Yalomiro hatte den Tag im Verborgenen verbracht. Er hatte aus dem Schutz eines Baumwipfels beobachtet, wie zunächst einige Bauern aus der Gegend aufgetaucht waren und mit Bestürzung und Ratlosigkeit den bizarren Schaden begutachteten, den der Absturz eines ungebremsten Drachenkörpers verursacht hatte. Das Ereignis selbst hatte, den Mächten gedankt, mitten in der Nacht niemand beobachtet. Aber gehört hatten sie es natürlich, und nachdem es hell genug war, kamen sie vorsichtig her, um herauszufinden, was geschehen war.

Yalomiro seufzte. Eine Gruppe starker Faghasien hatte seinen Fall abgefangen. Die traurigen, zersplitterten Reste lagen links und rechts der Furche, die der große Körper in den schweren Boden gegraben hatte. Wären die Bäume nicht gewesen, wäre er vermutlich bis tief in das wogende Getreidefeld jenseits des Wäldchens geschlittert und hätte damit den Unkundigen guten Grund zu berechtigtem Zorn gegeben. Der Schattensänger nahm sich vor, die niedergerissenen Bäume zu ersetzen, sobald … alles Wichtigere vollendet war.

Er wartete. Sicherlich war der yarl, den Noktáma just auf diesen Weg gesetzt hatte, längst mit der ujora auf der Burg angekommen. Es musste Noktámas Wille gewesen sein, dass ausgerechnet ein Nachkomme des Hauses Althopian ihm hier begegnet war. Sie hatte ihm in ihrer Gnade einen vertrauenswürdigen Helfer geschickt. Die ujora war in Sicherheit.

In Valvivant war die Unkundige in bester Obhut. Ganz zweifellos wären die Leute dort viel besser dazu in der Lage, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, sie zu versorgen und wieder zu Kräften zu bringen, ihr zumindest einen Moment der Ruhe und des Einhaltens zu gewähren. Sie war ein magieloser Mensch. Sie benötigte Speise und Trank und Ruhe. Gor Lucegath würde sich nicht damit aufhalten, nach ihr zu suchen, wenn er einen Schattensänger jagen konnte.

Yalomiro seufzte, streckte sich zwischen den ausladenden Ästen aus und hörte dem Baum eine Weile zu. Seine Blätter wisperten im sachten Wind ihr Lied, ein anderes als seine ernsthaften, erhabenen Ölbäume im Boscargén. Dieser Baum wusste nicht, dass ganz in der Nähe seine Gefährten gefällt worden waren, oder vielmehr: Er nahm es völlig im Moment verhaftet hin, so wie ihn selbst jederzeit ein Blitz oder ein Sturm würde umreißen können. Er war mit sich zufrieden, mit dem Boden, in dem seine Wurzeln nach Wasser tasteten, mit der Sonne und der klaren Luft. Der camat’ay lächelte, tastete nach der Rinde und schloss die Augen. Dieser gutgelaunte Baum hätte der Unkundigen sicher gefallen, wenn sie sein Lied hätte verstehen können.

Die Unkundige …

Es war … unangenehm, dass sie nicht mehr bei ihm war.

Noch mehr Menschen zu Fuß und zu Pferd kamen, um die Stätte der schleierhaften Verwüstung zu bestaunen. Die meisten priesen die Mächte, dass niemand zu Schaden gekommen war. Das war das Wichtigste. Was die Bäume gefällt hatte wusste man nicht zu sagen, aber um ihre verwirrten Gemüter zu beruhigen, malten sie sich Erklärungen aus. Aus einem der Großdörfer reisten im Laufen des Tages sogar zwei forscoray an, die viele gelehrte Bücher kannten und unter den Leuten großes Ansehen genossen. Sie brachten zwar widerstreitende Ideen in die Köpfe, eine verirrte Sturmböe, die die Täler des Montazíel gebündelt hatten, ein Zucken der Erde nach einem unterirdischen Höhleneinsturz, das Werk von sehr hungrigen Holzameisen … aber all das war beruhigender als ein großer Schrecken aus den Bergen. Oder ein Drache. Schließlich waren Drachen … absurd. Märchen. Dinge, die sich báchorkoray ausdachten.

