Yalomiro Lagoscyre rannte. Solange er in Sichtweite der beiden Fremden gewesen war, hatte er seine Beherrschung bewahrt, aber nun rannte er. Das instinktive Grauen, das er beim Anblick des Rotgewandeten mit allergrößter Disziplin zurückgedrängt hatte, drohte ihn zu überwältigen.

Ein goala’ay! Ein Lichtwächter hatte die Domäne der Schattensänger betreten! Es war unerträglich, diesen Mann vor sich zu haben, ohne weglaufen zu dürfen. Und das, was er über den Eindringling hatte herausfinden können, war mehr als verwirrend.

Meister Askýn sollte ihn eingelassen haben in den Boscargén? Lächerlich! Das wäre, als würde man einen Fuchs in einen Hühnerstall hinein bitten! Es würde mit einem Gemetzel enden! Die Waffe, die der Eindringling an seinem Schwertgehenk mit sich trug, war nicht zu übersehen gewesen. Der Schattensänger hatte in seinen schlimmsten Träumen nicht damit gerechnet, einmal ein solches Schwert zu Gesicht zu bekommen.

Wo kam der goala’ay überhaupt her? Hatten sie ihren eigenen Kreis nicht längst ausgemerzt, wie die camat’ay es annahmen, solange er sich erinnern konnte? Und selbst, wenn es Überlebende gab … hätte Meister Askýn ihnen allen Ernstes erlaubt, herzukommen? Ohne sich mit den anderen ytraray zu beraten?

Und wer, nein: Was bei allen Mächten war diese unkundige Frau? Was hatte sie in Gesellschaft eines Magiers zu suchen?

Zu viele Fragen! Der Schattensänger hetzte durch den Olivenwald, ohne nach links und rechts zu blicken. Er hätte sich erneut verwandeln und den Rest des Weges in Gestalt eines Vogels zurücklegen können, aber in einem Tierkörper wäre er völlig wehrlos gewesen. Die goala’ay waren berüchtigt für ihre plötzlichen Attacken. Wer konnte ahnen, was dem Fremden in den Sinn kam!

Als ein blondes Mädchen in einem schwarzen Kleid zwischen den Bäumen hervorkam, nahm er sich kaum die Zeit, anzuhalten.

„Arámaú! Komm mit mir!”

Sie setzte ihm verstört nach und konnte kaum mit seinen langen Beinen Schritt halten, denn sie war deutlich jünger und kleiner als er. Er minderte seinen Lauf gerade so weit, dass sie nicht den Anschluss verlor.

„Wer ist das?”, fragte sie aufgeregt, „Was will er?”

„Warum bist du weggelaufen?”

„Warum? Ich hatte Angst! Ich habe es nicht ertragen! Bei den Mächten, ich habe dich mit ihm allein gelassen!”

„Aber du hattest Recht mit deiner Vermutung.”

„Ein Lichtwächter? Aber … das habe ich doch nicht ernst gemeint! Das war ein dummer Scherz!”

„Nein, es war deine Intuition. Es sind noch Rotgewandete im Weltenspiel. Die Mächte mögen wissen, wie sie all die Zeit ohne ihre Schutzmacht fortbestehen konnten.”

„Wer weiß … vielleicht ist er nur ein Späher, und sie wollen in den Wald einfallen …”

„Das möge Noktáma verhüten!”

„Wieso ist er hier?”

„Weil Meister Askýn ihn eingelassen hat!”

„Was?!”

„Er darf hier sein!”

„Aber … Hast du etwa davon gewusst?”

„Bei Noktáma, nein! Hätte ich es gewusst, ich hätte es verhindert. Irgendwie.”

„Und jetzt?”

„Lauf zu ytra Gíonar! Vielleicht hatten unsere Meister sich über diese Sache verständigt und alles klärt sich auf!”

„Im Leben nicht! Mein Meister wird außer sich sein!”

Das Mädchen folgte ihm weiter nach, obwohl der Abzweig zum Haus von Meister Gíonar schon hinter ihnen lag.

„Und überhaupt: Wer ist er? Was soll ich meinem Meister sagen? Er wird doch denken, wir wollten ihm schon wieder einen albernen Streich spielen!”

Yalomiro machte Halt und drehte sich zu ihr um. In ihren jadegrünen Augen stand mehr Furcht, als er ertrug. Doch es war keine Zeit für Mitgefühl, nicht jetzt. „Er nennt sich Gor Lucegath und dürfte einer ihrer Großmeister sein. Meister Gíonar kennt möglicherweise seinen Namen und weiß mehr.”

