Der Rotgewandete hatte es gespürt. Der camat’ay war wieder frei. Sämtliche unsichtbaren magischen Stolperfäden, die er im Etaímalon ausgelegt hatte, waren ausgelöst worden. Yalomiro Lagoscyre hatte es auf irgendeine abwegige Weise vollbracht, sein steinernes Gefängnis zu sprengen. Gor Lucegath hatte nicht daran gezweifelt, dass ihm das früher oder später gelingen würde. In der Seele des Schattensängers hatte er ein Übermaß an Begabung und Beharrsamkeit gefunden.

Auch dass er kunstreich eingemauert war, hatte Meister Askýns Schüler schon bemerkt. Der goala’ay drehte die beiden kantigen Kiesel geistesabwesend in seiner Hand. Das war unerwartet schnell gegangen.

Nun, er war nicht sonderlich erstaunt darüber. Die camat’ay hatten nicht umsonst so lange Zeit überlebt. Ihre Magie, zumindest die der begabteren Schattensänger, war auf ihre eigene Art durchaus respektabel, zuweilen so unkonventionell und überraschend, dass sie selbst seinesgleichen frappiert hatte. Dass dieser spezielle Schattensäger die Barriere zwischen der Weihestätte und der Wirklichkeit überwinden würde, war allenfalls eine Frage der Zeit. Es konnte nicht lange dauern, und er würde auch bemerken, was sonst noch geschehen war. Und dann, so wusste der Rotgewandete, würde der talentierte Magier so schnell wie möglich versuchen, das ay’cha’ree wieder an sich und in Sicherheit zu bringen.

Yalomiro Lagoscyre würde es aus eigenem Willen bergen und zurück in den Etaímalon bringen. Sobald der Schattensänger herausfand, wie viel Zeit seit ihrer Begegnung vergangen war, würde er sich in Sicherheit wägen. Immerhin waren auch goala’ay nicht unsterblich. Für gewöhnlich. Der camat’ay hatte also allen Grund, anzunehmen, dass sein Gegner das Weltenspiel längst verlassen hatte. Es sprach nichts dagegen, solange er sich dabei im Hintergrund hielt und auf den richtigen Augenblick wartete.

Nun, er hatte Zeit. Er würde warten, so wie er seit etlichen Sommern und Wintern wartete. Er würde den törichten Kerl verfolgen und den richtigen Moment abpassen. Am Ende würde das ay’cha’ree in seinen Händen liegen und Yalomiro Lagoscyre bitter für das büßen, was seinesgleichen ihm, Gor Lucegath, angetan hatte.

Als der Rotgewandete interessiert in die Leere lauschte, dorthin, wo hinter der Ebene von Wijdlant und den Bergen von Montazíel Noktámas Weihestätte war, spürte er zwei Seelen. Die unvollständige, ihm bekannte des Schattensängers, und eine andere, eine unkundige, eine weibliche Seele. Eine Seele von außerhalb.

Gor Lucegath horchte alarmiert auf und legte die Steine beiseite. Also war jemand dem camat’ay … zu Hilfe gekommen.

Eine Unkundige, dachte der Rotgewandete verwirrt. Wo hat er sie gefunden?

Was hatte Noktáma vor? Wollte sie ihn verspotten?

Die Traumgestalt namens Yalomiro spielte, eine ganz schlichte Folge von Noten: eine Tonleiter. Ich horchte, setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte, nicht daran zu denken, dass ich an etwas hinaufstieg, was eigentlich keinen Halt bieten konnte. Er hatte mir geraten, die Augen zu schließen, um nicht nach dem Klang zu suchen.

Kein Problem. Dies war ein Traum, ein wirres Durcheinander aus Bruchteilen von Ideen und Assoziationen, das in meinem Gehirn ablief, während ich auf meiner Schlafcouch lag und trotz Wecker noch einmal eingeschlafen war. In Träumen ist alles möglich. Es konnte überhaupt nichts passieren. Ich musste mich nicht fürchten. Alles ganz easy.

Er sang, während er spielte. Ich sage singen, weil seine ruhige Stimme zwar einerseits klang wie eine Melodie, zugleich aber etwas ganz anderes zu bewirken schien.

