
Dies ist die Geschichte meiner Weltflucht.
Zu Beginn dachte ich störrisch, es sei ein übertrieben realistischer Traum. Wenig später hatte ich an meinem Verstand gezweifelt und mich mit der Vorstellung arrangiert, verrückt geworden zu sein. Es kommt vor, dass Leute sich unter psychischen Belastungen einfach aus der Realität ausklinken und beginnen, in einer eigenen Welt zu leben. Ich hatte schon seltsamere Geschichten gehört und gelesen. Dass es solche psychologischen Wahnzustände gab, war wissenschaftlich erwiesen.
Nun war es aber so, dass ich ausgerechnet an jenem Tag nicht unter Stress stand. Außerdem war es eben nicht meine persönliche Phantasiewelt, die ich mir aufgebaut hätte, um mit Problemen klar zu kommen, die mir in der Wirklichkeit über den Kopf wuchsen. Hätte ich mir eine eigene Welt ausgemalt, damals, an diesem Punkt meines Lebens, sie hätte anders ausgesehen. Komplett anders. Berechenbarer. Rationaler.
Ich entsinne mich wirklich nicht, dass an diesem Tag irgendetwas Spektakuläres oder Ungewöhnliches vorgefallen wäre. Das heißt: abgesehen davon, dass ich diesen Schlüssel gefunden habe. Erst viel später habe ich erfahren, dass es kein Zufall war, dass ausgerechnet mir dieses Ding in die Hände fiel.
Noktáma hat es so gewollt, und Noktáma kennt viele Welten, die ans Chaos angrenzen. Vielleicht wollte sie aus Neugier ausprobieren, was geschieht, wenn sich eine Weltentür nach außen öffnet. Noch wahrscheinlicher ist, dass sie ein viel komplizierteres Manöver im Weltenspiel verfolgte.
Ich glaube, sie hat geschummelt.
Als ich an jenem Tag Anfang November von der Uni heimkehrte, war es schon dunkel. Ich studierte ein sprachwissenschaftliches Fach, stand kurz vor wichtigen Prüfungen und verbrachte meine Zeit damit, wie besessen zu lernen und mich durch nichts davon ablenken zu lassen. Ich hatte mich bis zum Ende der Öffnungszeit in der Bibliothek aufgehalten und stapfte nun eilig durch Regen und Pfützen heim.
Es war seit Wochen kühl und es hielt sich trostloses Schmuddelwetter. Die triste, graue Atmosphäre und der Mangel an Licht drückten noch mehr auf meine Stimmung, als es ohnehin der Fall war. Für das Wochenende hatte ich nichts geplant. Genaugenommen hatte ich mir schon lange nichts mehr vorgenommen, was über Vorbereitungen auf die nächsten Seminare herausgegangen wäre. Tatsächlich war es mir ganz lieb, möglichst niemanden zu Gesicht zu bekommen. Zumindest war es damals so, wenn ich auch nicht ausschloss, vielleicht noch einmal einen Versuch zu wagen. Irgendwann später. Eventuell. Wenn ich genug Zeit und Abstand finden würde, um mich um eigene Bedürfnisse zu kümmern.
Wenn ich ehrlich darüber nachdenke: Ich hatte die Arbeit, sowohl das Studium als auch meinen Studentenjob (ich prüfte regelmäßig für eine Agentur Werbeschriften auf Rechtschreibfehler) um mich herum aufgetürmt wie eine Mauer, hinter der ich mich verstecken, hinter der ich in Sicherheit vor mich hin leben konnte.
Ich war mir noch nicht im Klaren darüber, wie es nach den Prüfungen weitergehen würde. Das eine oder andere Praktikum hatte ich absolviert. Die Karriere, das dachte ich mir, würde wohl in Richtung Bürojob in einer Behörde gehen. Einen konkreten Plan hatte ich noch nicht, andererseits auch keine Verpflichtungen. Es gab niemanden, die sich dafür interessiert hätten, wie es mir ging und womit ich mein Leben verbrachte.
