Die quietschende Kellertür erzeugte ein gespenstisch widerhallendes Echo. Es war ein Geräusch, das gar nicht zu einer klapprigen Brettertür passen wollte, sondern nach einem stählernen Scheunentor klang. Ich strauchelte, konnte mich gerade noch mit den Armen abfangen, bevor ich der Länge nach hinschlug.

Ich hockte, eine Hand am Boden, die andere am noch steckenden Schlüssel, auf einem Steinfußboden in einem düsteren Zimmer. Nicht in meinem Keller, zwischen Konservenregal und Umzugskartons, wie es hätte sein sollen. Ein Hauch von trübem Tageslicht fiel durch ein staubblindes Fenster in den Raum. Schemenhaft zeichneten sich die Konturen von rustikalen Möbeln voller Spinnweben und eine Menge verstreutes Zeug am Boden ab. Ich registrierte einen Tisch, ein Bett, Regale, ein Art Wohnraum also. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, näher hinzuschauen. Die Spinnweben schreckten mich so sehr ab, dass ich im Aufstehen die Tür schnell zuzog, bevor mir ein Krabbeltier entgegenkommen konnte.

Was war das? Wo war ich? Hatte ich mich in der Tür geirrt?

Eine fingerdicke Staubpatina rutschte herab wie ein kleines Schneebrett. Die schwarze Tür war mit Einlegearbeiten aus etwas hellerem Holz verziert, die den Gravuren auf dem Schlüssel in meinem verspannten Griff ähnelten. Sie schwang ein paar Zentimeter zurück, so als sei sie zwar ins Schloss gefallen, aber dadurch nicht zu schließen. Wie auch – ich hatte ja den Schlüssel in der Hand. Ich zog erneut, bis ich ein leises Klicken hörte. Offenbar war der Riegel nun fest eingerastet. Im selben Augenblick löste sich der Krampf in meinen Fingern. Der Schlüssel glitt aus dem Schloss heraus, sodass ich die Hand wieder bewegen konnte.

Ich stand auf einem langen Korridor. Diffuses Licht ohne eine erkennbare Quelle, wie eine indirekte Notbeleuchtung, reichte gerade aus, dass ich mich ein wenig orientieren konnte. Der Korridor führte zur einen Seite ins Stockdüstere. In der anderen Richtung war es etwas heller, so ähnlich wie auf dem Kellergang, wo ich gerade noch gewesen war.

Desorientiert stand ich einen Augenblick in diesem seltsam gedimmten Dunkel und wusste nicht, wo ich war. Logisch wäre wohl gewesen, in Panik zu geraten und um Hilfe zu rufen, aber aus irgendeinem Grund wäre mir das albern vorgekommen.

Ich träumte. Natürlich! Das musste ein abstruser Traum sein. Wahrscheinlich schlief ich noch, und das war die erstaunlich plastische Fortsetzung der Episode von heute Nacht. Höchstwahrscheinlich hatte ich auch das Missgeschick mit dem Kaffee und das Gespräch mit dem Hausmeister geträumt.

Ich steckte den Schlüssel unwillkürlich in meine Jackentasche, trat von der Tür zurück und schaute mich um. Ich träumte also, wenn sich die Sache auch irgendwie sonderbar anfühlte. Aber irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass man zuweilen derart realistisch träumen konnte, dass es möglich sei das Geschehen zu beeinflussen. Vielleicht war das genau das, was ich gerade empfand. Vielleicht hatte ich mir bei dem Dreckswetter draußen eine Grippe eingefangen und fieberte nur. Das würde all das erklären. Aber was nun? Traum hin oder her – ich konnte schlecht hier stehen bleiben.

Ich tat das Naheliegendste: Ich ging der Lichtquelle entgegen bis zu einer offen stehenden, hohen Tür mit zwei Flügeln. Ich trat hindurch und staunte.

Das hellere Leuchten fiel durch schmale, strahlenförmige Fenster hoch oben im Gewölbe einer großen Kuppelhalle. Zusammen bildeten sie einen asymmetrischen Stern. Das Tageslicht erhellte den sonderbaren Ort zwar, verlieh ihm aber gleichzeitig eine schmutzige, triste Atmosphäre. Der Boden war auch hier von Staub bedeckt, grauem Staub, so als sei der Saal schon seit ewigen Zeiten nicht betreten worden. Allerdings gab es zu meiner Beruhigung hier keine Spinnweben. Vermutlich hatten die Viecher schlicht keine Ansatzpunkte für ihre Netze gefunden, so weitläufig war die Halle.