Am späten Nachmittag erschien ein berittener Gesandter aus Valvivant. Allerdings, das hatte der Magier den diskret belauschten Gedanken des Mannes entnommen, war er nicht nur wegen des zertrümmerten Wäldchens gekommen. Er hatte nach Schattensängerspuren gesucht. Das schien dem teirand sehr wichtig zu sein. Der Dienstmann von Benjus von Valvivant war latent nervös. Er hatte offensichtlich befürchtet, tatsächlich auf einen camat’ay zu treffen. Nun, natürlich mochte yarl Althopian seine Begegnung mit ihm erwähnt haben, warum auch nicht. Aber warum dieses … Unbehagen?

Das war seltsam. Natürlich, Schattensänger waren nicht in allen yarlmálon gern gesehen. Yalomiro konnte den Unkundigen das nicht verdenken. Nicht nach dem, was einst geschehen war und seit jeher unter widrigen Umständen gelegentlich vorfiel. Andererseits hatte seit Generationen kein camat’ay Menschen Anlass zur Furcht gegeben. Seines Wissens.. Aber was war geschehen, solange er selbst nicht am Weltenspiel teilgenommen hatte? Hatten sich Dinge … geändert?

Yalomiro staunte über den Einfallsreichtum und die Gleichmütigkeit der Unkundigen, mit der sie alles akzeptierten, solange es dem Kopf eines Gelehrten entsprang. Ob es in der magielosen Welt der Unkundigen ähnlich war? Yalomiro hätte sie gern danach gefragt. Aber … sie war nicht bei ihm. Sie war in Sicherheit.

Sogar der vom teirand geschickte Dienstmann schien erleichtert über die logischen Erklärungen, für die es die Anwesenheit eines camat’ay nicht brauchte. Der Schattensänger beobachtete, wie er ein paar Zeilen auf ein winziges Stück Papier schrieb und dies dann einer Brieftaube anvertraute, die er in einem Körbchen am Sattel bei sich geführt hatte.

Der Schattensänger blickte in das wispernde Blätterdach hinauf und beobachtete ein paar Singvögel, die dort in den Zweigen nach Insekten pickten, miteinander zankten und zwitscherten.

Nie zuvor war er … allein gewesen.

Ein paar Kinder begannen derweil entzückt, in den nun so leicht erreichbaren Baumkronen herumzuklettern. Die Bauern berieten sich, ob man die Faghasien wohl mit einem Rückepferd abtransportieren könne, schließlich sei es zu großen Teilen feines Bauholz. So ging es eine ganze Weile. Dann zerstreuten sich die Leute nach und nach wieder.

Als später die Dämmerung anbrach und die ersten Sterne erschienen, hatte der Schattensänger in seinem Versteck eine Entscheidung getroffen.

Er hatte sich zu etwas hinreißen lassen, das die Unkundige um ein Haar ihr Leben gekostet hätte. Er hatte, aus der Not heraus, Magie gewirkt, die selbst ein ytra nur unter besonderen Umständen und nach akribischen Vorbereitungen angewendet und damit immer noch ein unverzeihliches Tabu gebrochen hätte. Sollten andere camat’ay jemals erfahren, was er getan hatte, würden sie ihn dafür bestrafen. Kein Ungemach, auch nicht die höchste Not rechtfertigte es, solche Zauber an Unkundigen zu wirken. Es war theoretisches Wissen, das camat’ay erlernten, um sich davor hüten zu können.

Er seufzte und schaute zum Firmament hinauf. Bei näherer Betrachtung war es beunruhigend, dass ihm ein solcher Zauber tatsächlich geglückt war.