Die Tonleiter fühlte sich unter meinen Füßen verblüffend stabil an. Sie federte und gab ein klein wenig nach, etwa so wie eine harte Matratze. Ich musste grinsen. Natürlich. Ich spürte meine Schlafunterlage durch den tiefen Schlaf hindurch. Ich stapfte voran und wurde fand Gefallen daran, dass mir im Traum etwas glückte, was ich bei klarem Verstand nie versucht hätte. Ich schaltete im Treppenhaus immer das Licht ein.

Dann spielte er wiederholt die gleiche Note. Der folgende Ton klang tiefer. Die Tonleiter führte nun also abwärts. Ich setzte den Fuß vor und tastete. Tatsächlich.

Blind und ohne Geländer eine Treppe hinunterzugehen, ist sogar in einem chaotischen Traum eine Herausforderung. Etwa anderthalb Oktaven hielt ich es durch, glitt prompt aus und riss erschrocken die Augen auf.

Der Boden, zum Glück nicht allzu weit unten, flog mir beängstigend realistisch entgegen. Ich kam mit den Füßen voran auf. Ein heftiger Schmerz fuhr mir durch Mark und Bein. Es knackste übel, und ich schrie wie irre.

Augenblicklich stand Yalomiro neben mir. Er musste gesprungen sein. Unbeeindruckt von meinem Gekreisch legte er seine Geige beiseite, beugte sich hinab und vermied es dabei nach wie vor, mich direkt anzuschauen.

Was war das? Seit wann konnte man im Traum echte Schmerzen spüren, noch dazu so heftig? War ich aus dem Bett gefallen?

Wortlos streckte er seine Hände nach meinem Knöchel aus.

„Nein! Finger weg! Das … es tut weh!”

„Dann lass mich den Schmerz doch wegnehmen!”

„Wie bitte?”

Seine Hände umschlossen meinen Fuß. Augenblicklich breitete sich ein taubes Gefühl von meinen Zehen bis ins Schienbein hinein aus. Es fühlte sich an, als wickle sich etwas darum herum. Dabei sang er erneut, diesmal eine flache, fließende Melodie. Ein irritierendes, aber nicht unangenehmes Kribbeln flutete durch die Taubheit hindurch und ließ einen Moment später nach.

„Steh auf”, sagte Yalomiro sachlich und erhob sich. Seine Geige packte er nebenbei wieder in die Tasche.

„Aber … mein Fuß …”

„Ist wieder heil. Komm, wir sollten uns hier nicht lange aufhalten!”

Misstrauisch rappelte ich mich auf und belastete zaghaft den Knöchel. Dann stand ich wieder sicher auf den Beinen. Auch das taube Gefühl war fort.

„Wie hast du …”

„Das glaubst du mir doch ohnehin nicht. Komm schon!”

„Der Fuß war übelst verstaucht!”

„Nein, er war gebrochen.”

„Was?”

„Zerbrochenes zu reparieren ist keine große Kunst. Das konnte ich schon als Kind.”

„Ja, aber … Knochen?”

„Knochen, Scherben, Holz … wo ist der Unterschied?”

Er ließ mich stehen und schritt ruhig weiter.

Vielleicht hatte ich einfach nur einen nächtlichen Wadenkrampf gehabt?

Ich beeilte mich, ihn einzuholen, während er mit weiten Schritten über die graue Ödfläche zwischen den toten Bäumen ging.

„Das war sehr gut”, sagte er.

„Was?”

„Nun, du bist mir fast ohne Missgeschick über die Mauer gefolgt.”

„Ja, weil du es mir gesagt hast.”

„Tust du immer, was man dir sagt?”

„Natürl…” Ich zögerte. „Meistens.”

„Trotzdem war es … respektabel. Du bist mutig.”

Ich blickte verlegen zu Boden. So etwas hatte noch nie jemand von mir behauptet. Das war ein weiterer Beweis dafür, dass das alles nicht echt war. Dennoch – ich musste schleunigst das Thema wechseln.

„Wohin gehen wir jetzt?”

Er wusste nämlich offenbar ganz genau, wohin er wollte. Dem gespenstisch verdorrten Wald schenkte er keine weitere Beachtung. „Wir suchen die anderen.

Der schwarzgekleidete Mann führte mich durch den Wald aus mürben Baumstümpfen. Nach einer Weile begann ich mich zu fragen, woher mein sonderbarer Begleiter wusste, wohin er gehen musste, denn die Szenerie ringsum war eintönig und trostlos. Alles sah völlig gleich aus, egal, in welche Richtung man blickte. Aber er schritt unbeirrt und zielstrebig voran und schwieg dabei. Auch ich entschied mich, nichts zu sagen. Vermutlich wussten wir beide nicht, was wir dem jeweils anderen hätten erzählen sollen.