Ich trat zaghaft in den imposanten, stillen Raum ein und ließ ihn auf mich wirken. Der Bau erinnerte mich an eine Kathedrale, allein seine Dimensionen hatten etwas Weihevolles. Ich hätte mich gescheut, hier laut zu sprechen oder Lärm zu machen.

Aber ich sah keine religiösen Symbole, weshalb es unwahrscheinlich war, dass ich von einer verlassenen Kirche phantasierte. Faktisch gab es überhaupt keine Einrichtung, keine Bankreihen, keine Leuchter. Lediglich mittig unter der Säule aus Tageslicht, die von oben durch die sternförmige Öffnung einfiel, stand ein bizarrer, großer Steinsessel, zu dem ein paar flache Stufen hinaufführten. Die Rückenlehne, geformt wie ein auf der Spitze stehendes Dreieck, war aus glänzend schwarzem Stein. Davor erkannte ich etwas Großes, Plastisches, schwarz auf schwarz und darum aus der Entfernung schwer zu erkennen. Am Boden daneben lag etwas Helles. Alles, was direkt vom Licht berührt wurde, war völlig frei von Schmutz.

Ich ging darauf zu. Die dicke Staubschicht auf dem Boden dämpfte meine Schritte, Partikel wirbelten hoch.

Bei dem Objekt auf dem thronartigen Sessel handelte es sich um eine Skulptur aus Stein. Es war ein lebensgroßes, absurd realistisches Bildnis eines Mannes. Die Figur trug eine Art Kostüm: einen weiten, ärmellosen Mantel mit einem langem Hemd darunter und einem schmalen Tuch als Gürtel. Auf dem Kopf saß ein breitkrempiger Hut. Jede Falte der Kleidung fiel locker und fließend. Gesichtszüge und Hände waren detailgetreu ausgeführt, sogar das rückenlange Haar schien Strähne für Strähne einzeln gearbeitet zu sein. Verstörend waren allerdings der Gesichtsausdruck und die Pose, die der Künstler für sein Werk gewählt hatte. Die Figur sah aus, als sei sie mitten in einem entsetzten Schrei erstarrt. Um den Hals trug das Kunstwerk einen dünnen Ring aus Metall. Der wirkte fehl am Platz, denn er bestand aus Gold, das glänzte, als sei es poliert. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass das Kunstwerk auf mürben, zerschlissenen Kissen saß. Sehr ungewöhnlich. Was träumte ich da nur für einen Quatsch?

Ich wandte meine Aufmerksamkeit nun dem Zeug auf dem Boden zu und tat entsetzt einen Schritt zurück. Zwischen einem Haufen staubigem Stoff grinste mich ein Totenkopf an. Eine skelettierte Hand war in meine Richtung ausgestreckt. Der Rest der Knochen war größtenteils durch die Textilien verdeckt. Ich wandte mich schaudernd ab. Eigentlich hätte ich schreien müssen.

Das ist ein Traum, rief ich mich stattdessen zur Ordnung. Du hättest dich nicht vor dem Schlafengehen mit diesen Grusel-Internetseiten beschäftigen sollen. Das hast du nun davon. Du …

Hilf mir!

Ich quietschte auf und hielt mir instinktiv die Ohren zu. Da war wieder die Stimme aus meinem Traum, aber jetzt war sie unglaublich laut. Sie wisperte mir nicht wie zuvor aus der Entfernung zu, sondern klang, als stünde der Sprecher unmittelbar hinter mir und benutze ein Megaphon.

Aber da war niemand, außer …

Bitte!

Ich zögerte perplex. „Wie … wie bitte?”

Nimm das Gold weg!

An den Gesichtszügen des steinernen Mannes hatte sich nichts verändert, natürlich nicht. Aber ich bildete mir ein, dass sein schwarzer, starrer Blick genau auf mich gerichtet war.

Welches Gold? Etwa der Reifen?

Nimm es weg! Du kannst es öffnen!

Ich streckte zaghaft die Hand aus. Leise schabte der Ring über den Stein.

Dann sprang er ruckartig auf, als hätte ich mit der sachten Berührung ein Federscharnier entsperrt. Der Reif klappte auseinander, fiel klirrend zu Boden und polterte über die flachen Stufen des Thrones hinab. Das schepperte in der Stille so laut, als wäre eine Ladung Altmetall umgekippt.

