Sie schlief. Endlich.

Yalomiro ließ sich erschöpft auf den Rücken fallen und blickte zu den Sternen empor. Endlich konnte er sich ausruhen, seine Gedanken in die Nacht hinaus rasen lassen und einen winzigen Moment der Ruhe auskosten. Ihr beständiges Leugnen der Wirklichkeit war so … anstrengend.

Er sandte einen lautlosen Schrei voller Verzweiflung und Frustration ins Dunkel. Dann schüttelte die letzten Überreste von Gor Lucegaths Zauber von sich ab wie Staub und gestattete sich einige Atemzüge lang, seinen aufgestörten Geist einher wirbeln zu lassen wie Wasser in einem Becher, bis der Aufruhr darin sich geordnet hatte.

Der Schattensänger lag da und gab sich sehnsüchtig all dem hin, was er sich hatte versagen müssen, seit sein Köper wieder lebendig und er erneut Teil des Weltenspiels war. Auf sich allein gestellt, ohne Meister, ohne Arámaú, ohne irgendjemanden, ohne den Hauch einer Ahnung, was geschehen und nun zu tun war. Stattdessen war er nun durch Noktámas Willen mit der Verantwortung für ein unkundiges Wesen betraut, das an diesem Ort so fehl am Platz war, wie es nur sein konnte.

Bei den Mächten, dachte er. Was hat all dies zu bedeuten? Was ist dein Plan, Noktáma?

Er starrte hinauf zu den Sternen und zum Mond. Der vertraute Anblick beruhigte ihn so weit, dass er sich sammeln konnte.

Gor Lucegath hatte ihn also in Stein geschlagen. Es war ein überraschender, beispiellos potenter Zauber gewesen, den er da an eigenem Leib erfahren hatte. Der Rotgewandete hatte ihn so meisterhaft ausgeführt, dass er keinerlei körperlichen Schaden davongetragen hatte. Und die Mauer aus Nichts um den Etaímalon … Bei allen Mächten, woher nahm der Rotgewandete diese Fähigkeiten? Dass er über beeindruckende Kenntnisse und Geschick verfügte, war hinzunehmen. Aber was verlieh ihm die Gabe für einen so gewaltigen Bann?

Das Licht konnte es jedenfalls nicht sein.

Vermutlich würde er es nie erfahren. Meister Askýn war hinter den Träumen, die anderen Schattensänger verschwunden; bestenfalls in alle Winde verstreut, möglicherweise nicht mehr Teil des Weltenspiels. Yalomiro hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie … fort waren. Irgendjemand hätte anderenfalls beim Etaímalon ausgeharrt. Sie hätten den Dienst an Noktáma nicht einfach aufgegeben. Es musste etwas passiert sein.

Diese Erkenntnis entmutigte und bekümmerte ihn. Wenn so viel Zeit verstrichen war, dann waren, auf dem einen oder anderen Weg, ohnehin alle camat’ay, die er gekannt hatte, nicht mehr da. Nicht einmal Arámaú, die jüngste von ihnen.

Wie viel Zeit war vergangen? Und was war mit dem Boscargén geschehen? War der Wald gestorben, weil sein Gärtner zu lange fortgewesen war?

Oder… weil das ay’cha’ree aus dem Etaímalon entfernt worden war?

Was, wenn der Rotgewandete einen Weg gefunden hatte, den Bann zu brechen? War das Artefakt noch in Sicherheit? War er lange genug fortgewesen, damit die Zeit den Rotgewandeten aus dem Weltenspiel getilgt hatte? Einen Magier, der ihr offenbar ausweichen konnte?

Yalomiro wagte nicht, darüber nachzudenken. Er befürchtete, die Antwort zu kennen. Hatte Meister Askýn nicht selbst gemutmaßt, Gor Lucegath habe die Zeit betrogen?

Je länger der Schattensänger darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass der Rotgewandete nicht einfach ein weiterer, grausamer, skrupelloser und bis zum Wahnsinn hasserfüllter Lichtwächter war, wie die camat’ay sie seit jeher fürchteten.

Gor Lucegath war … etwas anderes. Etwas wesentlich Schrecklicheres.

Nun, es blieb keine Wahl. Ob der goala’ay noch lebte oder nicht, das ay’cha’ree war ewig. Er würde nachsehen müssen, sich vergewissern, dass es an seinem Platz war … und ein neues Versteck dafür finden.

