
Der Rotgewandete hatte lange auf die Gelegenheit warten müssen. Nach all den Sommern und Wintern voller Anstrengung, Mühsal und Demütigung war sein Ziel plötzlich zum Greifen nahe. Eine einzige Tat trennte ihn von der Genugtuung, die er seit so langer Zeit erstrebte. Von der Gerechtigkeit. Und von der Vergeltung.
Der alte Mann hatte ihn eingelassen. Und er war gekommen, um ihn zu bestehlen.
Nein, nicht zu bestehlen. Nicht wirklich. Das, was er sich nehmen würde, wenn man es ihm nicht aus freien Stücken aushändigte, gehörte nicht hierher. Ihm aber, ihm stand es zu. Er würde es zurückholen von dem Diebsgesindel. Ein Raub, der den Diebstahl ungeschehen machte.
Allerdings – die Umstände, die ihm ermöglichten, was unvorstellbar erschien, waren … nun, sie waren ungewöhnlich.
Sein Gegner hatte ihn in seine Domäne gerufen, aus heiterem Himmel, wohl wissend, dass er damit nicht nur sich selbst in Gefahr brachte. Möglicherweise war es das, was ihn mehr irritierte, als er zugeben wollte. Er traute der Sache nicht recht. Andererseits war es nicht die Art der Schwarzgewandeten, Fallen zu stellen. Es musste etwas hinter dem Sinneswandel stecken.
Ihre letzte Begegnung lag weit zurück. Die Zeit war über das Weltenspiel hinweg gestrichen, hatte die Figuren, auch ihn selbst und den anderen, hierhin und dorthin verschoben, die Patina des Alterns auf sie gelegt.
Möglicherweise spürte der Greis, dass sein Ende nicht mehr sonderlich lange dahin war. Ob der alte Mann daran war, unter der Last seiner Jahre den Verstand zu verlieren?
Die teiranda [~ Herrscherin] ritt mit etwas Abstand hinter ihm und sah geistesabwesend um sich.
Er bedachte sein Geschöpf mit einem gedankenversunkenen Blick. Hoheitlich und aufrecht saß sie auf ihrem Grauschimmel, wie es einer Dame ihres Standes gebührte. Ihre Gestalt erstrahlte in makelloser Schönheit, ihre Miene hingegen wie weltvergessen, leer und erstarrt. Ihre kostbaren Gewänder waren ebenso grau wie ihr Pferd. Der Schmuck, den sie am Körper trug, glitzerte im flirrenden Silberlicht. Das aufwendig geflochtene Haar unter ihrem Kopfputz war weißblond.
Er wandte sich zufrieden wieder nach vorn. Sie war ihm gut gelungen. Er hatte es damals andererseits nicht allzu schwer gehabt mit dem armen jungen Ding. Sie war ein Geschenk gewesen, auf das er während seiner Reisen unversehens gestoßen und das ihm für einen winzigen Preis so nützlich geworden war. Sie hatte sich ihm anvertraut, weil sie sich etwas davon erhofft hatte, das er nicht einmal im Scherz versprochen hätte. Er scherzte selten, aber wenn er es tat, dann auf eine Weise, die ihn amüsierte, ohne dass andere es bemerkten. Sowohl mit dem Argwohn als auch dem Humor der teiranda war es nicht weit her. Längst war sie in ihre eigene Welt versunken. Schon lange, bevor er ihr begegnet war, hatte sie nicht mehr gelacht.
Ab und zu erfüllte er ihr kleine Gefälligkeiten. Solange er das tat, hielt es sie aus seinen Angelegenheiten heraus, wenn er es nicht brauchen konnte. Darüber hinaus würde ihre Anwesenheit ihm weder nützen noch schaden, vielleicht aber das Interesse seines Gastgebers wecken.
Er brachte sein Pferd zum stehen und hob die Hand. Das Reittier der jungen Frau hielt an, ohne dass sie selbst die Zügel hatte berühren müssen.
„Was ist?”, fragte sie, kaum vernehmbar.
Er horchte an den Vögeln und dem Blätterwispern vorbei in die Tiefe des Waldes. Doch das, was an sein Ohr gedrungen war, war verklungen. Gut. Man hatte ihn also bemerkt.
„Mir war so, als hätte ich etwas gehört, das hier nicht sein sollte. Kommt weiter.”
Er trieb sein Pferd wieder an und wandte seinen Blick dem schmalen Pfad zu, der sich vor ihnen erstreckte. Er wand sich durch eine Gegend von friedlicher Schönheit, schlängelte sich durch einen Olivenhain. In westlicher Richtung lag ein See mit dunklem Wasser, von dem es hieß, dass er bodenlos sei. Die uralten Ölbäume ringsum ragten abnorm hoch empor. Ihre Wipfel schlossen sich zu einem silbrigen, luftigen Dach zusammen. Sobald die Blätter sich im Wind bewegten, schimmerte das Licht zwischen den knorrigen Stämmen.