Und Gor Lucegath? Würde der ihn nun einfach ziehen lassen, beeindruckt von der Macht und Gewissenlosigkeit, die er ihm demonstriert hatte? Wohl kaum. Einen kleinen Vorsprung hatte ihm das Abenteuer verschafft. Dass nicht auch der Lichtwächter bereits hier aufgetaucht war, lag sicher daran, dass er all seine armen Kreaturen unter Kontrolle halten und wieder zurück in die geheimnisvolle Domäne Pianmurít bringen musste. Erst dann konnte er sich erneut auf die Jagd begeben. Wer konnte schon wissen, was geschehen würde, wenn sich einer der Unglücklichen zu weit aus seinem Umkreis entfernte? Was war das für ein morbider Fluch, den der Lichtwächter der teiranda und ihren Getreuen zugefügt hatte? Nie zuvor hatte Yalomiro von einem solchen Bann gehört.

Wie man es auch betrachtete: Der Rotgewandete würde nicht aufgeben. Es würde ein langwieriges Katz-und-Maus-Spiel mit Gor Lucegath werden, aber wenn er es geschickt anstellte, konnte es ihm gelingen, den Lichtwächter zu besiegen.

Warum also zögerte er? Warum machte er sich nicht auf den Weg, soweit die Schatten ihn fortbrachten? Er war allein, musste keine Rücksicht auf die Unkundige nehmen.

Die ujora

Der Schattensänger barg das Gesicht in seinen Händen. Seit er die Lebendigkeit der Unkundigen in sich hinein gelassen hatte, seit seine Magie sich mit ihrem Dasein vermischt hatte, um durch seine Adern zu rinnen, hatte sich etwas verändert. Es hatte Spuren hinterlassen und fühlte sich seltsam, wenn auch nicht unangenehm an. Etwa so wie ein leichtes Fieber, ein sanfter Rausch, eine subtile Euphorie, wie er sie noch nie empfunden hatte. Und Wärme. So wohltuende Wärme …

Er konnte nicht nach dem ay’cha’ree suchen. Nicht jetzt. Nicht so. Nicht, ohne beglichen zu haben, was er ihr schuldete. Er hatte sie ausgeschöpft, um seine eigene Haut zu retten. Aber selbst die besten doayray würden es nicht vermögen, das Entnommene wieder aufzufüllen. Das konnte nur ein Magier.

Aber wie? Ein unkundiger Körper war nicht stark genug, um pure Energie zu empfangen. Es wäre viel zu gefährlich, es mit formloser Magie zu tun. Er benötigte ein Werkzeug, um die Kraft zu filtern und zu leiten.

Yalomiro öffnete seine Tasche und holte die Geige daraus hervor. Das schwarze Holz unter seinen Fingern fühlte sich angenehm glatt an. Der Schatten des Baumes war lang und dunkel im Schein der untergehenden Sonne. Der camat’ay sprang hinein und verschwand aus dem teirandon Valvivant und dem sichtbaren Weltenspiel.

Musik drang zu mir, gedämpft und aus einiger Entfernung. Es war eine fröhliche Melodie, man erkannte Geigen und Trommeln und ab und zu das Quäken eines Blasinstruments. Ich horchte genauer und nahm nun auch Stimmen wahr, dumpf und beruhigend wie ein gemütliches Murmeln. Ab und zu klang es, als hantiere jemand mit Metall oder Geschirr. Alles in allem war es beinahe, als befände ich mich in einiger Entfernung von einem gut besuchten Restaurant, in einem warmen Urlaubsort mit leicht exotischer Musik.

Ich schlug die Augen auf. Nachdem ich das verstörende Wandbild entdeckt hatte, hatte ich es eilig gehabt, den Zuber wieder zu verlassen. Ich war herausgeklettert und hatte mich zurück zu der Liege geschleppt. Dort war mir so schwindelig geworden, dass ich mich rasch niederlegen musste. Während ich mich bemüht hatte, mich möglichst nicht zu bewegen, war ich darüber weggedöst. Ich hatte einen verwirrend realistischen, wenn auch wenig spektakulären Traum damit verbracht, in meinem Keller in zwischen den Ravioli-Konserven in den Regalen nach einem USB-Stick für die Uni zu suchen.

Jemand hatte mich fürsorglich mit einem weichen Laken zugedeckt.