Yalomiro streckte die Finger nach der Nacht aus, seufzte erleichtert und fühlte, wie seine maghiscal wieder mit der Dunkelheit verschmolz. Das tat gut. Mit seinen letzten Zaubern hatte er den winzigen, uralten und schal gewordenen Rest Magie verbraucht, der noch übrig geblieben und ihn im Stein lebendig, wenn auch in einem grotesken, hauchzarten Bewusstseinszustand gehalten hatte. Was für ein Erwachen!

Die unkundige fánjula war hierher und an seine Seite geworfen, weil Noktáma ein arkanes Vorhaben verfolgte. Ein Wesen, das sich störrisch weigerte, zu glauben, was es sah. Eines das Magie – oder was immer es dafür halten mochte – nur in Form von Illusion, Betrug oder Märchen kannte. Die Tatsache, dass es seine Retterin aus einem alternativen Weltenspiel her verschlagen hatte, verwunderte ihn weit weniger als der Umstand, dass sie nicht an Magie glaubte, die vor ihren Augen geschah. Möglicherweise war es gut, dass sie sich vorerst in einem Traum wähnte. Vielleicht half ihr das, den Verstand zu bewahren, bis die Erkenntnis sie in kleinen Schritten erreichte.

Doch all das war wahrhaftig keine fruchtbare Grundlage für das, was dieses aus seiner Wirklichkeit gerissene Wesen hier erwarten würde. Wie er es auch beurteilte, sie war gezwungen, auszuharren bis er in der Lage war, sie dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörte. Mochten die Mächte wissen, was geschah, wenn sie auf einfältige Menschen traf. Menschen wurden so rasch nervös. Solange er bei ihr war, konnte er sie zwar beschützen, aber es würde anstrengend werden. Mit jedem seiner Schritte, jeder Geste würde er auf sie achtgeben müssen wie auf ein rohes Ei, und es war zu befürchten, dass er selbst es sein würde, dem ein Missgeschick widerfuhr.

Camat’ay waren daran gewöhnt, dass Unkundige bei ihrem puren Anblick in Todesgefahr gerieten. Das war nichts Neues. Doch dieses Menschenwesen hier …

Yalomiro setzte sich auf. Sie schlief tief und fest, dem Nachtwindenkraut sei Dank, das die Mächte ausgerechnet hier hatten wachsen lassen.

Es ist zu gefährlich, dachte er. Ich kann sie nicht mit mir nehmen.

Aber … hätte Noktáma ihm tatsächlich etwas so Fragiles anvertraut?

Andererseits … eventuell war das die Erklärung dafür, dass sie seine Gegenwart ertrug. Ob Noktáma das beabsichtigt hatte? Ob das der Grund war, warum sie den Weltenschlüssel in eine Gegenwelt geworfen hatte? Hatte Noktáma, aus allen Sphären, unter allen Menschen behutsam jemanden ausgewählt, der ihm standhalten konnte?

Er spähte zu der Unkundigen hinüber.

Vielleicht war sie gar nicht so … zerbrechlich?

Der Gedanke begann, ihn auf eine gefährliche und zugleich verlockende Weise zu faszinieren.

Etwas Kaltes ließ mich aufschrecken. Es war durchdringend und so real, als hätte jemand einen Eimer Eiswürfel auf mich geschüttet. Ich schnappte nach Luft und schaute mich ziellos um.

Nein, es war weder der Keller noch mein Schlaf- oder ein Krankenhauszimmer, in dem ich mich befand. Über der Heide schien der Mond hell an Wolkenfetzen vorbei. Ich richtete mich auf. Die Kälte fühlte sich an wie ein nasses Tuch, das sich um mich schlang. Ich fröstelte. Wieso kam ich aus diesem verfluchten Traum nicht heraus?

War ich allein?

Nein. Er war noch da, wenn auch in respektvoller Entfernung. Yalomiro saß mit dem Rücken zu mir, den Blick zum Himmel gerichtet.

Ich zögerte. Ich weiß nicht, ob ich insgeheim erwartet hatte, dass er sich heimlich aus dem Staub machte. Jedenfalls war ich … ernsthaft froh, ihn zu sehen. Ich hätte stinksauer auf ihn sein sollen. Anstelle dessen war ich … beruhigt.

„Yalomiro?”

Er regte sich. „Du bist aufgewacht?”

„Es ist plötzlich so kalt geworden! Ich friere!”

„Wenn du magst, komm zu mir.”

Ich ging hinüber, setzte mich neben ihn und bibberte. Er schaute beiseite und verdeckte sein Gesicht.