Ich lief hinterher, bückte mich danach, blickte hoch, erschrak und schrie. Mein Gegenüber fuhr zusammen und gab einen krächzenden Laut von sich, der ähnlich schockiert klang.

Ich presste mir die Hand auf mein wild pochendes Herz und starrte den Mann an, der nun anstelle der Skulptur in dem Sessel saß. Er regte sich langsam, wie jemand, dessen ganzer Körper steif war. Dabei gab er heisere Laute von sich, atmete mühsam und hustete schließlich. Kleidung und Haar waren nach wie vor schwarz, das Gesicht allerdings kreidebleich.

Ich hätte in Panik geraten sollen. Bis heute weiß ich nicht, warum ich so bemerkenswert gelassen blieb, selbst unter der Annahme, gerade ein äußerst verstörendes Traumgeschehen zu erleben. Stattdessen stand ich also da, mit dem aufgebogenen Goldreifen in der Hand, und muss dabei ziemlich dämlich ausgesehen haben.

Er nutzte die Gelegenheit, streckte und reckte sich auf dem Sessel und stützte sich dann schwer auf die steinernen Lehnen, um sich zu erheben. Reichlich unsicher und schwankend kam er auf die Füße.

„Danke”, krächzte er.

„Äh … kein Problem.”

Er schaute sich gemessen um. Einen Moment lang blieb sein Blick an dem Skelett auf dem Boden haften, aber es schien ihn weder zu erschrecken noch zu beunruhigen. Dann musterte er mich von Kopf bis Fuß.

„Gib mir nur einen Augenblick”, fuhr er mit rauer Kehle fort. „Ich muss mich sammeln.”

Eigentlich hätte ich mich schleunigst aus dem Staub machen sollen. „Okay”, sagte ich stattdessen. „Ich habe Zeit.”

Der eben noch steinerne Mann lächelte, ganz kurz. Wahrscheinlich war es dieses Lächeln, dieser erste Blick aus seinen nun tiefdunklen Augen, mit dem Noktáma damals ihren ersten Zug tat.

Während er sich bemühte, seine Stimme und seinen Körper in Gang zu bringen, hatte ich die Gelegenheit, ihn meinerseits näher zu betrachten. Ich war fasziniert von seinem Anblick.

Er war … attraktiv. Dieser unreife Gedanke war mir zutiefst peinlich, aber tatsächlich das allererste, was mir durch den Kopf schoss. Wahrscheinlich war er tatsächlich ein paar Jahre älter als ich, aber zugleich wirkte er irgendwie … alterslos. Ich hatte so etwas noch nie zuvor an jemandem wahrgenommen.

Nach und nach kehrte eine vitalere Farbe in sein Gesicht zurück.

Er räusperte sich. „Ich danke dir.” Seine Stimme klang nun, wie sie sich wohl normalerweise anhörte, warm, sonor, nicht allzu laut. Ich erkannte die Stimme aus dem Traum.

Weil mir nichts Besseres einfiel, hielt ich ihm den Goldring entgegen. „Brauchen Sie … du … das noch?”

Er wich zurück. „Bei den Mächten! Bleib mir damit vom Leib.”

„Aber das ist doch sicher sehr wertvoll?”

„Sicher. Wertvoll. Willst du es vielleicht behalten, als Geschenk für deine Hilfe? Findest du etwa Gefallen an Gold?”, fragte er, geradezu irritierend unbeholfen.

„Ich wüsste vor allen Dingen gern, was hier los ist. Wo bin ich hier? Wer bist du? Und … ist das da etwa ein …”, ich musste mich zwingen, es auszusprechen, „ein echtes Menschenskelett?”

Er schaute unbeeindruckt auf den Haufen aus Knochen und Lumpen und den blanken Schädel.

„Was sollte es deiner Meinung nach anderes sein?”

Ich wollte etwas antworten, aber er redete schon weiter.

„Wahrscheinlich bist du überrascht über das bescheidene Werkzeug, das dich hergebracht hat. Ich hoffe, es hat dir nicht zu viele Umstände gemacht. Ich bin Yalomiro Lagoscyre.”

„Was soll das heißen – Werkzeug?”

„Du bist doch mit dem Weltenschlüssel hergekommen?”