Es war schummrig. Im Raum leuchteten nun einige Kerzen in hohen Gefäßen aus dickwandigem Glas. Das Mädchen Isan saß auf einem Kissen auf der Fensterbank und horchte. Eines der Lichter stand direkt neben ihr, so dass ich ihr ansehen konnte, dass sie gerne woanders gewesen wäre, wahrscheinlich bei der tafelnden Gesellschaft, deren Geräuschkulisse in das Zimmer drang.

Als sie bemerkte, dass ich wieder wach war, brachte sie ihre Miene rasch in Ordnung und lächelte.

„Du verpetzt mich doch nicht?”

„Weshalb denn?”, fragte ich und hätte mir am liebsten sofort die Zunge abgebissen. Das ständige Hin und Her aus traumlosem Schlaf und Erschöpfung machte unaufmerksam.

„Du hättest nicht allein in den Bottich steigen sollen. Ich war nur noch ein paar Tücher holen, aber dann habe ich beobachtet, wie der yarl Althopian und die ältere von den beiden jungen yarlaraé von Ivaál…” Sie unterbrach sich. „Hast du gerade etwas gesagt?”

Ich saß in der Patsche. Und ich war mir sehr sicher, dass es das Mädchen nur misstrauisch machen würde, wenn ich wieder die Stumme spielen würde.

„Ich… ich glaube, es geht wieder.”

Sie sprang auf und war mit einem Satz bei mir. „Oh, endlich! Du musst mir alles erzählen!”, rief sie entzückt aus. „Wer bist du? Wo kommst du her? Was ist passiert? Wer …”

„Aber ich erinnere mich an nichts!”

„Oh” Sie runzelte die Stirn. „An gar nichts?”

„Ich weiß nicht einmal, wer ich bin”, behauptete ich und hoffte, sie sei so leichtgläubig, dass ich mit dieser Geschichte durchkam.

„Dann ist es mit deinem Gedächtnisverlust wohl doch ernster, als Verta annimmt. Wir haben dem maedlor das Wappen auf deinem Hemd gezeigt. Er hat dieses Zeichen nie zuvor gesehen.”

Wappen? Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie vermutlich das Bandlogo auf meinem alten T-Shirt meinte. „Das ist kein Wappen”, sagte ich. „Es ist nur ein … dekoratives Bild.

Sie sah ein wenig enttäuscht aus. Möglicherweise hatte ich ihr ein aufregendes Mysterium entzaubert. „Was ist denn das letzte, an das du dich erinnerst?”

Was war ein günstiger Zeitpunkt, meine Erinnerung wieder einsetzen zu lassen? Am besten, ich blieb so nahe wie möglich am Unverbindlichen.

„Ich erinnere mich, dass ein Ritter mich auf seinem Pferd durch den Wald mitgenommen hat. Und dann war ich hier.”

„Ich beneide dich”, sagte sie zu meiner Überraschung. „Yarl Althopian ist… nun, die yarlara scheint sich Hals über Kopf in ihn verliebt zu haben. Ich habe die beiden beobachtet, wie sie sich heimlich in der Halle Blicke zugeworfen haben. Weißt du, ihre Mutter, die eldyarlara von Ivaál ist mit ihrem Gefolge schon eine Weile hier und ich habe keine der Damen noch nie auch nur lächeln gesehen. Ich glaube, in Ivaál halten die Edlen es für unzüchtig, zu lächeln. Die fánjulaé in ihrer Gefolgschaft sind da ganz anders, die sind lustig und … Jedenfalls: Sie hat Herrn Waýreth zugelächelt, ganz bestimmt! Und er hat es auch gesehen, er ist nämlich errötet! Natürlich ist der yarl viel zu beschäftigt, solange er mit dem teirand in einem Raum ist, aber ich glaube, sobald die beiden sich allein begegnen …” Sie seufzte ergriffen. Ein deutliches Bedauern schien darin mitzuschwingen, wahrscheinlich darüber, dass der gutaussehende Ritter für sie selbst unerreichbar und zudem viel zu alt war. Das schien sie aber nicht davon abzuhalten, ihn anzuschwärmen wie in meiner Welt Teenie-Mädchen einen angesagten Popstar.