Zu dem, was noch an Angehörigen existierte, hatte ich – aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun – nur noch formalen Kontakt. Meine Restfamilie lebte weit entfernt von meinem jetzigen Wohnort. Ich legte keinen großen Wert darauf, die Beziehungen zu intensivieren. Ich hatte es damals als kleine Befreiung erlebt, endlich aus diesen toxischen Verhältnissen entkommen zu sein.
Etwas, das man als enge Freunde bezeichnen konnte, hatte ich nicht. Nicht mehr. Nicht nach dem, was vorletztes Jahr geschehen war.
Natürlich war ich nicht völlig isoliert, ich hatte Kommilitonen und lose Bekanntschaften. Leute, mit denen man eben in der Mensa oder im Seminar am selben Tisch sitzt. Aber in meinen Alltag ließ ich niemanden von diesen Leuten hinein. Ich hatte damals die Nase voll von Menschen. Vor allem von solchen, die nichts anderes konnten, als andere vor den Kopf zu stoßen, zu hintergehen und sich am Ende dafür feiern zu lassen. Davon hatte ich genug.
Ich fühlte mich sicher, in der Großstadt, in dem Massenstudiengang. In meiner kleinen, billigen Wohnung. Das winzige Ein-Zimmer-Appartement in einem großen Wohnblock lag in keiner besonders guten Gegend, aber immerhin noch nicht im städtischen No-Go-Areal. Für meine Zwecke war es akzeptabel. Die Miete war, wobei ich einen Rechenfehler in der Kalkulation des Eigentümers vermutete, sogar etwas preiswerter als die im Wohnheim. Den Zuschlag hatte ich damals wahrscheinlich bekommen, weil ich so seriös wirkte. Ich hatte eine günstige Verkehrsanbindung und fußläufig einen kleinen Park. Nun ja: Eine vermüllte städtische Parkanlage.
Später … das war ein Gedanke, der mir damals immer wieder durch den Kopf gegangen war. Wenn ich schnellstmöglich mein Examen in der Tasche und einen Job hatte, dann würde noch genug Zeit für ein aufregendes Leben bleiben. Vielleicht sogar für einen Neubeginn mit Menschen. Mit netten Menschen. Später. Irgendwann. Möglicherweise.
Ich schloss die Haustür auf. Im Hier und Jetzt beschäftigten mich triviale Bedürfnisse: Ich hatte Hunger. Da ich nicht aufwändig für mich allein kochen mochte, ging ich also von der Haustür aus direkt in den Keller. Mangels Stauraum in der Wohnung stand dort in einem winzigen Abstellraum ein Regal, in dem ich eine gemischte Palette Konservendosen lagerte. In meiner Miniküche hätten selbst die zu viel Platz weggenommen.
Das Kellerabteil hatte nicht einmal eigenes Licht, nur ein kleines eng vergittertes Oberlicht, das zu dieser Uhrzeit natürlich nicht viel nützte. Die Funzel, die den Flur erhellte, musste reichen. Andererseits war die Auswahl sowieso nicht allzu groß. Der Großteil der Konserven enthielt Ravioli. Ich hatte eine, aus ernährungswissenschaftlicher Sicht sicherlich nicht wirklich gesunde, ungewöhnliche Vorliebe für matschige Nudeln mit Tomatensauce. Heute war mein Appetit darauf besonders groß.
Ich nahm eine Dose, drehte mich um und wollte die Brettertür gerade wieder abschließen, als mein Fuß auf etwas Hartes trat. Ich bückte mich, spürte Metall zwischen meinen Fingern und begutachtete das Objekt, das unter der Tür gelegen hatte, im trüben Licht der Flurbeleuchtung.
Es war ein Schlüssel.
Allerdings – dass es sich überhaupt um einen Schlüssel handelte, begriff ich erst auf den zweiten Blick. Der Holm bestand aus einem länglichen Stück aus schwärzlich angelaufenem Metall mit drei flachen Kanten, die im Querschnitt ein gleichwinkliges Dreieck bildeten. Der Bart war ebenfalls dreieckig, eine seltsam gestauchte Pyramide, von beiden Seiten mit einem komplizierten Muster durchbrochen, das aus scheinbar wahllos angeordneten Rillen unterschiedlicher Länge und Tiefe bestand. Die Reite bildete ein flaches Dreieck mit einem mittigen Loch, durch das man einen Schlüsselring hätte fädeln können. Auch darin war ein ähnliches Muster eingeritzt. Insgesamt war der sonderbare Gegenstand etwas länger als mein Zeigefinger.