Hier und da hatten vom Wetter oder Alter gefällte Bäume Lichtungen in den Wald gebrochen. An diesen sonnenbeschienenen Stellen wuchsen üppige Blumenteppiche und Kräuter, deren Aromen zu einem schweren, würzigen Parfüm zusammenflossen. Endlos lang konnte man dieses geheimnisumwobene Idyll durchqueren, sich dabei gänzlich in seinem Frieden verlieren.
Natürlich scheuten sich die Unkundigen, auch nur einen Fuß zwischen die Bäume zu setzen. Es war kein Geheimnis, dass das Pack sich hier im Schatten versteckte.
Die teiranda kam langsam zu Bewusstsein. „Was ist das für ein Ort?”
„Sie nennen es Boscargén, den silbernen Wald.”
Sie schloss an seine Seite auf. „Es macht mich schwindelig.” Die Zunge schien ihr schwer in ihrem Mund zu liegen.
„Sobald ich meine Angelegenheiten beendet habe, kehren wir zurück nach Wijdlant. Dies hier muss Euch nicht beunruhigen. Ich bin bei Euch.”
„Wir hätten Grootplen mitnehmen sollen”, murmelte sie.
„Wozu der Aufwand, Herrin?”
Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht hätte es ihm gefallen, aus der Burg herauszukommen und das hier zu sehen. Er erzählt manchmal von seinen Reisen und Abenteuern.”
„Tatsächlich? Das ist … interessant zu erfahren.”
„Ja”, stimmte sie arglos zu. „Von all meinen yarlay [adlige Krieger] hat er die meisten Aventüren erlebt.”.
„Ich denke, ich sollte mich ebenfalls mit dem edlen yarl über das unterhalten, was er Euch zu erzählen hat. Doch für diesmal, lasst es gut sein. Wir sind bald wieder daheim. Eure Ritter müssen nicht von jedem Schritt wissen, den Ihr tut.”
Sie nickte sittsam. Der Rotgewandete lächelte.
Dann nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Etwas raschelte im blühenden Gesträuch gleich neben dem Weg und huschte davon.
„Haltet Euch bereit, Herrin”, sagte er. „Bald wird es interessant.”
Sie ritten nun Seite an Seite ein Stück weiter. Es dauerte nicht lange, bis er die Tiere bemerkte.
Auf einem umgestürzten Baumstamm abseits vom Wegesrand hockten zwei Katzen. Die kleinere war dreifarbig, überwiegend schwarz gescheckt und hatte jadegrüne Augen. Die andere war deutlich größer, ein pechschwarzer Kater mit merkwürdig dunklen Augen. So, wie sie Seite an Seite saßen und starrten, passten sie nicht in diese Umgebung, in diesen lieblichen sonnigen Wald.
„Was für nette Kätzchen!” Die teiranda war entzückt. „Aber was machen sie mitten im Wald?”
„Das werden wir gleich erfahren.”
Der Rotgewandte ließ mit seiner rechten Hand die Zügel los. Seine Finger führten eine sachte Bewegung aus, als zerknülle er ein Stück Papier.
Die kleinere Katze fauchte, sprang auf, und verschwand mit gesträubtem Fell zwischen den blattreichen Stauden und hetzte in langen Sätzen davon.
Er lächelte. Dann schleuderte er sein substanzloses Wurfgeschoss nach dem schwarzen Kater. Es prallte neben dem Tier auf dem Baumstamm auf, mit einer Wucht, die die trockene Rinde sprengte und sie in alle Richtungen wegspritzen ließ.
Das Pferd der teiranda scheute und tänzelte. Die junge Frau zuckte zusammen und klammerte sich am Sattel fest. Für einen winzigen Moment erschien sie hellwach. Er griff hinüber in die Zügel ihres Rosses, ließ das Tier erstarren.
Der Schwanz des Katers peitschte und die dunklen Augen hatten ihre Farbe verändert, ein eigentümlicher, silbriger Glanz schimmerte jetzt darin. Aber er hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Angst schien er nicht zu haben.
„Ich suche Askýn Lagoscyre”, sagte der Rotgewandete. „Wirst du mich zu ihm führen?”
Das Tier erhob und streckte sich. Dann hörte er eine Stimme in seinen Gedanken.
Ist Euch nicht bekannt, dass ein Gast empfangen wird, so wie er die Tiere des Hauses begrüßt? Was wünscht Ihr für ein Willkommen?
Nun, das war nicht nur mutig, sondern gleich noch unverschämt. Genau so hatte er es erwartet. „Ist es denn gebührlich, einen Gast in einer Maskerade zu begrüßen? Oder schämst du dich deiner wahren Gestalt? Offenbare dich!”
Der Kater verwandelte sich.
Der Rotgewandete musste zugeben, dass er selten einen camat’ay [Schattensänger] mit einer solchen Lässigkeit seine Erscheinung hatte changieren sehen. Sein Gegenüber war binnen eines Atemzugs zu einem schlanken, schwarzhaarigen Mann geworden. Er trug das schlichte Alltagsgewand eines Schattensängers, von dem er mit beiläufiger Wachsamkeit ein paar Rindenstückchen herunter pflückte, während er den Reiter mit silbergesprenkelten, tiefdunklen Augen musterte.