„Aber …”

„Bei Noktáma, lauf endlich! Und hole ihn her, holt beide alle herbei, bevor es ein Unglück gibt!”

Er ließ sie stehen und rannte weiter. Es war an ihr, den anderen von der Ungeheuerlichkeit, von der Ankunft eines goala’ay zu berichten. Er musste derweil seinen Meister beschützen.

Askýn Lagoscyre hatte die Ankunft des Lichtwächters erspürt, lange bevor dieser die Grenzen des Boscargén erreicht hatte. Tatsächlich war er es gewesen, der einen goala’ay zu sich gerufen hatte. Einst hatten die camat’ay die Gelegenheit verstreichen lassen, mit den Rotgewandeten zu verhandeln. Damals war die Angelegenheit in ein furchtbares Unheil gemündet. Diesen Fehler wollte der alte Magier nicht wiederholen. Aber es blieb ihm wenig Zeit, es noch einmal zu versuchen, das Schicksal zu wenden, solange die Mächte ihm die Frist zustanden.

Aber der Großmeister der camat’ay war gebrechlich und zu alt, um den Gast persönlich zu empfangen, am Rande des Waldes, auf neutralem Boden, wie es statthafter gewesen wäre. Es war unumgänglich, den Rotgewandeten in den Etaímalon, die Weihestätte zu rufen. Alles andere hätte sein greiser Körper nicht bewältigt.

Er blickte zu der sternförmigen Öffnung in der Kuppel des Heiligtums auf und fröstelte. Außer seinem eigenen Atem hörte der alte Mann keinen Laut. In der weihevollen Stille überkamen ihn Zweifel. War es verkehrt, einen späten Frieden herbeizusehnen, bevor er, Askýn Lagoscyre, hinter die Träume ging? Wer, wenn nicht er, konnte es wagen? Gíonar, jener, der sein Nachfolger sein würde? Nein. Das würde in tausend Sommern zu nichts führen. Gíonar war ebenso mächtig wie undiplomatisch.

Der alte camat’ay wandte sich dem Portal zu, durch das der begabteste Schüler hereinstürmte, den er in den langen Sommern ausgebildet hatte, die die Mächte ihm zugemessen hatten. Yalomiro Lagoscyre war ein Geschenk, das sie ihm anvertraut hatten. Er würde derjenige sein, der ihm einmal auf diesen Thron nachfolgen würde, wenn auch für Meister Gíonar das Weltenspiel endete.

Ytra …” Der jüngere Schattensänger verneigte sich, kam rasch heran und kniete demütig vor den Stufen zu Askýns Füßen nieder, seine Geige immer noch in der Hand.

„Wer ist es, Yalomiro?”

„Also wisst Ihr, dass ein … Gast kommt?”

„Ich kenne seinen Namen nicht.”

„Er nennt sich Gor Lucegath. Ein ytra der goala’ay.”

Askýn Lagoscyre riss seine trüben Augen auf. Einen Augenblick lang wich die Schwäche von ihm. Der alte Schattensänger richtete sich erschreckt auf.

Gor Lucegath?”

„Ihr kennt seinen Namen?”

Meister Askýn ließ seinen halbblinden Blick verwirrt in die Dunkelheit schweifen. „Ja. Er war einst ein Schrecken, dessen Namen man nicht zu flüstern wagte.”

„Also hat er camat’ay getötet?”

„In den Tagen der Chaoskriege, ja. Zu Dutzenden.”

Yalomiro erschauderte und stutzte dann.

„In den Chaoskriegen? Meister, damit müsste er älter sein als Ihr. Dieser Mann mag die Hälfte Eurer Sommer haben, nicht mehr!”

„Dann hat er wohl einen Weg gefunden, die Zeit zu betrügen.”

„Ist es denn wahr, dass Ihr ihn gerufen habt?”

„Ja. … Nein. Ich habe einen der ihren gerufen. Ganz gewiss nicht genau diesen.”

„Warum habt Ihr einen Rotgewandeten in den Boscargén gelassen?”

„Weil es sein muss”, erklärte der Greis. „Ich habe seit vielen Monden immer wieder in meinen tiefen Träumen nach einem gesucht. Und nun gibt der Schrecklichste von allen sich die Ehre.”

„Meister … Warum lasst Ihr das Grauen in die Weihestätte ein?”