Wie kam dieses befremdliche Objekt in meinen Keller? War es jemandem aus der Hand gefallen und dann durch einen unachtsamen Tritt unter der Tür hindurch befördert worden?
Ich nahm meine Konserve und den komischen Designerschlüssel mit nach oben in die vierte Etage. Dabei konnte ich kaum den Blick davon abwenden. Auf dem Weg von der Wohnungstür bis zur Küche war ich so abgelenkt, dass ich im Wohnzimmer um Haaresbreite auf ein paar Puzzlestücken auf dem Laminat ausgerutscht wäre, bevor ich den Lichtschalter betätigen konnte.
Üblicherweise verbrachte ich meine einsamen Abende dann, wenn ich mich nicht mehr zum Lernen aufraffen konnte, mit Puzzlespielen. Dabei konnte ich wunderbar abschalten, denn es half mir, die Gedanken auf etwas anderes zu richten als auf die ständige Grübelei. Zurzeit hatte ich ein abstraktes Gemälde mit über eintausend Teilen in Arbeit, das ich aufgrund seines Formats auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Dabei ragte es etwas in den Laufweg, und ich hatte in meiner Unachtsamkeit eine Ecke weggetreten, an der ich gestern den ganzen Abend gerätselt hatte. Ich fluchte unwillkürlich, ging dann aber zunächst in die Küche. Das Spiel konnte warten.
Bei besserer Beleuchtung untersuchte ich den Schlüssel, während ich meine Ravioli aufwärmte. Bereits das Material gab mir Rätsel auf. Es handelte sich nicht um Stahl und offenbar auch nicht um antikes Eisen, dafür war es zu leicht. Ich hielt einen Kühlschrankmagneten dagegen. Nichts tat sich. Handelte es sich etwa tatsächlich um stark angelaufenes Silber?
Ich nahm die Ravioli vom Herd, schüttete sie in ein Schälchen und setzte mich damit vor den Computer. Meine Neugier war geweckt. Falls – was absurd wäre – mein Fund aus einer Silberlegierung bestand, war er sicher nicht ganz wertlos.
Eine Erklärung für das Auftauchen des Schlüssels reimte ich mir indes schnell zusammen: Einer der Mieter bewahrte im Keller alten Krempel auf. Vielleicht wollte er oder sie einen Teil davon zu Geld machen und hatte nach einer Bestandsaufnahme etwas von seinem Trödel nach oben transportiert. Höchstwahrscheinlich, um Fotos für ein Kleinanzeigenportal zu machen. Dabei war der Schlüssel, sicherlich ein extravagantes Deko-Stück, vielleicht auch nur ein Teil von einem größeren Objekt, heruntergefallen. Alles ganz einfach und einleuchtend.
Trotzdem blieb ich neugierig. Ich recherchierte online mit allen möglichen Suchbegriffen, die mir beim Anblick des Schlüssels einfielen, bis die Ravioli wieder kalt waren. Ich schaute mir Dutzende Bilder von antiken Schlüsseln an, fand aber nichts, was auch nur ansatzweise eine Ähnlichkeit aufgewiesen hätte.
Zugegeben: Ich wusste gar nicht, wonach ich eigentlich suchte. Mein Fundstück widersprach sich selbst: Das Metall war oxidiert, als sei es uralt, aber die Form wirkte so extravagant, fast mathematisch, sodass es sich um ein modernes Objekt handeln musste.