„Hiermit?” Ich zog den Schlüssel aus meiner Tasche hervor.

„Mit diesem notdürftigen Mittel, ja. Noktáma sei gepriesen, dass sie dich sandte. Deine Magie ist sicher weit größer als-“

„Was für Magie? Und wer ist Noktáma?”

Er schwieg einen Augenblick.

„Du bist doch eine jora [magiebegabter Mensch]?”, fragte er dann argwöhnisch.

„Nicht dass ich wüsste. Was ist das?”

„Bei den Mächten, bist du etwa eine ujo-… eine Unkundige?”

„Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.”

Er starrte mich schockiert an. Dann zog er sich ruckartig die Krempe seines Hutes so weit in die Stirn, wie er konnte, und wandte sich brüsk von mir ab.

„Ist alles in Ordnung?”, fragte ich skeptisch.

„Irgendetwas ist hier ganz und gar nicht geraten, wie ich es im Sinn hatte.”

Selbst für ein Traumgeschehen entwickelte sich die Situation immer bizarrer. „Wovon redest du eigentlich?”

„Es tut mir leid”, sagte er, setzte sich in Bewegung und schritt eilig an mir vorbei. Auf den Stufen wäre er fast gestolpert. Taumelnd, aber mit jedem Schritt zielstrebiger verließ er den Saal durch das Portal, wobei eine nun im Licht flimmernde Staubwolke ihn umwirbelte. Die Rückseite seines Mantels war, wir ich nun sah, mit feinen silbernen Stickereien verziert, die schwach glitzerten.

„He! Moment mal!”, rief ich ihm nach und folgte ihm.

„Bleib zurück!”

„Aber …”

„Bleib zurück, bei den Mächten! Komm mir nicht zu nahe! Oder du wirst es bereuen!”

Ich blieb fassungslos an der Schwelle zum Flur stehen. War das eine Drohung?

Die Düsternis des Korridors hatte ihn in seinem nachtschwarzen Kostüm verschlungen, aber ich hörte seine Schritte. Dann knarrte etwas, die Finsternis hellte sich erheblich auf. Offenbar hatte er eine Tür geöffnet.

Ein Ausgang? Ging es da nach draußen?

Ich tappte ihm nach und tastete mich an der Wand entlang, auf das Tageslicht zu, das nun am anderen Ende des Ganges zu sehen war. Weitere zugestaubte Türen kamen mir dabei unter die Finger, aber ich wollte nur ins Freie und kümmerte mich nicht darum.

Er stand jetzt am Ende des langen Flures in einer von trübem Zwielicht erleuchteten Türöffnung, kehrte mir den Rücken zu und rührte sich nicht.

„Jetzt hör mal zu! Ich will wissen …”, setzte ich erneut an, aber er ignorierte mich. Er stelzte langsam, zögerlich ins Freie, ein krasser Widerspruch zu seiner vorangegangenen Eile. Ich folgte ihm … und stand einen Schritt später in einer postapokalyptischen Einöde.

„Was ist das?”, kam es mir nach einigen Sekunden der Beklemmung über die Lippen.

„Das ist Boscargén”, antwortete er tonlos. „Der Silberne Wald.”

„Aha. Und … was ist hier passiert?”

Er ließ die Schultern hängen. „Ich weiß nicht. Ich war lange in Stein geschlagen. Zu lange, wie es scheint.”

Er ging langsam zu den grauen Säulen hinüber, die ringsum in unregelmäßigen Abständen standen. Es waren offensichtlich die Stämme knorriger Bäume, die haushoch aufragten, aber sie waren grau und abgestorben und hatten kaum noch Äste. Es handelte sich wohl um Überreste der Vegetation, die hier einmal gewesen sein mochte. Der Boden war grau, spröde und senkte sich sacht bergab.

Der schwarzgekleidete Mann legte seine Hände auf einen Stamm und verharrte reglos. Ich ließ ihn einen Moment gewähren und diese triste Alptraumlandschaft auf mich wirken. Es war beklemmend, totenstill.

Einige Minuten vergingen. Dann ließ er den ehemaligen Baum wieder los, verschränkte die Arme und drehte sich halb zu mir um, wobei er sorgfältig Augenkontakt vermied.

„Es ist viel Zeit vergangen”, sagte er tonlos. „Du hattest wohl einen recht weiten Weg bis hierher.”