„Wo, Yalomiro, wäre ich sicherer als dort, wo Noktáma wirkt? Hier kann und wird mir nichts zustoßen.”

Yalomiro senkte den Blick. Dagegen konnte er nichts vorbringen. Vorbehalte gegenüber Noktámas Gunst waren an diesem Ort fehl am Platz. Ebenso wie Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Großmeisters, die seiner Meinung nach zweifellos angebracht waren. Meister Askýn entgingen diese Gedanken nicht.

„Warum habt Ihr mich nicht eingeweiht? Habe ich Euch Grund gegeben, mir zu misstrauen?”

„Nein, Yalomiro. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich dir die Mühe ersparen wollte, mich davon abzubringen.”

„Wissen zumindest die anderen ytraray davon?”, fragte Yalomiro matt.

„Nein.”

Die Finger seines Schülers umkrampften die Geige in hilfloser Anspannung. Yalomiro war außer sich. Aber er hatte seine Emotionen unter Kontrolle. Sehr gut.

„Ytra … Was kann ich tun?”

„Nichts. Ich werde und muss ihm allein begegnen.”

„Aber …”

„Nein.”

Yalomiro verstummte vor der Schärfe in diesen Worten und wich zurück. Etwas sanfter fügte der greise Magier hinzu: „Du hast Wichtigeres zu tun. Aber nicht hier.”

Yalomiro erhob sich. „Was soll ich tun?”, fragte er.

„Gor Lucegath darf unter gar keinen Umständen das ay’cha’ree in die Hände bekommen.”

„Das ay’cha’ree?”, rief Yalomiro entgeistert aus.

„Wenn es Gor Lucegath ist, ist er meinem Ruf nicht gefolgt, um Frieden zu suchen. Du, Yalomiro, musst jetzt dein Meisterstück tun. Schütze das Artefakt vor Gor Lucegath, wenn ich es nicht mehr vermag.”.

Der jüngere Magier starrte seinen Meister konsterniert an. „Ich? Aber … wie sollte ich … so ganz ohne Vorbereitung…”

„Ich vertraue es dir an. Verteidige es und erlange damit deine Meisterschaft.”

Yalomiro schaute auf sein Instrument hinab. „Dazu bin ich noch nicht bereit, Meister”, murmelte er. „Das wisst Ihr.”

„Du bist der Einzige, der es tun kann.”

„Es fällt Euch reichlich spät ein, Vorkehrungen zu treffen, Meister Askýn.”

Die beiden camat’ay zuckten zusammen. Der Rotgewandete war so unversehens erschienen, wie es Art seines Kreises war, und stand nun gelassen unter dem Torbogen, der in den Saal führte. Der alte Mann stemmte sich mühsam von seinem Sitz hoch.

„Behaltet Platz, Meister Askýn. Keine Umstände meinetwegen.”

„Wie konntet Ihr Euren Fuß über die Schwelle setzen?”, fragte Yalomiro bestürzt über den Frevel, den der Lichtwächter sich erlaubte.

„Dein Meister hat mich nicht aufgehalten”, gab der goala’ay gelassen zurück. Er ging, ohne den Blick von Meister Askýn abzuwenden, auf die Saalmitte zu. Instinktiv trat Yalomiro schützend vor seinen Meister. Aber der Alte hieß ihn mit einem schroffen Wink, Abstand zu halten.

Ytra Askýn Lagoscyre “, brach Meister Gor das Schweigen, „ich bin voller Dankbarkeit für Eure freundliche Einladung.” Er zog seinen Hut vor dem greisen Zauberer. Das Haar darunter war einmal rot gewesen wie ein Fuchsfell, die Zeit hatte es gebleicht.

„Gor Lucegath. Ich erinnere mich an unsere Begegnung. Aber es ist lange her. Sehr lange.”

Der Lichtwächter nickte. Seine marmorgrauen Augen musterten den Alten lauernd unter der kupferfarbenen Maske, die seine Augenpartie bedeckte.

„Auch Euer Ruhm ist in jenen alten Tagen über die Grenzen des Boscargén hinaus gedrungen. Ich habe aufmerksam verfolgt, was immer ich von Euch zu hören bekam.”

„Meinen Schüler kennt Ihr bereits?”

„Ein sehr begabter und couragierter Mann. An Respekt mangelt es ihm allerdings, und an Demut. Was das betrifft, hat er noch eine Menge zu üben. Ihr hättet ihn beizeiten disziplinieren sollen.”