Ich surfte und ließ die Suchmaschine schließlich nach immer vageren Phrasen wie „rätselhaftes Objekt gefunden” und sogar „geheimnisvoller Schlüssel” fahnden. Das war eine verhängnisvolle Idee, denn die Ergebnisse führten mich mehr und mehr in die obskuren Tiefen von Internetseiten, die sich um mysteriöse und unerklärliche archäologische Funde, sogenannte out-of-place-artifacts drehten. Offenbar war das eine beliebte Thematik bei Zeitgenossen, die auf Aliens und Gruselfilme standen. Ich las Dinge über versteinerte Handys, Flugzeugmodelle aus der Inkazeit und Abbildungen von Ufos auf Renaissancegemälden. Für eine Weile packte mich widerwillige Faszination. Ich fragte mich, wie vernunftbegabte Menschen sich mit solchem Blödsinn abgeben konnten. Meine Recherchen führten nirgendwohin, außer zu offensichtlichen Fakes, die von wissenschaftlich erklärbaren Fakten abwichen.
Einige Mitschülerinnen hatten sich, als wir alle noch Teenager waren, sehr für das Okkulte interessiert. Sie hatten Séancen mit Gläserrücken und Gruselritualen abgehalten hatten und das alles sehr aufregend gefunden. Sie hatten damals versucht, den Geist eines jüngst verstorbenen Popstars zu beschwören. Die Mädchen waren beunruhigend verängstigt gewesen, als der „Geist” sich tatsächlich bemerkbar gemacht hatte. Natürlich war das alles nur Einbildung, mit der sie sich gegenseitig verunsichert hatten. Aber trotzdem …
Mein Blick fiel auf den Schlüssel, der neben meinem Mauspad lag. Ob ich doch ein Foto davon in eines dieser Mystery-Foren setzen sollte? Nur aus Neugier? Nur für eine… Antwort?
Nein! Genug mit dem Unfug. Ich schaltete den Computer aus, bevor ich auf dumme Gedanken kam..
All das hatte mich müde gemacht. Ich klappte meine Schlafcouch aus und ging zu Bett.
Ich träumte. Gewissermaßen.
Für gewöhnlich und unabhängig davon, ob man nun einen angenehmen oder einen Alptraum hat, haben Träume eines gemeinsam: Sie finden in irgendeiner Art von Szenerie statt. Das kann eine wirklichkeitsnahe Umgebung sein oder eine surreale Landschaft, ganz egal – jedenfalls ist da immer irgendetwas. In meinem Traum war das jedoch anders. Es war ein völlig leerer Traum.
Ich befand mich in einer Art milchig-grauem Nebel. Nein, Nebel trifft es nicht. Ich befand mich in einer sonderbar rauschenden Leere. Mir fällt wirklich kein besseres Wort dafür ein. Es war wie das Geräusch zwischen zwei Radiofrequenzen, nur … optisch. Weit entfernt gab es etwas Schwarzes, einen winzigen Fleck im Nichts. Er war entweder klein oder unglaublich weit entfernt, aber immerhin etwas, woran meine Aufmerksamkeit sich festheftete.
Und ich begann, etwas zu hören, ein Flüstern und Wispern bildete sich im Rauschen. Hilf mir, hauchte jemand an mein Ohr, ganz leise. Eine männliche Stimme, leise, dringlich, beschwörend, fortwährend, wie ein Mantra. Mit jeder Wiederholung schien sie lauter zu werden. Der schwarze Fleck in der Ferne raste plötzlich mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit auf mich zu, wurde zu einer schwarzen Gestalt. Die Stimme steigerte sich zu einem Schrei, als habe jemand einen Lautstärkeregler mit Gewalt hochgezogen.
Ich fuhr entsetzt aus dem Traum hoch.
Der Raum lag im Finstern. Lediglich die Leuchtziffern meines Radioweckers waren zu erkennen und teilten mir mit, dass es ein paar Minuten nach drei Uhr war. Dass um drei Uhr morgens herum die meisten übernatürlichen Vorkommnisse stattfinden, hatte ich erst vor ein paar Stunden auf dubiosen Seiten im Internet gelernt. Und hatte da nicht auch etwas von seltsamen schwarzen Wesen gestanden, die mitten in der Nacht im Schlafzimmer auftauchten und einen schweigend anstarrten? Schlafparalyse, so lautete die wissenschaftliche Erklärung für diese durch unzählige Berichte dokumentierten Erscheinungen. Ein beunruhigend großer Teil von Forennutzern glaubte daran nicht und hielt sie für transdimensionale Entitäten, die sie bedroom visitors nannten. Im dunklen Zimmer, mitten in der Nacht, war es gruselig, darüber nachzudenken.