„Ich bin Yalomiro Lagoscyre, der Schüler von Großmeister Askýn Lagoscyre”, stellte er sich vor. „Habt Ihr ebenfalls einen Namen?”
„Ich bin ytra [hochrangiger Magier, Meister] Gor Lucegath.”
„Ihr seid offenkundig ein goala’ay, ein Lichtwächter“, entgegnete der Schwarzgekleidete argwöhnisch. „Wie konntet Ihr diesen Ort betreten?”
„Dein Meister erwartet mich. Er hat mich eingelassen. Mehr hat einen Schüler nicht zu interessieren.”
Diese Zurechtweisung schien den Schattensänger nicht im Geringsten zu beeindrucken. „Kommt Ihr in friedlicher Absicht?”, erkundigte er sich skeptisch.
Gor Lucegath war belustigt. „Nun ja”, sagte er, „wenn ich – für den Moment – keine friedlichen Absichten hegen würde, hättest du es wohl bemerkt.”
Die teiranda regte sich. Er schaute hinüber und sah in ihren Gesichtszügen etwas aufflackern, das ihn beunruhigte. Er bedeutete ihr, zurückzubleiben. „Und wo sind deine Manieren? Es ist eine Frau zugegen!”
Der Schattensänger wandte sich der teiranda zu, zuckte zusammen, als ob ihm etwas Wichtiges in den Sinn kam. Er senkte den Blick und schaute beiseite. „Vergebt mir, edle Dame. Ich wollte Euch nicht in Bedrängnis bringen.”
„Es ist in Ordnung”, sagte sie freundlich. Der Rotgewandete nahm das Wort rasch wieder an sich.
„Bemühe dich nicht. Sie ist unempfänglich gegen euren Fluch. Diese Dame ist meine Herrin, die teiranda Kíaná von Wijdlant. Und ich habe es sehr eilig. Also? Worauf wartest du?”
Der Schattensänger gab sich keine Mühe, sein Missbehagen zu verbergen. „Eine teiranda, die einen goala’ay in ihrem Gefolge hat?”
„Und wenn?”
„Vergebt mir. Es erstaunt mich, einen goala’ay zu sehen, der Unkundigen seine Kunst andient. Ich dachte, diese Zeiten seien längst vorbei.”
„Das ist meine Sache und keine Schande”, gab Gor Lucegath mit wachsender Ungeduld zurück. „Hat ein Schüler das Handeln eines Meisters zu hinterfragen?”
Endlich schien dem Schattensänger bewusst zu werden, dass er es zu weit trieb. Aber er war immer noch nicht zufrieden mit dem, was er wusste.
„Dann gestattet mir wenigstens eine letzte Frage.”
„Nun?”
„Warum tragt Ihr eine Maske? Was verbergt Ihr vor meinen Augen?”
Nun lächelte der goala’ay, alles andere als belustigt.
„Das, Yalomiro Lagoscyre, wirst du früh genug erfahren. Willst du mich nun zu deinem Meister führen? Er wäre sicherlich nicht erfreut, zu erfahren, dass du mich aufgehalten hast.”
Das ließ den jüngeren Mann einen halben Schritt zurückweichen. Er verneigte sich und bückte sich dabei nach etwas. Es war eine Geige aus schwarzem Holz, die am Boden zwischen den Pflanzen gelegen hatte. Also hatten seine Sinne den Rotgewandeten zuvor doch nicht getrogen. Seine Ankunft hatte den Schattensänger beim Spiel überrascht.
„Solange Ihr auf dem Weg bleibt”, sagte Yalomiro Lagoscyre und deutete mit dem Bogen den Pfad entlang, „reitet Ihr direkt auf den Etaímalon zu. Lasst mir einen kleinen Vorsprung. Ich will Euch ankündigen.”
„Ich bitte darum.”
Der Schattensänger verneigte sich, wandte sich um und entfernte sich, ohne Eile auf dem Sandpfand, ohne sich noch einmal umzuwenden oder etwas zu sagen.
Die teiranda wollte ihr Pferd antreiben, um ihm zu folgen. Doch ihr Begleiter hielt sie zurück.
„Lassen wir ihn vorangehen. Es wäre doch recht unhöflich, einem Großmeister mit der Tür ins Haus zu fallen.”
Das schien sie nicht zu interessieren. „Was soll das für ein Fluch sein, vor dem Ihr mich beschützt?”
„Ihr, Herrin, dürftet eine der wenigen Frauen sein, die den verhängnisvollen Blick eines Schattensängers nicht fürchten muss. Nicht, solange ich bei Euch bin.”
Sie schaute verwirrt in die Richtung, in der der jüngere Magier fortging. Hinter ihrem Rücken vollführte Gor Lucegath dezent eine sparsame Geste. Erneut legte sich die Müdigkeit auf ihr Gesicht wie ein Schleier.
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