„Eigentlich bin ich nur durch die Kellertür gegangen.”

„Das hat uns offenbar viele, viele Winter gekostet. Woher kommst du?”

„Hör mal … Ich meine, es ist ganz klar, dass ich hier gerade träume.”

Und jetzt will ich aufwachen, fügte ich in Gedanken hinzu. Wach auf! Wach! Sofort! Auf!

„Du wähnst dich in einem Traum?”

„Jedenfalls bin ich ganz sicher nicht … hergezaubert worden.”

Er begann, leise zu lachen, aber es klang eher bitter als erheitert. Ich denke, er empfand die Situation als ebenso absurd wie ich.

„Mächte!”, rief er dann laut aus, „Noktáma! Wen hast du nur an diesen Ort geführt!”

„Wer ist diese Noktáma, von der du immer sprichst?”

„Du weißt nicht, wer Noktáma ist?”

„Nein, keinen Schimmer. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist!”

„Wie kann es sein, dass du noch nie von Noktáma gehört hast?”

„Das weiß ich doch nicht!”

Er kam wieder näher. Seine Hutkrempe warf einen Schatten auf sein Gesicht, obwohl keine Sonne zu sehen war. Tatsächlich war der Himmel über uns bleigrau, eine seltsam homogene Wolkendecke, in der sich nichts bewegte.

„Das hier ist der Boscargén, südlich der Berge von Montazíel. Dies ist die Domäne der camat’ay. Und ich bin Yalomiro Lagoscyre. Ich glaube nicht, dass du dir meinen Namen vorhin gemerkt hast.”

„Nein. Ich meine … hallo. Mein Name ist …”

„Sch!” Er legte den Finger an die Lippen. „Ich will deinen Namen nicht wissen.”

„Aber …”.

„Es ist zu deinem eigenen Besten, wenn ich deinen tatsächlichen Namen nicht weiß. Sprich niemals vor einem Magier deinen eigenen Namen aus, wenn du …” Er unterbrach sich. „Tu es einfach nicht, solange du … träumst.”

„Okay. Und du bist demnach ein … Magier?”

„Ja.”

Ich konnte nicht anders. Ich musste grinsen, so grandios absurd fand ich die Sache. „Alles klar. Erzähl mir mehr.”

„Ich bin ein camat’ay, ein Schattensänger. Ich bin der Meisterschüler von ytra Askýn Lagoscyre, dessen sterbliche Relikte du drinnen gesehen hast. Mein Weltenschlüssel hat dich durch einen … Traum … direkt in den Etaímalon geführt. Das ist das Haus hinter dir, Noktámas Weihestätte.”

Ich schaute mich um und stutzte. Die Tür, aus der ich ins Freie gekommen war, gehörte zu einem altertümlichen Häuschen. Von dem Bauwerk, zu dem die riesige Kuppel gehören musste, war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Dafür gab es in dieser Blickrichtung noch mehr Bäume – und eine große, glatte graue Fläche, die sich bei näherer Betrachtung als ein gänzlich unbewegtes Gewässer entpuppte. Am anderen Ufer setzte sich die verwüstete Baumlandschaft fort.

Logisch. Plötzliche Ortswechsel waren im Traum nichts Ungewöhnliches.

„Für gewöhnlich”, sagte ich, „träume ich kein so wirres Zeug.”

„Wenn du … wach bist … lebst du also in einer anderen … Welt?” Er sprach so bedacht, als wöge er jedes einzelne Wort sorgfältig ab. „Ich meine … du kommst nicht nur aus einem entlegenen teirandon [~ Königreich], oder meinetwegen einer anderen Zeit, sondern von einem gänzlich anderen Ort?”

„Was ist ein teirandon?”

„Bei den Mächten”, murmelte er tonlos, „wie weit ist der Schlüssel ins Chaos geraten?”

„Ich verstehe kein Wort.”

Er seufzte nachsichtig. „Nun ja, wenn es dir hilft, dass du dich für eine Träumende hältst, so soll es vorerst dabei bleiben. Vielleicht hält das deinen aufgestörten Verstand in Disziplin. Deinen absonderlichen Gewändern nach zu urteilen, kommst du wohl von ziemlich weit her.”

Ich schaute an mir herunter. Ich trug Sneakers, eine Jeans, ein weißes T-Shirt mit dem Logo einer Rockband und eine graue Fleecejacke.