Bildete ich mir das ein oder schimmerte es neben dem Mauspad?
Ich drehte mich zur Wand und zwang mich, nicht hinzuschauen. Sicherlich handelte es sich um eine Reflexion der kleinen LEDs am Monitor. Ganz bestimmt war da nichts. Und wenn, dann wollte ich es nicht wissen. Ich horchte auf die nächtlichen Großstadtgeräusche in der Ferne, Polizeisirenen, gelegentlich vorbeifahrende Autos, sogar das Gegröle von ein paar Betrunkenen auf der Straße. All das wiegte mich wieder in den Schlaf.
„Hier ist Top City Eins, eure Gute-Laune-Welle mit den neuesten Nachrichten!”
Ich schreckte auf. Der Radiowecker kannte keine Wochenenden.
„Es ist sieben Uhr fünfundvierzig, und bei den internationalen Filmfestspielen regnete es gestern erneut Awards. Regisseur Pete Hansson wurde wie erwartet für den fünften Teil seiner Blockbuster-Serie ‚Finsternis über der Elfenschlucht’ ausgezeichnet. Wer den Streifen noch nicht gesehen hat: Heute ist der ideale Tag für einen Kinobesuch!”
Ich blinzelte müde und schaute zum Fenster. Der muntere Moderator hatte Recht. Regen prasselte an die Scheiben. Das trübe Nieselwetter machte auch vor dem Samstag nicht halt. Der morgendliche Autoverkehr wälzte sich unter meinem Fenster vorbei.
Ich gähnte, lauschte einen Moment lang dem enervierend gut gelaunten Plappern und hörte mir noch die Nachrichten an. Da gab es nichts Neues: Kriege, Katastrophen und Aktuelles vom Sport. Müde schlurfte ich in die Küche, nahm die Kaffeemaschine in Betrieb und holte mir einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank. Damit und mit einer dampfenden Tasse in der anderen Hand zurück im Wohnzimmer, fiel mein Blick auf den Schlüssel. Keine Spur von dem geheimnisvollen Glimmen, das ich mir in der Nacht eingebildet hatte.
Schließ auf!, zuckte da die Traumstimme ohne Vorwarnung durch meinen Kopf. Ich zuckte so heftig zusammen, dass die Tasse überschwappte. Ein Achtelliter „milde Bohne” ergoss sich über meine Vorlesungsskripte auf dem Schreibtisch und tropfte dann auf das Laminat.
„Nichts da”, murmelte ich, nachdem ich einen Moment lang wie erstarrt und nun hellwach auf die Bescherung gestarrt hatte. „Ich werde doch hier jetzt nicht verrückt!”
Als ich alles weggeputzt und mich mit Jeans, Jacke und T-Shirt halbwegs manierlich angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss. Ich hatte nach dem Vorfall mit dem Kaffee beschlossen, den Schlüssel dort abzuliefern. Keine Minute länger wollte ich das Ding in meiner Wohnung behalten.
Der Hauswart stand vor seiner Tür und hatte den Postboten in ein Gespräch verwickelt. Der hatte offenbar ein Einschreiben zugestellt, für das er eine Unterschrift brauchte. Nun unternahm er halbherzige Versuche, sich zu entfernen, aber der gesprächige Frührentner redete unerbittlich ohne Punkt und Komma auf ihn ein. Er lobte die alten Zeiten, in denen die Post pünktlich und die Briefmarken das Doppelte wert waren.
„Haben Sie etwas für mich?”, fragte ich den Postler, der sichtlich dankbar für die Störung war, beim Näherkommen.
„Heute nicht!”
Der Hausmeister wandte sich mir zu. „Wie? Keine Liebesbriefe?”