„Wir müssen dir dringend andere Gewänder besorgen. Deine Kleidung ist nicht nur zu dürftig, sie ist zudem befremdlich. Man könnte in Valvivant daran Anstoß nehmen.”

Was passte ihm nur wieder nicht an meiner Garderobe? Ich fühlte mich unangenehm an … jemanden erinnert, der auch ständig an mir rumgemäkelt hatte. Das war sicher unfair, aber ich wollte mir nicht alles gefallen lassen.

„Hör mal,” sagte ich daher vorsichtig, „es war ganz miese Tour, mir einfach so ein Betäubungsmittel zu geben!”

„Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich dir gesagt hätte, dass ich Ruhe brauchte?”

„Ruhe? Vor mir?”

„Ich musste ungestört nachdenken und du dich ausruhen. Wir brauchten beide … Abstand.”

„Ich verstehe.” Das klang vielleicht eine Spur zu schroff.

Er schwieg einen Moment. „Es tut mir leid”, sagte er dann. „Ich wusste mir keinen anderen Rat. Es sollte keine Arglist sein. Ich wollte uns beiden etwas Frieden verschaffen. Kannst du mir vergeben, oder habe ich es endgültig verdorben?”

Ich zögerte verwirrt. Das war das erste Mal seit Jahren, dass jemand mich um Entschuldigung bat.

Mit dem Schlafmittel hatte er mich zwar überlistet. Aber er hatte es nicht böswillig getan. Er hatte sich weder davon geschlichen, noch hatte er die Situation … ausgenutzt.

„Schon gut”, murmelte ich. „Ich muss mich auch entschuldigen. Sicher falle ich dir zur Last.”

„Ist das eine Angewohnheit von dir?”

„Was meinst du?”

„Leuten zur Last zu fallen. Du sagst das, als sei das eine Selbstverständlichkeit.”

„Ich … nein. Also ich meine, ich …” Ich stutzte. „Ja”, fügte ich dann kleinlaut hinzu. „Du hast Recht. Ich befürchte eigentlich immer, dass ich lästig bin. Oder peinlich.”

Er wandte sich dem Mond zu. Ich war froh, dass er das Thema nicht vertiefte.

„Ujora … bist du bereit, ein Wagnis einzugehen?”

„Wovon redest du?”

„Ich möchte etwas ausprobieren. Bist du bereit?”

„Wozu bereit?”

„Schau mich an. Schau mir in die Augen.”

„Ich denke, das soll ich gerade nicht tun?”

„Ich habe meine Meinung geändert. Versuchen wir es.”

Er öffnete seine Lider.

Seine Augen glühten! Nein, es war kein Glühen, sondern ein silbernes Gleißen, wie eine konstant leuchtende Wunderkerze. Nicht so hell, dass es blendete, aber nicht minder verstörend.

Ich wich entgeistert vor ihm zurück.

„Hab keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Du musst dich nicht davor fürchten. Ich will dich nicht ängstigen. Reich mir deine Hand!”

In Ordnung? Oh nein, das war es ganz und gar nicht. Leute mit selbstleuchtenden Augen waren nicht normal!

„Bitte!” Er hielt mir seine Hand hin. „Ich will dir nichts Böses. Es ist nur meine Hand. Dir geschieht nichts.”

Ich zögerte. Nachdem der erste Schreck sich gelegt hatte, war ich von dem Anblick unwillkürlich eher fasziniert denn verängstigt.

„Bitte!”

Ich nahm all meinen Mut zusammen und fasste zu. Seine Finger waren warm und trocken.

„Danke. Und nun schau mich wieder an. Lass dich nicht beirren. Es wird gleich wieder vorbei sein.”

„Was ist das? Wieso leuchten deine Augen?”

„Hab keine Angst. Es … es ist mir wichtig, dass wir einander vertrauen können. Ich weiß, dass du damit ein Problem hast und ich es mit der Sache vorhin nicht besser gemacht habe. Ich will es bereinigen. Bitte, erlaube es mir.”

Einen Moment lang zierte ich mich. Dann schaute ich ihm bewusst ins Gesicht.

Das Leuchten wurde schwächer. Sein eigentlicher Blick trat darunter zutage. Er hatte ausdrucksvolle Augen sanft, forschend, achtsam. Der gespenstische Silberglanz lag nun darüber wie eine Träne aus Mondschein.