„Absonderliche Gewänder? Das ist doch lächerlich!”

„Wenn Noktáma ein nichtmagisches Wesen – in einem Traum – aus einer äußeren Welt hergeführt hat, um meinesgleichen zu retten, dann steht es mir nicht an, ihre Entschlüsse in Frage zu stellen. Ich wünschte nur, es wäre geschehen, bevor Boscargén zu … dem hier wurde.”

„Zu retten? Ich hab doch gar nichts getan!”

„Doch. Du bist meinem Ruf gefolgt und hast mich aus dem Stein befreit.” Er deutete auf den Goldring, den ich immer noch in der Hand hielt. Wobei – war der kleiner geworden, während ich nicht darauf geachtet hatte?

„Vielleicht”, schlug ich vorsichtig vor, „erklärst du mir einfach, was das alles zu bedeuten hat.”

„Ich weiß nicht, ob wir dazu die Zeit haben. Aber ich schätze, es kommt nicht mehr darauf an. Was willst du wissen? Wo soll ich beginnen?”

„Warum warst du gerade noch aus Stein?”

„Das interessiert dich, obwohl du es doch gewiss nur geträumt hast?”

„Nun ja …”

„Sagen wir … jemand wollte mich daran hindern, diesen Ort zu verlassen. Damit ich mich nicht selbst befreie, hat er mir den Ring angelegt.”

„Aha. Und dieser Halsreifen …”

„Gold blockiert unsere maghiscal.”

„Was ist …”

„So nennen wir die magische Energie, die aus uns heraus nach außen wirkt.”

„Wie …”

„Zuvor hat er meinen Meister getötet.”

„W …”

„Ich hatte Noktáma beschworen, den Weltenschlüssel jemanden an die Hand zu geben, der in der Lage ist, zu helfen. Und so bist du hier.”

„ … “

Er lächelte müde, soweit ich es aus dem Schatten auf seinem Gesicht ableiten konnte. „Nein. Du musst nicht an meinem Verstand zweifeln. Meinesgleichen kann nicht gut lügen. Abgesehen davon: Ich bin hellwach.”

„Woher …”

„Weil ich deine Gedanken hören kann.”

„Du kannst was?”

Er ging an mir vorbei ins Haus zurück. Hinter der Tür lag nach wie vor der lange finstere Korridor. „Warte hier auf mich. Ich packe einige Sachen zusammen. Dann gehen wir.”

„Gehen? Wohin?”

„Was sollen wir hier noch länger?”

„Aber …”

Doch er war schon wieder in der Dunkelheit verschwunden.

„Nicht zu fassen”, murmelte ich.

Einen Moment lang schaute ich dem verbogenen Ring in meiner Hand beeindruckt beim Schrumpfen zu. Sein Durchmesser war jetzt schon so gering, dass er niemandem mehr um den Hals gepasst hätte. Doch nach einigen Minuten wurde ich ungeduldig. Dieser Traum dauerte für meinen Geschmack entschieden zu lange und nahm, trotz der bizarren Vorkommnisse, eine viel zu realistische Form an. Sollte ich wirklich hier stehenbleiben und warten, bis sich etwas tat? Vielleicht ließ sich der Traum in eine andere Richtung lenken, indem ich meine Position wechselte?

Das schien mir eine gute Idee zu sein. Also wanderte ich los und lief in das hinein, was die Überreste eines Waldes mit einem komplizierten Namen sein sollten. Da es keinerlei Unterholz gab, war es ganz einfach, den See zu erreichen. Das Wasser lag spiegelglatt und grau wie Blei vor mir.

Ich begann, über die Grundlagen meines hypothetischen Fiebertraums nachzudenken. Der plausibelste Gedanke war, dass sich hier eine Naturkatastrophe abgespielt hatte, etwas, was von den Bäumen nur die kräftigsten Teile übriggelassen, den Rest der Vegetation pulverisiert und das Wasser verfärbt hatte. Das war sicher eine Möglichkeit. Aber was war mit dem Licht geschehen, mit dem Himmel? Wo war die Sonne? Gab es hier eine Sonne? Außerdem war es windstill, kein Laut war zu hören.

Zumindest war es nicht kalt. Genaugenommen hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, im Freien zu stehen. Nach einer Weile fand ich auch das bei näherer Überlegung unangenehm. Es fühlte sich irgendwie schal an. Ja, schal ist das richtige Wort. Diese Gegend war abgestanden. Tot.