Natürlich nicht. Von wem denn? Ich hasste es, wenn Leute versuchten, witzig zu sein.
„Andererseits auch keine Rechnungen”, konterte ich. „Aber gut, dass ich Sie treffe. Haben Sie eine Idee, was das hier sein mag? Es lag im Keller.”
Während der Zusteller die Ablenkung nutzte, sich davonzustehlen, untersuchte der Hauswart meinen Fund. „Das ist aber seltsam.” Er betrachtete das Objekt von allen Seiten fachmännisch. „Soll das ein Schlüssel sein?”
Einen Moment lang zögerte ich, ob ich ihm den Gegenstand aushändigen sollte …
NEIN!
… und entschied mich dagegen.
„Wahrscheinlich gehört es zu einer Antiquität”, sagte ich und fischte ihm den Schlüssel wieder aus der Hand. „Ich mache später einen Aushang an das Infobrett.”
„Das gehört bestimmt den neuen Mietern im Dachgeschoss”, mutmaßte der Hausmeister eifrig. „Die, die immer so komische Musik aufdrehen. Ich sag Ihnen: Mit denen stimmt was nicht. Das sehe ich denen an. Das kommt auch immer so ein komischer Geruch ins Treppenhaus gezogen, sobald da die Tür aufgeht. Haben Sie gehört, dass …”
„Telefon!”, schallte im selben Moment die schrille Stimme seiner Frau aus den Tiefen der Wohnung, genau zur rechten Zeit. Ich verabschiedete mich eilig, bevor ich mir Nachbarschaftstratsch anhören musste.
Der Keller war im regengrauen Tageslicht, das durch die kleinen Fensternischen fiel, nun etwas heller. Ich stand von meinem Verschlag, schaute mich auf dem Gang um um und hielt Ausschau nach weiteren verloren gegangenen Objekten, die ich am Vorabend möglicherweise übersehen hatte. Ich fand keine. Dafür hörte ich wieder etwas. Ich schaute mich verwirrt um, bis ich begriff, dass jemand direkt in meinem Kopf zu flüstern begann.
Und dann verlor ich, ohne Vorwarnung, die Kontrolle über mich.
Ich tastete, ohne recht zu wissen, warum, nach der Türklinke meines Abstellraums und näherte den Schlüssel dem Schloss.
Schließ auf!
Ich machte einen Schritt auf meine Kellertür zu. Aber warum tat ich das? Es kam wie ein unwiderstehlicher Drang über mich …
… hilf mir, du hast den Schlüssel, du kannst …
…jetzt und gerade jetzt diese Tür aufschließen zu müssen, obwohl der Schlüssel offensichtlich zu groß für das kleine Türschloss war und logischerweise nicht passen konnte.
… mir helfen! Hilf mir, hilf …
Ich versuchte, innezuhalten, aber meine Hand gehorchte mir nicht mehr. Meine Finger zitterten, aber so sehr ich es versuchte, ich konnte den Schlüssel nicht fallen lassen.
Er schimmerte auf. Der Bart funkelte, und vor meinen Augen begannen die Einkerbungen, sich zu verändern. Das dreieckige Metallstück verschob sich ineinander, korrigierte seine Form und…
„Sch…!”, entfuhr es mir in Panik. Was passierte hier?
Alle Gegenwehr war zwecklos. Ich hatte keine Kontrolle über meine Hand. Der Schlüssel glitt ohne Widerstand in das Schloss hinein. Es sprang mit einem leisen Klicken auf, und die Tür schwang gegen die gewohnte Richtung in den Raum hinein.
… Komm zu mir, du kannst mir helfen …
Vor mir lag ein dunkler Raum, der nichts mehr mit meinem Vorratsregal und den Konservendosen zu tun hatte.
Ich erschrak bis ins Mark, aber gleichzeitig zog etwas mich voran durch die Tür wie ein mächtiger Sog. Ich schloss meine Hand fest um den Schlüssel, der sich ruckartig von der Tür löste.
… Tritt ein!
Ich wimmerte verängstigt und stolperte …
… in die Dunkelheit.
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