„Lass uns allein, Yalomiro”, gebot der Großmeister. „Dies hier ist eine Sache zwischen ytraray. Du hast andere Aufgaben.”

„Meister …”

„Und mit dem Gehorsam scheint es bei ihm auch zu hapern”, fügte der Rotgewandete hinzu.

„Geh, Yalomiro. Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen.”

Der jüngere camat’ay kämpfte einen Moment mit sich. Dann verneigte sich und ging, in gebührendem Abstand von dem Rotgewandeten, gehorsam hinaus aus der Halle.

Kaum war er fort, verschränkte der goala’ay abwartend die Arme. „Ihr habt gerufen. Ich bin hier.”

„Erstaunlich jugendlich seid Ihr geblieben. Ein Meister seid Ihr geworden. Und, wie ich sehe, einer, der sich eigenen Anliegen zugewandt hat. Als wir uns einst begegneten, wart Ihr selbst noch ein Schüler, etwa so alt wie der meine es heute ist. Einer, der sich seinen Meister damals besser hätte wählen sollen.”

„Heute bin ich ein ytra, der aus seinen Fehlern gelernt hat und weiß, was er fordern kann, Meister Askýn. Ich bin hier, um unser Eigentum wieder an mich zu nehmen.”

„Das weiß ich. Doch das war nicht der Grund, weshalb ich einen Lichtwächter hergebeten habe.”

„Warum dann?”

„Ich will eine Aussprache.”

Gor Lucegath lachte auf. „Worüber solltet Ihr mit meinesgleichen sprechen wollen? Wollt Ihr mich um Verzeihung bitten? Oder um Gnade?”

„Keines von beiden. Es gibt Wichtigeres, Älteres als Euch und mich.”

„Ich verstehe. Ihr lebt in den Erinnerungen an verstrichene Tage, weil Ihr keine Zukunft mehr habt. So sehr ich das, von Meister zu Meister, respektiere: Meine Zeit ist noch lange nicht herum. Also gebt mir das ay’cha’ree heraus.”

„Ihr wisst genau, was ich dem entgegenhalten werde, was seit jenem Tag jeder meinesgleichen Euch antworten wird. Ich habe Euch nicht hierher kommen lassen, damit Ihr das Artefakt raubt, sondern um mit Euch zu reden.”

Der Rotgewandete seufzte überdrüssig. „Wie lange will euersgleichen denn noch reden und davon ablenken, dass Ihr meinesgleichen bestohlen habt? Ihr wisst, dass Ihr mir nicht lange etwas entgegensetzen könnt. Ihr seid hochbetagt und erschöpft, Meister Askýn, und da ich vor Euch stehe, spüre ich das, was Euch von innen heraus verdirbt und offensichtlich Eure Urteilskraft in Mitleidenschaft genommen hat.”

Askýn Lagoscyre faltete beherrscht die Hände vor seinem Mund. „Das wisst Ihr also.”

„Natürlich. Wie sollte gerade mir etwas so Offensichtliches entgehen?”

„Und nun? Wollt Ihr es ausnutzen?”

„Warum nicht? Aber ich bin nicht grausam. Nicht immer. Wenn Ihr mir das Artefakt überlasst, verschone ich Euch und Euren Schüler. Vorerst. Anderenfalls werde ich euch, und damit meine ich alle camat’ay, die sich hier im Boscargén verkrochen haben, den Weg auf die andere Seite der Träume weisen und es mir einfach nehmen.”

„Seid Ihr ein ehrenhafter Meister oder ein Straßenräuber?”

„Ihr könnt mich nicht provozieren. Das Artefakt gehört euersgleichen nicht, egal wie sehr ihr es dreht und rechtfertigt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Euersgleichen hat das Heiligste, Einzige aus unseren Händen geraubt. Mir persönlich ist egal, warum ihr es getan habt. Ich will es nur zurück.”

„Indem wir es hüten, versehen wir den besseren Dienst daran als jene, die es schufen.”

„Ändert das den Umstand, dass es Diebesgut ist, das euersgleichen in dieser Weihestätte verbirgt, Meister Askýn? Ich bin nicht hier, um etwas zu tadeln, was selbst Ihr aus alter Tradition fortführt. Doch wenn Ihr mir das ay’cha’ree nicht im Guten überlasst, werde ich es finden. Und es ist mir völlig gleichgültig, wie viel schwarzgewandetes Diebsgesindel ich dabei aus dem Weg schaffen muss. Euer völlig unvorbereiteter Schüler, dem Ihr das Artefakt gerade vor meinen Ohren anvertraut habt, ist kein Gegner für mich.”