Wie konnte sich mein Unterbewusstsein so eine Szenerie ausdenken?

Der Goldreif passte nun in meine Jackentasche. Ich steckte ihn beiläufig ein. Vielleicht war das Ding zu irgendetwas zu gebrauchen.

Ich hockte mich an den Wasserrand und tauchte misstrauisch die Fingerspitze ins träge Nass. Es war trüb, wie der abgestandene Inhalt eines Putzeimers, aber völlig geruchsneutral.

Am Ufer führte ein Pfad entlang. Vielleicht war es einmal ein Kieselstrand gewesen, aber die lockeren Steine sahen aus wie loser, bröselnder Mörtel. Die traurige Szenerie ging nicht in eine neue Traumlandschaft über. Es war gespenstisch.

„Warte!”

Der Mann, der behauptete, ein Magier zu sein, stand plötzlich oberhalb des Ufers an der Böschung und trug nun eine lederne Schultertasche bei sich.

„Worauf?”

„Du solltest nicht hier herumlaufen!”

„Aber hier ist doch nichts.”

„Bleib sofort stehen!”

Ich hörte nicht auf ihn. Wieso sollte ich mir von einer Traumgestalt etwas sagen lassen?

„Halt!”

„Ich will hier weg! Ich …”

„Yal!”

Etwas zuckte an mir vorbei, wie ein unsichtbarer horizontaler Blitz auf Höhe meines Kopfes. Es fühlte sich an, als ob die Luft sich für einen winzigen Moment elektrisch auflud. Was immer es gewesen war, es schlug in einen Baum einige Schritte vor mir ein und knickte das morsche Holz um wie einen Grashalm. Der obere Teil des Stammes knallte mir quer vor die Füße.

Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Er kraxelte die Böschung hinunter. „Ich hatte gesagt, du sollst stehenbleiben!”

„Was war das?”

„Ich habe dich mehrfach gewarnt.”

„Aber das ist doch kein Grund … ich hätte tot sein können!”

„Tot wärest du möglicherweise, wenn du weitergegangen wärest.”

Ich zögerte. Wollte ich es wirklich wissen?

„Wie hast du das … gemacht?”

„Hatte ich erwähnt, dass ich ein Magier bin?”

Ich versuchte, ruhig zu atmen und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand er immer noch vor mir.

Er seufzte. Dann hob er einen faustgroßen Kiesel vom Boden auf und warf ihn, nicht weit weg, nur drei oder vier Schritte nach vorn über den Baumstamm. Der Stein erzitterte in der Luft und war verschwunden, noch bevor er den Boden berührte.

Ich schaute verdutzt zwischen der Stelle, an der der Stein gerade noch gewesen war und dem schwarzgekleideten Mann hin und her. Er nahm einen zweiten Stein, hielt ihn mir demonstrativ vor die Nase und wiederholte das Kunststück, mit demselben Resultat.

„Es ist eine Falle”, erklärte er milde, während ich mir den Kopf zerbrach, wie so etwas vonstattenging. „Er hat den Etaímalon eingezäunt.”

„Wer?”

„Gor Lucegath. Der Mann, der mich zu Stein hat werden lassen.”

„Dieser Gor Luce… der Typ ist also auch ein Zauberer, ja?”

„Nun, immerhin er hat das da erschaffen.”

„Gibt es auch Leute, die keine Zauberer sind?”

„Natürlich. Jenseits davon.”

„Und was ist das?”

„Eine Mauer aus Nichts.”

„Eine was?”

„Ein Ring, den er um den Etaímalon gelegt hat. Es zieht sich in einem großen Kreis um das Haus. Wir können nicht einfach dort hindurch. “

„Aber da ist keine Mauer. Da ist … nichts.”

„Ja, genau das sagte ich gerade. Es liegt in seiner Natur, dass du es nicht siehst.”

„Aber …”

„Eine Mauer ist eine Mauer, egal, woraus sie besteht. Und man kann nicht hindurchgehen. Du hast gesehen, was mit dem Stein passiert ist. Willst du dir vorstellen, was mit dir geschehen würde, wenn du da hinein spaziertest?”

„Und woher hast du gewusst, dass da … nichts ist?”

Er schien zu überlegen, ob es den Aufwand wert war, mir darauf zu antworten.