Hier und da gab es verfallene steinerne Häuser zwischen den Bäumen, die ähnlich aussahen wie das, in das irgendwie die große Kuppelhalle hineingepasst hatte. Weit voneinander entfernt standen sie, bei manchen waren Dächer und Mauern eingestürzt. Obwohl nicht zu übersehen war, dass die Bewohner diese Hütten schon lange verlassen hatten, ging Yalomiro anfangs in die verwaisten Bauten hinein. Ich folgte ihm nicht, denn die Ruinen waren mir unheimlich. Eine absurde Scheu hielt mich davon ab, sie zu betreten.

Er blieb nie mehr als ein paar Augenblicke weg. Nur in einem der Häuser hielt er sich länger auf. Als er wieder herauskam, wirkte er niedergeschlagen.

„Hast du etwas gefunden?”, fragte ich.

„Nein. Sie ist … selbst Meister Gíonar ist fort. Keiner hat eine Nachricht für mich hinterlassen.”

„Wer hat hier gelebt?”

„Meinesgleichen. Der Stellvertreter meines Meisters und seine Schülerin.”

Schweigsam ging er weiter. Ich tappte ihm nach.

„Warum hätten sie hierbleiben sollen?”, fuhr er plötzlich fort. „Es ist so viel Zeit vergangen, dass der Wald verhungert ist. Sie werden bereits vor Ewigkeiten weggegangen sein. Aber ich frage mich, wieso sie den Etaímalon aufgegeben haben.”

Ich hielt es für besser, mich zurückzuhalten. Ich hätte ohnehin nichts Sinnvolles sagen können. Immerhin schien mein Schweigen ihn zum Reden zu animieren.

„Möglicherweise gab es einen Kampf”, setzte er hinzu. „Vielleicht hat Arámaú es doch noch geschafft, die anderen zu warnen. Vielleicht sind sie ihm entgegengetreten, Vielleicht haben sie sich gegenseitig vernichtet, kurz nachdem er sein Werk vollendet hatte! Vielleicht wurde dabei der Wald zerstört!”

„Wer ist Arámaú?”, fragte ich, um ihn daran zu erinnern, dass ich noch da war.

„Eine Freundin”, antwortete er flüchtig.

Oh.

Nun bekam mein Traum unerwartete Details. Ich hätte ihn bitten können, mir mehr zu erzählen. Aber irgendwie erschien mir dafür der Moment unpassend.

Er blieb sinnend stehen. Offenbar war ihm ein neuer Gedanke gekommen.

„Bei den Mächten! Vielleicht haben sie sich selbst auf die Suche nach dem Artefakt gemacht. Vielleicht …” Er schaute zu den toten Baumwipfeln auf.

„Vielleicht hätte es nie fortgebracht werden dürfen”, murmelte er dann.

„Was für ein Artefakt?”

„Je weniger du darüber weißt, desto besser ist es.”

„Was soll das heißen?”

„Es reicht, wenn ich mich mit dem, was ich weiß, für … gewisse Personen interessant mache.”

Er hielt es offensichtlich nicht für erforderlich, mir etwas zu erklären. Ich schüttelte den Kopf über ihn und ging hinter ihm her.

Eine Weile sagte er nichts, aber ich sah ihm an, dass er intensiv über etwas nachdachte.

„Vielleicht ist er aber auch gar nicht mehr da.”

„Wer?”

„Gor Lucegath. Der goala’ay. Der, wegen dem all das hier geschehen ist.”

„Und nun?”

„Ich muss die anderen finden und das Artefakt zurück in den Wald bringen. Wir verlassen den Boscargén, lassen den See hinter uns und durchqueren die Heide am Fuße des Montazíel. Dann gehe ich weiter über das Gebirge, nach Norden. Irgendwo muss meinesgleichen sein. Er kann unmöglich alle …” Er unterbrach sich. Ich sah, wie er die Schultern hängen ließ. Vielleicht wagte er es nicht, einen Gedanken zu vollenden.

„Wie lange ist man dorthin noch unterwegs?”

„Das kommt darauf an.”

„Worauf?”