„Ich werde nun für einen Moment alle Siegel von meiner Seele lösen. Du wirst nichts Klares darin entdecken können, aber das ist nicht nötig. Ich hoffe, du kannst es spüren, ohne es zu verstehen.”

„Wovon redest du da? Wie …”

„Nicht nachdenken. Lass dich nicht von deinem Verstand ablenken. Schau mich an. Ich offenbare mich dir ohne List und Geheimnis. Schau dir das an, was ich bin. Und hab keine Angst.”

Ich konnte mich nicht abwenden. In seinem Blick lag etwas Hypnotisches. Ein befremdliches Gefühl überkam mich, je länger ich ihn anschaute. Es war … angenehm.

Ich erlebte es wie eine wundersame Vertrautheit und eine Art von Verlangen, tief in mir, das mich gleichzeitig erregte, verwirrte und verlegen machte. Es war, als ob er mir durch seinen Blick ohne missverständliche Worte zu verstehen gab, dass er mir wohlgesonnen war.

Vielleicht war dies eine besondere Art des Kennenlernens. Ich verstand, dass eine tiefe Aufrichtigkeit darin lag. Etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gespürt hatte. Ich bemerkte, wie Tränen in mir aufstiegen, so unerträglich beruhigend war das.

Er lächelte rätselhaft, fast ein wenig erleichtert. Mit jedem seiner Lidschläge verblasste das Leuchten und verschwand dann bis auf einige winzige Silberflecken in seiner Iris. Abgesehen von diesem Glitzern schien wieder alles normal. Nein, nicht ganz: Ich bemerkte etwas Neues, Unerwartetes. Einen Geruch.

Von ihm strömte ein zarter, holziger Duft aus, wie von einer frischen Pflanze. Das hatte ich vorher nicht wahrgenommen. Hatte er es fertig gebracht, sich zu baden, während ich geschlafen hatte? Oder … nein. Nein, das war keine Seife. Das war er.

Um mich herum breitete sich etwas aus, das sich warm anfühlte wie Sonnenstrahlen an einem heiteren Wintertag. Angesichts dessen, dass es eine Mondnacht war, erschien mir das bizarr.

„Wie fühlst du dich?”

Ich schreckte auf. „Gut”, antwortete ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich diese Erfahrung genossen hatte. „Aber was war das?”

„Frierst du noch?”

„Nein. Nein. Machst du das?”

„Ja. Es gibt keinen Grund, beunruhigt zu sein. Was du nun spürst, ist meine maghiscal.”

„Deine Energie?”

„Ja. Und ich bin froh, dass du sie wahrnehmen kannst, nun, da sie wieder gestärkt ist. Sieh … das Mondlicht und die Dunkelheit sind für mich wie für dich Wasser und Nahrung. Ich hatte meine letzten Reserven verbraucht, jedes Mal, wenn ich Magie gewirkt habe, seit du mich befreit hast.”

Oje. Der zerschmetterte Baum. Die begehbare Tonleiter. Mein verknackster Fuß. Das Wasser aus den Pflanzen. Da kam einiges zusammen, und das meiste davon hatte er nur wegen mir oder für mich getan.

„Es tut mir leid, dass ich dir so viel zugemutet habe. Mir war nicht bewusst, wie schnell sich ein nichtmagischer Körper erschöpft.”

„Ich laufe eben selten weite Strecken zu Fuß”, murmelte ich.

„Es sind für uns beide besondere Umstände. Und nun, da du ein wenig ruhiger bist und ich mich nicht immer von dir abwenden muss, können wir sicherlich besser miteinander reden. Nur zu.”

„Es gibt so viel, was ich nicht begreife”, sagte ich. „Okay, die Geschichte mit dem Magier, der dich versteinert hat und dass all deine Freunde weg sind und die Leute mit dem Bergwerk euch nicht mögen, das habe ich begriffen. Aber wer bist du eigentlich, und was hast du vor?”

„Das ist eine verwickelte Geschichte. Wo soll ich beginnen?”

„Wer bist du? Oder nein … wer sind die Schattensänger?”

Er ließ meine Hand los. Ich wusste, dass die Kälte noch da war, doch es war, als befände sie sich nun hinter Glas. Weit weg von mir.

„Wir sind Magier, die der Dunkelheit verbunden sind. Wir verehren Noktáma, die Lebendige Nacht. Der Etaímalon ist ihre Weihestätte.”

„Ist Noktáma eine Göttin?”

„Sie ist die Gestalt, in der das Dunkle sich uns offenbart.”