Ich selbst lernte aus dieser kleinen Episode Hoftratsch auch eine Menge. Isan war eine Plaudertasche. Ich musste Acht geben, was ich selbst ihr erzählte. Außerdem schien sie eine gefährlich scharfe Beobachtungsgabe zu haben.

„Wer bist du?”, fragte ich sie. „Bist du auch eine yarlara?”

Sie schaute mich verblüfft an und begann zu kichern. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder reden konnte, so ulkig schien sie meine Frage zu finden.

„Nein, nicht doch. Meine Leute sind Feldbauern, seit vielen Generationen. Aber meine Großmutter meinte, ich hätte ein Talent zur Heilerin. Ich soll hier lernen. Ich bin vor sieben Sommern nach Valvivant gekommen. Geboren bin ich in einem Dorf westlich von Virhavét.” Sie wartete aufmerksam und ergänzte, als ich kein Verständnis zeigte: „Das ist im Norden, am Meer. Du hast doch von Virhavét gehört?

Ich schüttelte also den Kopf.

„Oh je.” Nun schaute sie wieder mitfühlend drein. „Du bist ja, als wärest du gerade eben geboren. Wer deine Eltern sind, weißt du dann wahrscheinlich auch nicht?”

Doch, das wusste ich. Aber was ich dazu zu sagen hatte, hätte Isan sicherlich erst recht nicht begriffen. Ich zuckte unverbindlich die Achseln.

Sie blickte sich um, neigte sich vor und flüsterte dann verschwörerisch:„Erinnerst du dich… an den Schwarzmantel? An den, der dich gefunden hat?”

Nein. Dass ich Yalomiro kannte, durfte sie erst recht nicht wissen. „Da war ein Mann mit schwarzer Kleidung und einem Hut. Mehr weiß ich nicht.”

Isan setzte sich auf die Kante der Liege und musterte mich aufgeregt. „Du kannst dich gar kein bisschen an ihn erinnern?”

„Nein…”

„Dann hat er dich um den Verstand gebracht!”

„Nein! Ich meine … nein. Ich glaube nicht, dass er etwas damit zu tun hat.”

„Das glaubst du! Großer Schrecken aus den Bergen… pah! Wahrscheinlich war er es selbst, der den halben Wald in Trümmer gelegt hat! Den Schwarzmänteln ist alles zuzutrauen!”

Sie ahnte nicht, wie nahe sie mit dieser Vermutung an der Wahrheit war, aber ich konnte nicht wissen, was für eine Geschichte Yalomiro dem yarl aufgetischt hatte. Also blieb ich stumm.

„Und er wollte dir wirklich nicht an deine Tugend?”

„Wie bitte?”, fragte ich, wohl etwas zu entsetzt.

Isan räusperte sich. „Ach, nichts … ich dachte nur. Verta – das ist die alte doayra, bei der ich lerne – sagte, der Gesandte habe nur einen Forstschaden festgestellt, aber die Leute ringsum haben nichts gesehen oder gehört. Vorgestern Abend standen die Bäume jedenfalls noch, dafür gibt es Zeugen. Vielleicht warst du zur falschen Zeit am falschen Ort und hast den Kerl bei irgendeiner Schandtat überrascht. Wahrscheinlich ist der yarl gerade rechtzeitig gekommen, um dich vor ihm zu retten.” Sie seufzte. „Genau wie in den Geschichten vom Smaragdritter und der Rosendame …”

„Glaubst du das? Ich meine, wenn der … Schwarzmantel etwas zu vertuschen hätte, dann hätte er sich doch mit dem yarl nicht abzugeben brauchen?”

Isan schaute sich erneut um, als fürchte sie, es könnte jemand mithören. Dann neigte sie sich zu mir und wisperte: „Es heißt, die Herren von Althopian hätten ein uraltes Bündnis mit den Schwarzmänteln, das diese selbst nicht zu brechen wagen! Kein Schwarzmantel darf jemals einem Mitglied des Hauses Althopian Schaden zufügen, erzählt man sich.”