„Darauf, wie schnell wir auf Menschen treffen, bei denen du sicher bist. Als Allererstes sorge ich dafür, dass du an einen geschützten Ort kommst.”

Menschen? Es gab tatsächlich weitere Menschen in diesem Traum?

„Wir werden vermutlich bis hin zu den Bergen niemandem begegnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand im Umkreis des Waldes geblieben ist, nachdem … das hier geschehen ist. Sicherlich sind sie in die Gebiete südlich des Sees gezogen, oder gleich über den Berg. Alles andere ergibt keinen Sinn.”

„Es gibt Städte hier in der Nähe?”

„Nein. Nicht in der Nähe. Und nicht in der Richtung, in die wir gehen. Valvivant nördlich der Berge ist das erste teirandon auf dem Weg.”

„Was ist denn nun wieder ein teirandon?”

„Das Reich eines teirand. Eines … nun, eines Gebieters. Ein teirandon ist das Land des teirand und seiner yarlay. “

Yarlay?”

„Wichtige Männer, die in die Schlacht ziehen, wenn es ihren Herrn einfällt. Wenn sie gerade nicht im Kampf sind, sorgen sie dafür, dass ihren Schutzbefohlenen nichts geschieht.”

„Wie ein Ritter?”

„Oh!” Sein Gesicht erhellte sich. „Von Rittern hast du also schon gehört?”

Jetzt ging mir ein Licht auf. Mein Unterbewusstsein produzierte eine Traumwelt, die irgendwo zwischen dem preisgekrönten Fantasy-Kinofilm aus den Radionachrichten und meinem Proseminar in europäischer Geschichte lag.

Er schien zumindest Fetzen dieser Überlegungen wieder erraten oder gehört zu haben und seufzte ergeben. „Komm weiter. Wir gelangen bald aus dem Wald heraus.”

Bald war eine Untertreibung. Der Weg durch die Baumstammeinöde nahm kein Ende. Er blieb in Gedanken versunken. Auch mir ging einiges im Kopf herum, während ich geduldig darauf wartete, aufzuwachen.

„Wenn das hier eine andere Welt ist”, fragte ich einmal und kam mir unglaublich clever dabei vor, „wie kommt es dann, dass ich dich verstehen kann? Ich meine, es wäre doch absurd, wenn du zufällig dieselbe Sprache sprechen würdest wie ich.”

„Vielleicht sprichst du meine Sprache?”

„Ganz bestimmt nicht.”

„Wieso sollte Noktáma jemanden herführen, mit dem ich mich nicht verständigen kann?”

„Aber … das … na ja …” Ich grübelte einen Augenblick nach und ließ den Gedanken entnervt wieder fallen. Meine Logik führte zu nichts. Vermutlich war auch hier ein fauler Zauber im Spiel, der bewirkte, dass ich – abgesehen von einzelnen fremdartigen Worten – begriff, was er sagte.

„Wenn du nicht magiebegabt bist”, fragte er nach einer Weile, „was ist deine Aufgabe in deinem Weltenspiel?”

„Wie bitte?”

„Erzähl mir von dir. Nur so viel, wie ich wissen muss. Ich will verstehen … nun, ich will wissen, wer du bist.”

Diese Bitte überraschte mich, und zugleich fühlte ich mich überfordert. Was erwartete er, zu hören? Und was würde er überhaupt von dem verstehen, von dem, was bis vor ein paar Stunden mein Leben gewesen war? Für die meisten Dinge, die für mich Alltag waren, würde er sicher nicht einmal die Wörter kennen.

Ich assoziierte unwillkürlich unzählige Beispiele aus Büchern oder Filmen, in denen es Zeitreisende oder Figuren aus Fantasiewelten in meine reale Gegenwart versetzt hatte – und umgekehrt. In der Regel bot das Stoff für Slapstick und Konflikte.

Du meine Güte, was für eine Ironie! Ich hatte einen Klartraum, in dem genau das soeben zum Thema wurde. Das war vollkommen absurd!

„Ich fürchte, das kann ich nicht”, versuchte ich mich herauszureden. „Ich denke, all das würde dich verwirren.”

„Tatsächlich?” Er ging weiter, ohne sich zu mir umzudrehen, aber sein Schweigen war so erwartungsvoll, dass ich weiterreden musste.