„Dann bist sowas wie ein Diener der Finsternis?”

„So, wie du es sagst, befürchte ich, dass du dir etwas ganz anderes darunter vorstellst als ich.”

„Und dieser andere Magier, dieser Gor Lu- … was ist das für einer?”

„Die goala’ay sind Lichtwächter.”

„Lichtwächter? Das klingt so … erhaben.”

„Die camat’ay haben, unter dem Schutz von Noktáma, ein Artefakt verwahrt, das demjenigen gewaltige Macht verleiht, der es besitzt. Gor Lucegath ist gekommen, um es zu stehlen.”

„Aber bekommen hat er es nicht?”

„Nein. Das konnte ich verhindern. Ich habe es versteckt.”

Ich starrte ihn ungläubig an. „Versteckt. So einfach geht das?”

„Es war so simpel, dass es ihn offenbar selbst überrascht hat.”

„Ist dieses Artefakt sowas wie der Schlüssel?”

„Nein. Der Schlüssel ist ein Spielzeug, ein mit Magie aufgeladener Gegenstand. Das ay’cha’ree ist von anderer Art. Es heißt, es könne Magie, sagen wir … erweitern.”

„Und darum will dieser Lichtwächter es für sich?”

„Ja. Aber er bekommt es nicht. Ich habe Magie benutzt, um dafür zu sorgen, dass es vor seinem Zugriff in Sicherheit ist, egal, was er unternimmt. Es liegt ein simpler Bann darauf.”

Jetzt war ich neugierig. „Ja?”

„Nur ein einziger Mensch kann in seine Nähe gelangen und es wieder an sich nehmen. Ich selbst. Aber nur, sofern ich es aus eigenem Antrieb tue. Sogar wenn er das Versteck fände, könnte er das Artefakt nicht erreichen. Und es bringt ihm rein gar nichts, mich zwingen zu wollen, es ihm zu bringen. Jeder Versuch, meinen Willen zu brechen, macht es unerreichbarer für ihn.”

„Aha.” Ich war beeindruckt. „Das ist clever.”

„Es war eine Eingebung.” In seiner Stimme schwang leise eine Spur von Stolz mit. „Allerdings glaubt er, legitime Ansprüche darauf zu haben.”

„Warum?”

Yalomiros Miene verfinsterte sich. „Das ist eine lange Geschichte. Zu lang für diese Nacht. Das erzähle ich dir bei anderer Gelegenheit.”

„Gut. Aber dann wüsste ich gern, wieso ich hier bin.”

„Noktáma scheint in ihrer Unergründlichkeit dir den Schlüssel zugespielt zu haben, den ich als Rückversicherung für Notfälle ausgeworfen habe.”

„Nur …. also nur angenommen, dass ich doch nicht träume … Funktioniert der Schlüssel auch umgekehrt?”

„Nein.”

Wie bitte?

„Der Schlüssel ist ein Spielzeug, das ich als Knabe erschaffen habe. Kein elaboriertes Meisterstück. Ich hatte auf die Schnelle einfach nichts Besseres zur Hand.”

„Ich kann nicht wieder zurück?”

„Nicht mit diesem Schlüssel, nein.”

Das zog mir den Boden unter den Füßen fort. Mein Leben … es war weg! Der Keller, die Uni, meine Wohnung, meine Sachen, das Internet, die Zivilisation … alles stürzte auf mich ein und rieselte an meinen Gedanken vorbei in eine schwarze Leere.

Bemerkenswerterweise verfiel ich nicht in Hysterie.

Er neigte sich zu mir. „Ich habe nicht gesagt, dass du nie wieder zurück in deine Sphäre kannst, Ujora.”, sagte er sanft. „Bitte, beruhige dich. Es wird alles gut. Il ay’ra.”

„Es ist alles etwas viel für mich, denke ich”, sagte ich kleinlaut.

„Da wir gerade davon reden, gib mir den Schlüssel bitte zurück, bevor er noch verloren geht. Ich sollte ihn bei mir haben, um ihn für deine Rückkehr bearbeiten zu können. Leider geht das nicht über Nacht.”

Ich holte den Weltenschlüssel hervor und gab ihn hinüber. Er verstaute ihn achtlos in seiner Tasche.

„Mir ist klar, wie viel ich dir zumute. Aber bevor ich nicht weiß, was mit meinesgleichen geschehen ist, was aus Gor Lucegath geworden ist und ob das ay’cha’ree noch in Sicherheit ist, kann ich nichts ausrichten.”