Das war interessant. Aber was es mit diesem seltsamen Verhältnis zwischen Schattensängern und einem hiesigen Adelsgeschlecht auf sich hatte, würde ich vorerst wohl nicht herausfinden. Was mich viel mehr beunruhigte, war, dass Schattensänger offenbar alles andere als einen guten Ruf hatten. Das war hier, jenseits der Berge, wohl ähnlich wie in dem Bergarbeiterdorf in der Nähe des Waldes, in dem die mystische Weihestätte stand. Ob das alles mit dem imposanten Schlachtengemälde in der Halle zu tun hatte? Wenn die Burgbewohner so viel Aufwand in das Kunstwerk investiert hatten, dannmusste es ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte dieser Kultur sein.

Allerdings konnte ich Isan schlecht danach fragen. Ich hatte sowieso schon viel zu viel mit ihr geredet, und besonders überzeugend als neugeborenes Amnesie-Opfer war ich auch nicht mehr.

„Isan… wo bin ich hier? Muss ich hier in diesem Zimmer bleiben?”

„Nein, natürlich nicht. Wenn du morgen soweit gekräftigt bist, dass du in die Halle gehen kannst, wird der teirand dich der Sitte gemäß in seinem Haus begrüßen. Du musst dich nicht zieren. Benjus von Valvivant ist ein gütiger, großherziger teirand. Vielleicht kommt deine Erinnerung zurück, wenn du dich umschaust. Und sicher willst du Herrn Waýreth für deine Rettung danken.” Sie zögerte und fragte dann begehrlich: „Darf ich mitkommen?”

Das Mädchen schien wirklich hingebungsvoll für den Ritter zu schwärmen. Eventuell konnte mir das irgendwie nützlich werden.

„Wenn das erlaubt ist, gerne. Aber dafür musst du mir eine Frage beantworten.”

Sie nickte eifrig. Und ich setzte alles auf eine Karte. „Was ist das da drüben an der Wand für ein seltsames Gemälde?”

„Das hier ist nicht immer ein Raum der Genesung gewesen, wo eine doayra waltet. Hier war einmal ein Zimmer für das Licht.”

Ich entschied mich für einen fragenden Blick.

„Na ja, in jeder großen Burg gab es doch einen eigenen Raum dafür. Die Leute wurden hierher gebracht, wenn abzusehen war, dass sie hinter die Träume gehen würden.”

Wovon redete sie da? Versuchte sie, mit euphemistischen Worten so etwas wie ein Sterbezimmer zu beschreiben, das man zur Krankenstation umfunktioniert hatte? Und was hatte das Wandgemälde damit zu tun?

„Ja, aber… dieses Bild…”

„Ach, das altmodische Ding… Verta sagt, das war schon da, als sie selbst ein Kind war. Sie findet es auch reichlich unpassend in einem Gemach, in dem sie Leute gesund machen soll. Der teirand will es aber nicht übertünchen lassen. Wahrscheinlich fürchtet er, dass das unhöflich ist.”

Sie erhob sich und strich sich ihren Rock glatt. „Brauchst du noch etwas? Ich würde gern zum Essen, solange die Tafel noch nicht aufgehoben ist. Ich esse ungern die Reste in der Küche. Da ist es langweilig.”

„Unhöflich? Wieso unhöflich?”

„ Woher sollte der Lichtwächter denn überhaupt wissen, dass hier ein uraltes Bild ist? Kann ich jetzt gehen?”

„Ein … Rotgewandeter? Hier?”, fragte ich entsetzt.

„Ab und zu. Aber selten. — Nicht vergessen”, sagte Isan fröhlich, schon halb aus der Tür heraus. „Ich will mit zum yarl. Geh nicht hier weg, bevor ich dich abhole. Gute Nacht!”