„Ich … na ja, ich wohne in einer großen Stadt. Und da gehe ich auf eine … Schule. Ich lerne viel, damit ich bald einen Beruf anfangen kann und Geld verdiene.”

„Was für ein Beruf?”

„Ich …” Wie konnte ich irgendwas in einer Behörde verständlich in seinen Begrifflichkeiten formulieren?

„Schriftstücke aufsetzen. Wichtige Briefe schreiben. Dokumente sortieren.”

„Ah. Du willst eine maedlora [Beamtin] sein?”

„Nun … möglicherweise”, sagte ich vage und war milde erstaunt, dass er sich über meine kruden Vorstellungen nicht wunderte.

„Ist es dein Wunsch oder der deiner Familie?”

„Meiner.”

Das sagte ich wohl so finster, dass es ihm auffiel. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu und sagte von da an kein Wort mehr.

Ich folgte ihm in einigem Abstand durch die trostlosen Reste des Waldes und versank in meine üblichen, bitteren Gedanken. Überraschenderweise lenkte mich das Gegrübel gut von meiner absurden Lage ab. Familie … nun, dass ich einmal so weit weg sein würde, hätten sie wohl nie gedacht.

Stunden schweigsamen Marsches später lichteten sich endlich die Reste des Waldes. Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht sagen – meine Armbanduhr war daheim auf dem Tisch neben dem Computer. Hügeliges Gelände lag nun vor uns und senkte sich talwärts. Weiter entfernt schien sogar so etwas wie Pflanzen zu geben, staubig-grünes Buschwerk. Hier und da tauchten jämmerlich aussehende, aber immerhin noch dürres Laub tragende Bäume am Wegesrand auf. Nahebei zum Beispiel stand einer, der ein paar verschrumpelte, apfelsinenartige Früchte trug.

„Das ist eine Aranzie.” Yalomiro legte die Hände um den Stamm und senkte den Blick. Es sah aus, als lausche er auf etwas, das nur er hören konnte.

Ich schaute mich derweil um. In der Ferne ragte auf eine beklemmende Weise ein schiefergraues Felsmassiv auf, Tafelberge, die sich senkrecht in die Höhe streckten, ohne dass es ein Vorgebirge oder so etwas gegeben hätte. Es sah aus wie eine surreale Wand am Horizont, die Proportionen zwischen dem übergroßen Berg und der Umgebung stimmten nicht überein. Der Kamm des Gebirges glich einem asymmetrischen Sägeblatt, das im Licht einer irgendwo dahinter untergehenden Sonne zu glühen schien. Ein seltsames Zwielicht lag über der Landschaft.

„Ist das dort der Berg, den du vorhin erwähnt hast?”, fragte ich.

Er ließ den Baum los und kam heran. „Der Montazíel, ja. Davor liegt die Heide von Hethrom. Eine einsame Gegend, aber mir hat es hier immer gefallen, wenn ich herkam. Es gibt viele heilkräftige Pflanzen hier.”

„Warum ist es so unbewohnt?”

„Der Landstrich direkt am Fuß des Gebirges taugt nicht als Ackerland, deswegen haben sich keine Unkundigen hier angesiedelt. Der Boden ist zwar fruchtbar, aber der Berg wirft an dieser Stelle am späten Tag einen kühlen Schatten, der zu wenig Licht für Getreide lässt. Im Sommer treiben unzählige Hirten ihre Herden hindurch, aber zurzeit dürfte der Landstrich menschenleer sein.”

Yalomiro wollte weiter marschieren. Doch ich entdeckte zu meiner Linken in der Ferne etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Was sich dort an den Hang schmiegte, wirkte aus der weiten Entfernung wie eine Siedlung mit flach gedeckten Häusern, von denen keines die anderen nennenswert überragte. Unterhalb des Hanges waren ein paar baumfreie, offenbar symmetrisch angeordnete Flächen, Felder vielleicht. Und noch etwas konnte ich in der aufziehenden Dunkelheit ausmachen: Dort gab es Licht, wie von hohen lodernden Feuern.

„Aber das da ist eine Siedlung?”, fragte ich aufgeregt. „Die Gebäude dort weit hinten, auf dem Hügel?”

Yalomiro blieb stehen und folgte meinem Blick.

„Ja”, sagte er, und ich hatte den Eindruck, dass ihm gar nicht gefiel, was ich entdeckt hatte. „Das ist das nördlichste Dorf. Die Unkundigen sind also doch noch da. Beharrlich. Das ist erstaunlich. Nun ja, wahrscheinlich wollen sie die Erzgruben einfach nicht aufgeben.”