„Wir können Magie nicht voreinander verstecken”, sagte er dann so leichthin, als sei das eine plausible Antwort.

„Und wie funktioniert das?”

„Ich habe keine Ahnung, wie er das angestellt haben könnte. Ich sehe und verstehe, was es ist – aber ich weiß nicht, wie man Nichts erschaffen kann!” Er schwieg einen Moment und fügte dann beinahe anerkennend hinzu: „Eindrucksvoll. Aber von wo nimmt er das Material?” Er wandte sich wieder ab, zog seinen Hut zurecht. „Übrigens: In deinem eigenen Interesse solltest du dich davor hüten, mir ins Gesicht zu sehen.”

„Ist das etwa auch gefährlich?”

„Ja, das ist es. Und ich kann leider überhaupt nichts dagegen tun. Aber hiergegen habe ich vielleicht etwas Brauchbares.” Er öffnete er seine Tasche und holte etwas hervor, was ich beim besten Willen nicht erwartet hätte. Es war eine Art Geige aus pechschwarzem Holz samt Bogen. Allerdings hatte das Instrument nur vage Ähnlichkeit mit einer Violine, wie ich sie kannte. Der Körper hatte eine sonderbar eckige Form, und es gab fünf Saiten. Es sah wie ein Designerstück für eine Metal-Band aus.

„Willst du Musik machen?”

„Natürlich. Wenn er meint, eine substanzlose Mauer könnte mich halten, stelle ich eben eine unstoffliche Leiter auf.” Er begann, an den Saiten zu zupfen und sie festzuziehen. Sicherlich war das Instrument total verstimmt.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!”

Er hielt inne. „Wäre es unhöflich, wenn ich deine Widerreden ignoriere und tue, was ich für angemessen halte?”

„Bitte! Das ist schließlich deine … Welt.”

„Danke.” Er wandte sich der unsichtbaren Mauer zu und versank einen Moment lang in würdevolles Schweigen. Ich war gespannt, was nun Verrücktes passieren würde.

Dann strich er mit dem Bogen einen langen, tiefen Ton an, tat einen Schritt nach vorne und blieb eine Handbreit in der Luft über dem Erdboden stehen.

„Wie machst du das?”, fragte ich verdattert.

Er spielte einige weitere Töne und begann, in der Luft um mich herumzugehen.

„Ich kann den Schall dazu bringen, für kurze Zeit zu erstarren, massiv zu werden. Man könnte auch einfach sagen, dass es Zauberei ist.”

„Wie geht … ach. Vergiss es.”

„Ganz recht. Das ist etwas, das du sicher lediglich träumst. Aber wenn dem so ist, kann es dir doch eigentlich gleich sein, nicht wahr?”

Der letzte Ton verklang. Nun stand er wieder neben mir auf der Erde.

„Und so willst du über die Mauer klettern?”

Wir steigen hinüber. Gemeinsam. Oder willst du hierbleiben?”

Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Ich steckte in einem Traum fest, der nicht verblasste. Bei mir war jemand, der offensichtlich verrückt war. Er zerschmetterte Bäume, ließ Steine verschwinden und balancierte auf Schallwellen. Konnte ich so etwas ernst nehmen?

„Du solltest auf mich hören. Das hier ist kein guter Ort für dich. “

„Kein Problem. Ich werde ja jeden Moment aufwachen. Dann bin ich hier weg.”

„Willst du es darauf ankommen lassen?”

Das sagte er so ernsthaft, dass es mich verunsicherte.

„Hör mir zu. Ich verstehe, dass du wohl irrtümlich in dieses Weltenspiel geraten bist. Ich kann dir helfen, allerdings nicht von hier aus. Hier kommen wir um, und es wird ziemlich trostlos sein bis dahin. Du musst mir vertrauen.”

Ich biss mir auf die Lippen. Vertrauen. Ausgerechnet. Das letzte Mal, als ich jemandem vertraut hatte, hatte ich das bitter bereut.

Allerdings … meine innere Stimme sagte mir, dass er … anders war.

Er wartete. Ich musste ihm etwas antworten.

„Wie ist noch einmal dein Name?”

„Yalomiro. Yalomiro Lagoscyre. Vielleicht lohnt es sich, wenn du diesmal zumindest versuchst, ihn dir zu merken?”

„Aber meinen Namen soll ich dir nicht sagen?”

Ujora“, beschloss er. „So werde ich dich nennen – solange du träumst.”