„Ich verstehe.”

„Dann lass uns gehen. Es wäre sinnlos, hier weiter Zeit zu vergeuden.” Er stand auf und griff sich seine Tasche. „Schau, dort hinten ist der Weg, den wir nehmen werden. Du kannst reiten?”

„Willst du jetzt etwa ein Pferd herzaubern?”, fragte ich, während ich versuchte, in der Richtung, die er angezeigt hatte, eine Straße auszumachen. Aber da war keine.

Ich drehte mich wieder um und fand mich Nase an Nase mit einem großen schwarzen Pferd mit wallender Mähne. Ich machte einen Satz rückwärts und war fassungslos.

Ich wollte dich nicht schon wieder erschrecken. Seine Stimme bildete sich direkt in meinem Kopf, wie damals, als er noch ein Stein gewesen war.

„Das ist doch unmöglich!”

Nein, aber es braucht Zeit, es zu erlernen. Und nun komm. Er knickte seine Vorderbeine ein, damit ich leichter auf seinen Rücken klettern konnte. Seine Tasche hing am Schultergurt um seinen Hals.

Ich blieb stocksteif stehen. Mein Verstand hatte einfach ausgesetzt und musste wieder einrasten.

Nun komm schon. Es muss dir nicht unangenehm sein. In diesem Körper bin ich stark und sehr schnell. Wenn wir zu Fuß gehen, sind wir noch tagelang unterwegs.

In diesem Moment gab ich einfach auf. Es hatte keinen Sinn mehr. Ich beschloss, mich über Absurditäten nicht mehr zu wundern. Das kostete zu viel Nerven.

Unbeholfen kletterte ich an ihm hinauf. Als ich halbwegs sicher saß, wuchtete er sich hoch und trabte los.

Meine Erfahrungen als Reiterin beschränkten sich auf ein paar Runden, die ich mit fünf oder sechs Jahren beim Ponyreiten absolviert hatte. Das Pferdchen war damals recht klein gewesen und beim Herumschlurfen in der Runde fast eingeschlafen. Ich wusste nicht so recht, wohin mit mir.

Halt dich an dem Riemen fest. Und erschrick nicht.

Ich griff nach dem Schultergurt seiner Tasche, weiches, punziertes Leder.

„Erschrecken?”

Unvermittelt tat er einen Satz nach vorn. Der Ruck hätte mich umgehend von seinem Rücken geschleudert, hätte ich nicht geistesgegenwärtig nach der langen schwarzen Mähne gegrabscht und mich panisch darin festgekrallt. Ich klammerte mich mit Knien und Schenkeln fest und versuchte krampfhaft, mich irgendwie oben zu halten.

„He!”, machte ich ängstlich.

Wir haben es eilig.

Seine Hufe donnerten über den Boden, und mir wurde angst und bange. Bilder aus kitschigen Geschichten und Filmen zuckten mir durch den Sinn, die ich als Teenager gelesen und geschaut hatte und in denen die Heldinnen elegant, wild und frei auf ungesattelten Pferden in den Sonnenuntergang preschten.

Die Geschichten hatten gelogen! Das hier war lebensgefährlich! Es war rutschig, wackelig und viel zu schnell!

Gegenwind schlug mir ins Gesicht. Ich schloss die Augen. Vermutlich würde er bei diesem Tempo nicht einmal bemerken, wenn er seine Last verlor. Unter seinen Hufen stoben Funken, sobald sie einen Stein trafen. Immer tiefer grub ich meine Hände in die Mähne und den Ledergurt, lag fast bäuchlings und jämmerlich auf seinem Rücken, umklammerte seinen Hals. Die trostlose, nächtliche Landschaft um uns herum flog vorüber. Er war absurd schnell!

„Bleib stehen! Lass mich runter! Lass mich sofort runter!”, brüllte ich ihn panisch an.

Ich habe nie erfahren, ob er mich nicht hören konnte oder ob er mich ignorierte. Ich konnte meine Finger nicht von dem Gurt lösen, obwohl ich wie irre zerrte und Gefahr lief, ihn zu erwürgen. Ich fühlte mich, wie auf seinem Rücken festgeklebt.

Ich lasse dich nicht fallen. Und nun … denk an etwas, das dir gefällt! An einen Ort, an dem dir nichts zustoßen kann.

Sein Galopp brachte uns in unglaublichem Tempo dem Montazíel näher. So weit konnte ich noch denken, bevor ich ihn wieder singen hörte.