„Erzgruben?”

„Unterirdisch, in den Wurzeln des Berges, gibt es reichlich Metall.”

Das lockende Dorf war zu weit weg, um viele Einzelheiten zu erkennen. Wenn es eine Bergbausiedlung war, kamen die Feuer vielleicht von Schmelzöfen oder dergleichen. Auf jeden Fall waren da Leute.

„Wir werden nicht dorthin gehen”, sagte Yalomiro. „Nicht in dieses Dorf.”

Ich schaute überrascht zu ihm hin. „Aber … da sind doch Menschen. Und du hast gesagt …”

Er gab einen abfälligen Laut von sich. „Die hier sehen meinesgleichen nicht gern. Zumindest nicht, solange sie nicht nach uns rufen, weil sie uns für irgendeine Gefälligkeit brauchen …” Er schnaubte und murmelte: „Und solange sie denken, dass unseresgleichen sie davor hätte beschützen können.”

Er verstummte und warf eine anklagende Geste um sich. Ich war verwirrt.

„Hat das hier auch dieser andere Magier gemacht?”, fragte ich.

„Nein. Dafür musste er keine Mühe mehr aufwenden. Das hier ist das Siechtum der Bäume aus Boscargén, die sich ausbreitet, nachdem meinesgleichen den Wald verlassen hat. Hier gibt es zwar noch Menschen, aber ihre Bäume und Felder werden nicht mehr lange durchhalten. Dann ist das hier auch vorbei.”

„Die Bäume aus dem Wald haben die hier angesteckt? Wie eine Pflanzenkrankheit?”

„Ja. Es sind die Wurzeln. Die Wurzeln aus dem Wald haben nicht mehr die Kraft, die anderen zu berühren.”

„Ich verstehe nicht …”

„Jede kleine Wurzel, ganz gleich, ob mächtiger Baum oder kleiner Grashalm, hat Wurzeln. Alle Wurzeln sind mit denen anderer Pflanzen verbunden. Ein riesiges Netz. Der Wald ist das Herz.”

Ich nickte verständnislos. Mit dem, was ich über Biologie und Botanik wusste, hatte das alles nichts zu tun. „Aha …”

„Die Bewohner dieses Dorfes werden uns nicht freundlich willkommen heißen.”

„Aber …”

„Als ich das letzte Mal dort zu tun hatte, hat mir jemand eine Handvoll Mist nachgeworfen.”

„Oh. Hatte derjenige einen … Grund dafür?”

„Er war zumindest davon überzeugt, einen zu haben.”

Ich konnte es mir nicht verkneifen. „Und was hast du gemacht? Ihn in einen Frosch verwandelt?”

Selbst unter dem Schatten seines Hutes konnte ich seine verwirrte Miene erahnen. „Nein. Wieso? Würde ein Magier in deiner Welt das machen?”

„In manchen Storys schon.”

Nun hatte ich sein Interesse. „Aber wie soll das funktionieren – die Gestalt eines anderen zu verändern?”

„Es funktioniert ja eben nicht! Es … es gibt keine Magie!”

Er setzte zu einer Erwiderung an. Dann besann er sich eines Besseren.

„Es steht nicht zur Debatte. Glaub mir, selbst wenn du allein gingest, wären sie nicht begeistert, dass jemand in ihrem Dorf erscheint, den sie für, mit Verlaub, irrsinnig halten müssen.”

„Ich bin nicht irre!”

„Ich weiß. Du träumst. Und ich will nicht, dass du im unpassenden Moment erkennst, dass du nicht aufwachen kannst, wenn es gefährlich wird.”

„Aber …”

„Ujora … hast du jemals und ohne Überlegung etwas verletzt?”

„Wie meinst du das?”

„Denk nach.”

Ich zögerte. Dann fiel mir die große Spinne ein, die ich erst vorgestern in Notwehr mit einem Schnellhefter platt geschlagen hatte. Ich hatte mich erschreckt, als das Tier plötzlich quer über den Schreibtisch krabbelte. Ich errötete und wischte den Gedanken beiseite, bevor mir noch mehr Beispiele einfallen konnten.

„Verstehst du?”, fragte er. „So sind Menschen.”

„Ja. Sicher.”

