báchorkoray fortgeschickt, um es herauszufinden. Fest steht, dass du nicht zu meinen eigenen Schutzbefohlenen gehörst. Die doayra sagt, dass du deiner Erscheinung, Gehabe und deiner wiedergefundenen Sprache nach wohl kaum ein Bauern- oder Hütemädchen bist. Deine äußerst ungewöhnlichen Gewänder nach einem sehr … extravaganten Geschmack lassen vermuten, dass du von weit her kommst. Vielleicht bist du aus dem Gefolge einer reisenden Dame verlorengegangen? Vielleicht bist du selbst eine yarlara?”
„Majestät, es ist mir unsagbar unangenehm – aber ich weiß es wirklich nicht.” Ich zögerte. „Aber ich bin mit Sicherheit keine yarlara.”
„Sei es drum. Wir werden herausfinden, wo du vermisst wirst. Nicht wahr, Herr Léur?”
Yarl Tjiergroen nickte wortlos. Offenbar gehörten solche Aufgaben zu seinem Tagesgeschäft. Ich nahm mir vor, Isan später zu fragen, was es mit diesem Kurieren auf sich hatte. Wahrscheinlich war es eine Art Nachrichtennetzwerk.
„Yarl Althopian hat mir berichtet, dass ein Schattensänger bei dir war. Offenbar hast du im Zuge dessen deinen Gedächtnisverlust erlitten.”
„Daran erinnere ich mich leider nicht.”
„Vielleicht hat sie ihn bei einer Schandtat beobachtet und er wollte nicht, dass…”
„Isan”, unterbrach ich sie rasch, bevor sie sich vorlaut in Schwierigkeiten brachte. Aber der teirand nahm keinen Anstoß daran, dass das Mädchen sich in seine Audienz einmischte. Anscheinend kam das regelmäßig vor.
„Möglich”, sagte er. „Immerhin ist ein Stück gutes Forstland zerstört worden, wie mir berichtet wurde. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir dieses Rätsel lösen werden. Zum Glück haben die Mächte uns yarl Althopian gerade zur rechten Zeit geschickt.”
Isan seufzte schwärmerisch, aber so diskret, dass nur ich es hörte. Was es mit dem sonderbaren Ruhm des blau bekleideten Ritters auf sich hatte, würde sie mir ebenfalls später erklären müssen.
„Und du kannst dich ganz sicher nicht daran erinnern, dem Schattensänger begegnet zu sein?”
Der teirand blickte mir auf eine Art in die Augen, die mir Unbehagen bereitete. Ich war nie eine gute Lügnerin gewesen. Merkte man mir das an? Nahm mir der teirand meine vorgeschobene Unwissenheit nicht ab?
Ich schüttelte den Kopf. „Nein.”
Benjus von Valvivant erhob sich. Ungeachtet seiner Körperfülle wirkte er alles andere als schwerfällig, eher auf selbstbewusste Weise imposant. Er schritt die breiten Stufen von seinem Thronpodium hinab, ging an mir und Isan vorbei und blieb dann vor dem Wandgemälde mit dem unheimlichen schwarz gekleideten Mann inmitten des Gemetzels stehen.
„Aber du weißt, was damals bei der Schlacht um Aurópéa geschah?”
Ich wusste nicht einmal, wer oder was Aurópéa sein sollte. Doch Isans Mundwerk rettete mich.
„Die Chaosgeister wurden bezwungen, durch den Heldenmut der arcaval’ay“, sagte sie. „Viel Blut wurde vergossen, doch am Ende wurde der schwarzgewandete Weltenverderber in den Schatten verbannt und ward nie wieder gesehen.”
„Brav aufgepasst hast du bei den forscoray“, ließ sich yarl Tjiergroen vernehmen. „Wie erbaulich, dies von dir zu hören.”
Entweder bemerkte Isan seinen Sarkasmus nicht, oder sie ignorierte ihn aus Gewohnheit. Allzu ernst zu nehmen schien sie den mynstir jedenfalls nicht. Aber ich lernte etwas daraus: Irgendwann in der Vergangenheit dieser Welt wäre es um ein Haar zu einer Katastrophe gekommen, und ein camat’ay hatte eine zentrale und zweifellos unrühmliche Rolle dabei gespielt.
Der teirand räusperte sich. Dann deutete er auf eine heldenhafte Ritterfigur in rotgoldenem Harnisch, die im Hintergrund inmitten der Krieger auf diesen seltsamen bunten Einhörnern sein Schwert schwang.
„Das ist Benasrú von Valvivant, der Sohnessohn des teirand, der diese Burg hier erbaut hat. Mein Ahnherr war dabei, als der Schwarzmantel, der seine Chaosgeister auf das Weltenspiel losgelassen hat, bezwungen wurde. Mein Ahnherr zahlte einen hohen Preis dafür. Doch seither wurde in Valvivant nie wieder ein Schwert im Krieg erhoben.” Er schaute mich an und sagte dann ernsthaft: „Und ich habe gelobt, dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Wenn dieser rätselhafte camat’ay sich noch in der Gegend befinden sollte, werden wir ihn finden und zur Strecke bringen wie einen tollwütigen Hund. Ich selbst werde mit meinen yarlay und Waffenträgern ausschwärmen. Das ist eine Angelegenheit, zu der ich meinen Schutzbefohlenen verpflichtet bin.”
Hatte er gemerkt, dass ich zusammengezuckt war? Er ließ es sich zumindest nicht anmerken und kehrte wieder zu seinem Thron zurück. Indem er sich setzte, merkte er an: „Die Schwarzmäntel sind wie ein Unkraut. Man kann den Haupttrieb mit Stumpf und Stiel entfernen, und doch kommt immer wieder zu unerwarteten Zeiten ein Spross hervor. Und sie kommen hervor, wenn niemand mehr damit rechnet Es wird nicht enden, bis auch der letzte Fetzen der letzten Wurzel vertilgt ist.. Sei unbesorgt, rätselhafte fánjula. Der Unhold wird dir kein Leid mehr zufügen, solange du unter meinem Schutz bist. Hier auf der Burg von Valvivant wird dir nichts geschehen.”
„Das ist sehr beruhigend. Ich danke Euch sehr”, brachte ich hervor, vielleicht mit etwas zu wenig Erleichterung.
„Zu deiner eigenen Sicherheit”, fuhr er fort, „solltest du die Burg nicht verlassen. Ich bin sicher, dass deine eifrige junge Freundin darauf achtgeben wird, dass du dich nicht in Gefahr bringst. Nicht wahr, Isan?”
„Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herr” sagte Isan , vielleicht etwas salopper als beabsichtigt, und war sich sicherlich nicht darüber im Klaren, dass ihr teirand sie soeben zu meiner Wärterin ernannt hatte.
„Dann geht nun. Und du, unschuldige ujora, fühl dich wie zuhause und genieße die Gastfreundschaft des teirandon Valvivant, bis du dein Gedächtnis wiederfindest.”
In verneigte mich und erstarrte auf halber Strecke.
Hatte er mich gerade Ujora genannt?
Der teirand bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, aber Isan hatte es plötzlich enorm eilig, die Halle zu verlassen. Isan fasste mich bei der Hand und zog mich energisch mit sich. Ehe ich es mich versah, hatte sie mich auf der Arkadenseite ins Freie und auf den Burghof geführt und schaute sich suchend um.
Hinterlasse einen Kommentar