„Ich habe keine Angst vor Euch, Gor Lucegath. Ich bin immer noch stärker, als Ihr es Euch ausmalen mögt. Mit meiner maghiscal ist noch alles in Ordnung. Yalomiro wird das Artefakt mit seinem Leben verteidigen.” Er nahm auf dem Thronsessel Haltung an. „Ihr seid meinem Ruf gefolgt. Ich habe Euch den Weg hierher geöffnet, um mit euersgleichen zu reden, um eine Lösung für das zu finden, was in diesen Tagen, im Wandel der Zeit Linderung für unser beider Wunden bringen kann. Ein weiser Mann würde sich drauf einlassen!”

„Ich bin nicht weise”, konterte der goala’ay gelassen. „Ich will lediglich das ay’cha’ree zurückerobern. Und ich will Genugtuung. Wenn Ihr denkt, es sei weise, unseresgleichen in Euren Bau einzuladen, sollte euch nicht wundern, dass der hungrigste Fuchs die Chance ergreift, sich zu bedienen. Wer von uns ist der größere Narr? In welchem schwachen Moment hat die Verwirrung Euch den Geist vernebelt?”

Der alte Schattensänger sank in sich zusammen, zwar nur um eine Winzigkeit, aber dem goala’ay entging das nicht. Er musterte den alten Mann mitleidig.

„Meister Askýn – wie konntet Ihr nur solch eine Torheit begehen? Habt Ihr nicht selbst gesehen, was aus meinesgleichen geworden ist?”

„Wenn ich geahnt hätte, dass ausgerechnet Ihr noch am Leben seid”, antwortete der Alte mit belegter Stimme, „ich hätte es vielleicht gelassen. Ich hatte gehofft, ein Jüngerer würde mich hören. Einer, der ebenso müde ist wie wir. Einer, der es beenden will.”

„Ich werde es beenden”, sagte der Rotgewandete milde. „Aber ich bin hellwach dabei. Kein anderer hätte Euren Ruf gehört. Aber euersgleichen – wie viele sind mir entgangen in all den Wintern? Zehn? Zwanzig? Wie viele seid ihr noch, hier in Eurem Heiligtum?”

Was nützte es, etwas vorspiegeln? „Mein Schüler ist hier, und noch ein gutes Dutzend weiterer Schattensänger”, gestand der Alte. „Und wenn Ihr mir etwas antut, werdet Ihr den Boscargén nicht lebend verlassen. Ihr könnt nicht gegen alle zugleich bestehen.”

Der Rotgewandete nickte nachsichtig. „Diese Herausforderung nehme ich an.”

„Und wie viele”, wisperte der alte Schattensänger, „sind es noch von euersgleichen, draußen im Weltenspiel?”

„Ich wüsste von keinem außer von mir selbst.”

„Seid Ihr ganz sicher?”

„Wisst Ihr vielleicht mehr als ich?”

Meister Askýn zögerte. „Nun gut”, sagte er dann. „Somit wird Euer Kreis heute und hier verlöschen!”

„Wir werden sehen. Und wir werden auch sehen, ob Euer Zögling die Hoffnungen erfüllt, die Ihr in ihn setzen mögt. Einen sah ich, dessen Bestimmung ebenso in seine maghiscal geschrieben schien, und ich sah auch, was er aus diesem Geschenk machte, welchen Weg er einschlug.”

„Ihr wagt es, meinen Schüler mit dem Namenlosen im selben Gedanken zu haben?”

„Euer hochbegabter Schüler wird geradeso von seiner Macht korrumpiert werden wie einst der Schwarze Meister, der Namenlose, wie ihr ihn nennt. Die Dinge wiederholen sich, sobald euersgleichen einen eigenen Weg zu gehen versucht.” Er zögerte und horchte für einen Moment geistesabwesend in sich hinein, wie jemand, dem ein verlockender Gedanke gekommen ist. Dann kam er näher.

„Lasst es uns nun nicht länger herauszögern. Ich sehe, Ihr seid so gebrechlich, dass es mir unfair vorkäme, Euch zu einem Zweikampf herauszufordern. Ich käme mir erbärmlich vor. Seid Ihr bereit, es in Würde zu beenden? Es wäre mir eine Ehre.”

Meister Askýn blickte zu Boden. Als er wieder aufschaute, gleißte sein Blick vor Silber. „Ich bin bereit.”