Damit war sie genauso fort wie die Ruhe und Behaglichkeit, die ich vorhin verspürt hatte, als ich darüber nachdachte, ob diese Burg ein guter Ort zum Leben sein könnte. Ich wartete einen Moment, bis sie davon war, nahm dann eines der Windlichter und ging hinüber zu dem Bild. Eine Weile betrachtete ich unbehaglich, aber doch fasziniert die rätselhafte Szene.

Wieso verherrlichte dieses Kunstwerk einen … Mord? Und was bedeutete ab und zu?

Wie zu erwarten war, schlief ich in dieser Nacht kaum. Das mochte zum einen daran liegen, dass ich den ganzen vergangenen Tag in diesem seltsamen Dämmerzustand verbracht hatte und – vielleicht auch dank der Heilkünste der alten Verta – nun ausgeruhter war, als mir lieb sein konnte.

Andererseits ließ Isans kryptische Bemerkung über das Bild in mir alle Alarmglocken schrillen. Kannten die Bewohner von Valvivant Gor Lucegath? War es möglich, dass er seinerseits gelegentlich hier auftauchte?

Ich war mir sicher, dass Yalomiro diese Möglichkeit nicht bedacht hatte. Sie machte diesen Ort, an dem er geglaubt hatte, mich unterbringen zu können, alles andere als sicher. Und vor diesem Hintergrund ergab auch Gor Lucegaths Bemerkung darüber, dass Yalomiro sich mit Valvivant ein schlechtes Ziel ausgesucht hatte, plötzlich Sinn. Der Rotgewandete wusste, was hier in der Burg vor sich ging!

Ich wickelte mich in das Laken, setzte mich ans Fenster und schaute hinaus. Unten im rückwärtig gelegenen Hof gab es einige hohe Bäume und es duftete gut und würzig. Wahrscheinlich befand sich dort zwischen dem Gebäude und der hohen Außenmauer ein Gärtchen mit Küchenkräutern oder Blumen, die sich in der Nacht öffneten.

Über der Burg spannte sich ein nachtblauer, mit funkelnden Sternen übersäter Himmel. Grillen zirpten sanft, und ein milder Wind strich um die Mauern. Es war eine schöne Nacht, wie eine Frühsommernacht wie in einem warmen Land am Meer.

War das derselbe Himmel, den ich von meiner eigenen Welt kannte? Wenn nicht – was war das hier überhaupt? Ein anderer Planet? Eine parallele Dimension? Doch ein Traum? Oder – etwas ganz anderes?

Die Aufregung der vergangenen Tage, diese bizarre neue Welt, hatten mich so abgelenkt, dass ich erst in diesen langen Nachtstunden Zeit fand, in Ruhe nachzudenken.

Was immer das hier war: Würde ich je wieder in meine eigene Welt zurückkehren? Würde es helfen, einfach die Augen zu schließen und mich so lange dieser seltsamen Umgebung und Gesellschaft anzuschließen, bis Yalomiro wieder auftauchte und mich zurück zauberte? Zurück in meine kleine Wohnung, zu meinen Büchern, meinem Alltag zwischen Großstadtstress und Langeweile, in mein Leben, indem ich auf irgendeinen halbwegs gut bezahlten Job und eine lange Wartezeit bis zur Rente hinstrebte?

Und wenn er nicht zurückkehrte? War ich dann dazu verurteilt, für immer hierzubleiben? Oder zumindest so lange, bis Gor Lucegath herkam, um sich zu überzeugen, ob das Bild noch da war?

Etwas bewegte sich unten im Hof. Es war zu groß für ein Tier und gab sich auch nicht allzu viel Mühe, leise zu sein. Aber es war zu dunkel, um zu erkennen, wer da nachts durch den Garten ging und beschwingt vor sich hin summte. Es war wohl einer der Burgbewohner, der hier seiner Wege ging und das Gebäude umrundete. Dann war es wieder still, bis auf den Wind und die Grillen.

Wie gern hätte ich mich in dieser scheinbar so friedlichen Umgebung eine Weile ausgeruht. Aber mir war bewusst, dass das keine gute Idee wäre.