„Dann komm.”

Nach einiger Zeit waren die Häuser nicht mehr zu erkennen und die fernen Feuer meinen Blicken entschwunden.

„Sag, Ujora”, nahm er nach einer Weile das Gespräch wieder auf, „in deiner Welt gibt es also keine Magie?”

„Nein.”

„Woher weißt du dann, was Magie ist?”

„Weil …” Ich stutzte.

„Oder lass es mich anders fragen. Was denkst du, was es ist?”

„Das kommt darauf an. Bestenfalls beeindruckende Fingerfertigkeit, um Leute zum Staunen zu bringen. Oder vorsätzlicher Betrug, um naive Menschen zu täuschen. Mit viel Nebel und Lichteffekten. Oder eben … Märchen.”

„Hast du den Eindruck, dass ich dich betrügen oder unterhalten will?”

„Ich … nein! So habe ich das nicht gemeint!”

„Könnte ich für dich dann nicht besser ein Märchen sein anstelle eines Traumgespenstes?”

„Märchen sind für kleine Kinder”, sagte ich, ohne darüber nachzudenken.

„Schade.”

Wie meinte er das? Sein Blick lag im Schatten, ich konnte nicht sagen, ob er sich amüsierte oder nicht.

Zumindest dachte ich eine Weile darüber nach, ob es mir gefallen würde, wenn all das hier ein Märchen wäre. Märchen gingen immer gut aus.

Vielleicht hatte ich doch nicht auf meiner gemütlichen Couch verschlafen. Möglicherweise war ich im Keller aus heiterem Himmel ins Koma gefallen. Eventuell war mir eine Konserve aus dem Regal auf den Kopf geknallt. Gegebenenfalls war das hier eine seltsame Zwischenwelt in meinem Unterbewusstsein. Sicher gaben sich – irgendwo anders – bereits Ärzte alle Mühe, mich wieder aufzuwecken.

Es wurde immer dunkler, je mehr wir uns dem Berg näherten. Mein Gang wurde unsicher. Er schien es zu bemerken und verlangsamte sein Schritttempo.

Wir hatten den Rand der Tiefebene erreicht, in der bräunlichgraues Heidekraut wuchs. Über dem fernen Tafelgebirge öffnete sich nun eine große Lücke in der Wolkendecke. Eine honigfahle Mondsichel stand am dunkelblauen Himmel über dem zentralen Gipfel und spendete etwas Licht. Yalomiro blickte empor.

„Als ich ein Kind war”, erzählte er, „dachte ich, dass man, auf der Bergspitze stehend, den Mond mit der Hand berühren kann. Ich war ziemlich enttäuscht, als ich einsah, dass das nicht stimmte.”

Ich konnte nicht mehr laufen und ließ mich erschöpft auf dem kahlen Erdboden nieder. Meine Füße pochten schmerzhaft, obwohl ich bequeme Turnschuhe trug. Ich erwog kurz, ob ich die ausziehen sollte, war mir aber sicher, dass ich nie im Leben wieder würde hineinschlüpfen können, wenn ich das tat.

Mir fehlte die Kondition für Gewaltmärsche wie den, den ich hinter mir hatte, und ausreichend gekleidet war ich auch nicht, denn es war zwischenzeitlich empfindlich kalt geworden. Anders als zuvor im Wald gab es hier nämlich bewegte Luft und Wind. Das war beruhigend, aber ungemütlich.

„Ich bin müde”, sagte ich. „Brauchst du nicht auch langsam eine Pause?”

„Nein, im Gegenteil. Ich fühle mich mit jedem Schritt lebendiger. Herumgesessen habe ich lange genug.”

„Aber ich kann nicht mehr. Ich sehe kaum noch etwas. Außerdem habe ich Durst.”

„Oh. Ich verstehe.”

„Du hast nicht zufällig etwas zu trinken in deiner Tasche?”

„Nein.”

„Du hast gar keinen Proviant bei dir?”

„Wozu? Aber es ist tatsächlich unverzeihlich, dass ich nicht daran gedacht habe, dass Menschen … körperliche Bedürfnisse haben.”

„Hast du etwa keine?”

„Nein.”

Ich seufzte. Das letzte, was ich getrunken hatte, war der Kaffee am Morgen gewesen. An einem heißen Sonnentag wäre ich vermutlich längst dehydriert.

„Kannst du nicht … irgendwas … zaubern?”, fragte ich und kam mir unsagbar blöd dabei vor.

„Soll ich?”

„Ja, bitte”, bat ich, ohne nachzudenken. „Ich bin ganz ausgetrocknet.”

Er öffnete wortlos seine Tasche, deren Innenleben erstaunlich geräumig zu sein schien und kramte darin herum. Ich beobachtete, wie er ein Schälchen aus Holz und ein Tuch herausholte und damit ein paar Schritte suchend hin und her ging. Dann schien er gefunden zu haben, was er brauchte. Er breitete den Lappen zwischen den Krautbüscheln auf dem Boden aus, legte die Hände darüber und sang leise. Ich bildete mir ein, einen fahlen Schimmer wahrzunehmen.

Als Yalomiro sein Lied beendete, war das Tuch feucht. Er wrang es in dem Schälchen aus und wiederholte das Ganze mehrfach. Als er es mir brachte, war es randvoll. Die Pflanzen rund um die Stelle knirschten unter seinen Schritten wie trockenes Papier.

„Etwas anderes kann ich dir im Augenblick nicht bieten. Leider auch nicht mehr davon.”

„Was ist das?”, fragte ich argwöhnisch.

„Wasser.”

„Wo hast du das her?”

„Ich habe es den Pflanzen fortgenommen. Es ist rein, du kannst es ohne Bedenken trinken.”

„Wie …”

„Arámaú hätte das besser gemacht. Camat’ayra haben viel mehr Macht über das Wasser als Männer. Arámaú hätte hier einen Brunnen gefunden. Einmal, da hat sie …”

Er unterbrach sich und schaute abwesend ins Leere.

Wer mochte diese Arámaú sein? Ich linste verstohlen zu ihm hinüber. Arámaú – vielleicht gehörte sie zu ihm. Vielleicht war sie nicht nur irgendeine Freundin. Sicher war sie die Freundin. Die eine Freundin. Seine Geliebte, seine Partnerin?

Wahrscheinlich war es so. Ein so attraktiver Mann konnte unmöglich alleinstehend sein. Nicht einmal im Traum.

Diese Erkenntnis löste in mir eine Art von Ernüchterung aus, wie ich sie nie wieder hatte spüren wollen. Dann fiel mir ein, dass er meine Gedanken hören konnte. Ich versuchte hastig, etwas anderes zu denken und nippte an dem Schälchen. Das Wasser schmeckte torfig, mit einer bitteren Note, aber es war dringend benötigte Flüssigkeit. Ich musste mich zwingen, es nicht auf einen Zug auszutrinken. Während ich Schluck um Schluck zu mir nahm, begann sich eine wohlige Schwere in mir auszubreiten.

Er beobachtete mich gespannt und schien auf etwas zu warten. Ich schaute zu ihm hinüber. Im Mondlicht sah ich gerade genug, um zu registrieren, dass er zufrieden lächelte.

„Was waren das für Pflanzen?”, fragte ich misstrauisch.

„Blaues Nachtwindenkraut. Genau das, was dir jetzt guttut.”

„Ich werde … so müde.”

„Sehr gut.”

„Hast du etwa … ist das ein Schlafmittel?”

Er nahm mir das Schälchen aus der Hand. „Ja. Du musst unbedingt zur Ruhe kommen, bevor du ganz außer dir gerätst. Keine Angst. Ich bin in der Nähe und wache über deinen … Traum.”

„Du kannst mir doch nicht … ohne etwas … spinnst du?”

„Nein. Ich weiß genau, was ich tue.”

„Ich hab dir vertraut!”

„Ich weiß”, sagte er milde.

Ich wollte protestieren, aber meine Zunge wurde schwer und meine Augen fielen zu. Doch ich hörte ihn noch sprechen.

„Bald kommen wir zügiger voran. Dann kann ich wieder richtig zaubern.” Er erhob sich und ging beiseite.

Ich wollte aufbegehren, aber die Müdigkeit war stärker, setzte mit Wucht ein, wie eine Narkose. Ich konnte ihm nicht einmal nachschauen. Absurd angenehme Entspannung übermannte mich wie eine Woge aus Wohlbefinden und spülte die Empörung fort. Ich rollte mich am Boden zusammen und schloss die Augen.

Mit etwas Glück würde ich in meiner eigenen Wirklichkeit wieder aufwachen.